| # taz.de -- Zeitungssterben in den USA: Enthüllen ist zu teuer | |
| > Politische Organisationen in den USA fangen an, Aufgaben des | |
| > Lokaljournalismus zu übernehmen. Sie haben dafür teils mehr Zeit und | |
| > Geld. | |
| Bild: Sauberes Wasser schleppen für die Schule. Lehrerin in Flint im September | |
| Curt Guyette ist das, was man im Englischen einen „Muckraker“ nennt. Er | |
| wühlt im Dreck oder besser: in Akten und Dokumenten. „Muckraking“ (dt. | |
| „Wühlen im Dreck“) nennt man im Englischen den Investigativjournalismus. | |
| Guyette hat einen der größten US-Skandale der letzten Jahre mit aufgedeckt: | |
| die „Flint Water Crisis“. Aber er ist kein journalistischer Reporter. | |
| Zumindest arbeitet er nicht bei einer Redaktion, sondern ist bei der | |
| American Civil Liberties Union (ACLU), eine der größten liberalen NGOs des | |
| Landes, angestellt. | |
| Muckraking gibt es zwar nach wie vor – man denke an die Recherche zu Donald | |
| Trumps Steuerbetrug oder #MeToo. Aber besonders im Lokalen ist das | |
| Investigative in einer Krise, weil die Verlage in der Krise sind. [1][Sie | |
| verdienen kaum noch Geld, verkaufen kaum noch Ausgaben, in den vergangenen | |
| Jahren haben viele Zeitungen ihren Betrieb eingestellt.] | |
| Wer überleben will, muss sparen. Im ländlichen Raum und in den Kleinstädten | |
| verzichten die Verlage zuerst auf die Reporter*innen, die die meiste | |
| Erfahrung haben oder die wenigsten Texte schreiben. Und wer investigativ | |
| arbeitet, also lange wühlt und recherchiert, der schreibt in der Regel | |
| wenig Texte. Inzwischen entscheiden sich deshalb immer häufiger politische | |
| Organisationen dafür, „Muckrakers“ zu beschäftigen. | |
| ## Die Wasserkrise von Flint | |
| Das Büro von Guyette liegt in Downtown Detroit. Hier war früher die | |
| Industrie, heute sind hier die Schulden. Wenn Guyette über die wichtigste | |
| Enthüllung seines Reporterlebens spricht, dann klingt das ganz beiläufig, | |
| als erzähle er von einem wenig ereignisreichen Arbeitstag. Flint, die | |
| Stadt, in der Guyette die Wasserkrise aufdeckte, liegt eine Stunde | |
| nordwestlich von Detroit. Im Trinkwasser der Kleinstadt befindet sich seit | |
| vier Jahren zu viel Blei, Grund ist eine fatale Fehlentscheidung des | |
| Stadtmanagements. | |
| Guyette arbeitet als fest angestellter Investigativreporter für die ACLU | |
| Michigan, sein Gehalt finanziert die ACLU aus einer Spende der Ford | |
| Stiftung. Im Jahr 2012 hat die Organisation den Reporter von einer | |
| Lokalzeitung abgeworben. Damals hatte Michigan gerade das sogenannte | |
| Emergency Manager Law verabschiedet. Es erlaubt dem Bundesstaat, in | |
| verschuldeten Bezirken Konkursverwalter einzusetzen. Curt Guyette | |
| bezeichnet dieses Gesetz als „austeritätsgetriebene Autokratie“. | |
| „Die Emergency Manager verfügen praktisch über unbegrenzte Kompetenzen, die | |
| gewählten Vertreter*innen hingegen verlieren ihre Macht.“ Einer von diesen | |
| entscheidet 2014, dass die hoch verschuldete Stadt Flint aus Kostengründen | |
| ihre Wasserversorgung umstellen wird. Bis dahin hing Flint am | |
| Versorgungssystem der Stadt Detroit. Die aber war nicht bereit gewesen, | |
| günstigere Tarife auszuhandeln. | |
| Der Rest der Geschichte ist [2][gut dokumentiert]: Das Wasser aus dem Flint | |
| River, das die Stadt von da an bezog, war säurehaltiger als das Wasser, von | |
| dem Detroit lebt. Das neue Wasser griff die alten Bleileitungen an. | |
| Einwohner*innen von Flint bekamen von dem bleihaltigen Leitungswasser | |
| Ausschlag und Haarausfall. Jahrelang musste der Staat Michigan die Stadt | |
| mit Trinkwasserrationen beliefern. Die Flint Water Crisis ist inzwischen | |
| Symbol für die katastrophalen Folgen von zu kurz gedachter | |
| Sanierungspolitik. | |
| Das Emergency Management wollte den Skandal vertuschen. Es ist Curt | |
| Guyette, der schließlich in einer Großaktion das Wasser testen lässt. In | |
| Zusammenarbeit mit der Universität Virginia Tech und den Bürger*innen von | |
| Flint entnimmt er Anfang 2015 selbst Proben und weist nach, dass das Wasser | |
| schädlich ist. Als Stadtverwaltung und Stadtmanager versuchen, die Schuld | |
| auf andere zu schieben, weist Guyette ihnen nach, dass ihr eigenes | |
| Missmanagement zu der Katastrophe geführt hat. | |
| Das alles hätte er nie tun können, wäre er bei einer der Zeitungen in der | |
| Gegend beschäftigt gewesen, sagt Guyette. „Der Investigativjournalismus | |
| hat unter den Kürzungen bei den traditionellen Zeitungen sehr gelitten“, | |
| sagt er. „Dass die ACLU jemanden einstellt, ist eine Möglichkeit dem | |
| entgegenzuwirken.“ In seiner Position habe er alle Freiheiten sowie Zeit | |
| und Mittel gehabt, um eine Recherche wie die in Flint überhaupt angehen zu | |
| können. | |
| Zwar berichten auch lokale Medien über Probleme mit dem Wasser. Das Flint | |
| Journal bringt schon früh einen Artikel über eine örtliche Motorenfabrik, | |
| die darüber klagt, dass das neue Wasser ihre Maschinenteile angreift. Aber | |
| für eine intensive Recherche fehlen sowohl dort als auch bei den Zeitungen | |
| im nahen Detroit die Ressourcen. Erst als sich im Laufe des Jahres 2015 | |
| herausstellt, dass Kinder von der Bleivergiftung betroffen sind, wird die | |
| Geschichte so skandalträchtig, dass auch lokale Fernsehsender berichten. | |
| Die überregionalen Nachrichten greifen die Wasserkrise erst Anfang 2016 | |
| auf. Da ist Curt Guyette schon wieder aus dem Thema ausgestiegen. „Meine | |
| Arbeit dort war getan“, sagt er. | |
| Wenn lokale Redaktionen vor derartigen Recherchen zurückschrecken, dann | |
| geht es nicht nur um die Zeit, die es kostet, an Haustüren zu klopfen, | |
| Testsätze zu verteilen und Interviews zu führen. Es geht auch um die zum | |
| Teil absurden Gebühren, die für Auskünfte im Rahmen des Freedom of | |
| Information Act (FOIA) verlangt werden – dem US-amerikanischen | |
| Informationsfreiheitsgesetz. | |
| Obwohl FOIA unter Obama reformiert wurde, bleiben einige Probleme bestehen. | |
| Behörden verschleppen nicht nur häufig die Bearbeitung oder behaupten, die | |
| Dokumente seien nicht auffindbar – sie verlangen auch hohe Gebühren, um | |
| Anfrager*innen abzuschrecken. Besonders in Michigan kommt das häufiger vor. | |
| 2017 fragte Vice beim Detroit Police Department Akten über | |
| Polizeischießereien seit 2010 an. Im Zusammenhang mit #BlackLivesMatter | |
| gaben andere Polizeibeizirke im Land diese Informationen gratis heraus. | |
| Detroit verlangte 77.000 Dollar für die Information. | |
| Auch Guyette erinnert sich an einen solchen Fall. Als in Flint bereits klar | |
| war, dass der Bleianteil im Trinkwasser die gesetzlichen Grenzwerte um ein | |
| Vielfaches übersteigt, wies das Stadtmanagement weiter alle Verantwortung | |
| von sich. Man sei von Detroit zum Wechsel der Wasserversorgung gezwungen | |
| worden, hieß es. Um das zu überprüfen forderte Guyette den E-Mail-Verkehr | |
| zwischen dem Stadtmanager und der Stadt Detroit an. Die Behörde verlangte | |
| 200.000 Dollar. Guyette schaffte es mit der ACLU, eine vernünftige Gebühr | |
| durchzusetzen, immerhin noch 2.000 Dollar. | |
| ## Das Problem mit NGOs | |
| Trotz seines Erfolgs findet Guyette, dass das „Muckraking“ von politischen | |
| Organisationen auf keinen Fall den redaktionellen Investigativjournalismus | |
| ersetzen sollte. „Ich habe hier alle Freiheiten die ich brauche“, sagt er. | |
| „Aber NGOs funktionieren nach einem anderen Prinzip als Redaktionen. Der | |
| Journalist geht ergebnisoffen an ein Thema ran. Eine NGO hat ein gewisses | |
| Kommunikationsziel. Das verträgt sich eigentlich nicht.“ | |
| Politische Organisationen in den USA fangen an, die traditionellen Aufgaben | |
| des Lokaljournalismus zu übernehmen. Der Anteil von Reporter*innen, die für | |
| progressive, liberale und konservative NGOs berichten, [3][wächst], wie das | |
| Forschungsinstitut PEW erhoben hat. Häufig werden erfahrene Reporter*innen | |
| von Zeitungen übernommen. So sorgen politisch motivierte Organisationen | |
| dafür, dass Muckraking auch im Lokalen weiterlebt. Ob das den klassischen | |
| Journalismus ersetzen kann, ist zweifelhaft. | |
| 3 Nov 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Zeitungssterben-in-den-USA/!5543395 | |
| [2] /Mit-Blei-verseuchtes-Wasser-in-den-USA/!5287850 | |
| [3] http://www.journalism.org/2014/07/10/americas-shifting-statehouse-press/ | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Weissenburger | |
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