# taz.de -- Landtagswahl in Hessen: Alles in grüner Soße? | |
> Am Sonntag könnten die Grünen in Hessen triumphieren. Auch dank ihres | |
> geschmeidigen Spitzenkandidaten Tarek Al-Wazir. | |
Bild: Unter ihrem Spitzenkandidaten Tarek Al-Wazir werden die Grünen wohl ein … | |
FRANKFURT/BERLIN taz | Die Hessen waren schon immer so etwas wie die | |
politische Avantgarde der Bundesrepublik. Im September 1970 besetzten | |
Studierende und ausländische Arbeiter ein leer stehendes Haus in Frankfurt | |
am Main, Eppsteiner Straße 47. Es war vermutlich die erste Hausbesetzung in | |
der Nachkriegszeit in Deutschland. | |
Am 12. Dezember 1985 hob ein junger Mann vor dem hessischen Landtag die | |
Hand zum Amtseid. Joschka Fischer, Wuschelkopf, Fischgrätensakko, weiße | |
Turnschuhe, war der erste Minister der Grünen überhaupt. | |
Im Herbst 2008 versuchte die SPD-Politikerin Andrea Ypsilanti, eine | |
rot-grüne Koalition mit Tolerierung durch die Linkspartei zu schmieden. Es | |
war der erste rot-rot-grüne Versuch in einem westdeutschen Flächenland und | |
endete bekanntlich im Chaos, weil vier SPD-Abgeordnete Ypsilanti ihre | |
Stimme verweigerten. | |
Wenn man so will, ist in dem Bundesland, das am Sonntag wählt, alles zu | |
Hause, was Politik spannend macht: Radikalität, Experimentierfreude, aber | |
auch Pragmatismus. Auch dieses Mal wird es spannend. Denn für die im Moment | |
regierende schwarz-grüne Koalition – übrigens auch die erste, die bis | |
zuletzt verlässlich funktionierte – wird es eng, ebenso für eine Große | |
Koalition, die weder CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier noch | |
[1][SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel] wollen. Stattdessen | |
könnten für die Mehrheitsbildung Dreierbündnisse nötig werden. | |
## Historisches Potenzial | |
Joschkas Erben, die hessischen Grünen, rutschen dann in eine | |
Schlüsselposition. Unter ihrem Spitzenkandidaten Tarek Al-Wazir werden sie | |
vermutlich ein Rekordergebnis einfahren. Regieren sie weiter mit Bouffiers | |
Konservativen, zur Not dann eben zusammen mit der FDP? Würden sie die FDP | |
von einer Ampel mit der SPD überzeugen können? Oder wagen sie ein | |
Linksbündnis, das es in Hessen noch nie gab? | |
Die beiden letzten Varianten haben historisches Potenzial: Manches Institut | |
sieht die Grünen sogar vor der SPD. Al-Wazir könnte also Ministerpräsident | |
werden, wenn er SPD und Linkspartei oder FDP für sich gewänne. Das hat | |
bisher nur Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg geschafft. Wo Fischer | |
einst in Turnschuhen als Minister vereidigt wurde, säße dann der zweite | |
grüne Ministerpräsident der Republik auf der Kabinettsbank. | |
Mittwochnachmittag, das Junge Museum in Frankfurt. Al-Wazir hat sich | |
zusammen mit dem aus Stuttgart angereisten Kretschmann eine Ausstellung | |
über Revolutionen und BürgerInnenproteste angeschaut, darunter die Demos | |
gegen die Startbahn West in den 80ern, bei denen die Grünen vorne mit dabei | |
waren. Kretschmann, 70 Jahre, ist seit sieben Jahren Ministerpräsident, der | |
47-jährige Al-Wazir bisher nur Vize und Wirtschaftsminister. | |
Trauen Sie Ihrem Parteifreund das Amt des Regierungschefs zu, Herr | |
Kretschmann? Seine Antwort kommt im Museumscafé schnell, sie wird begleitet | |
von einem kehligen Lachen: „Ja, hallo!“ Al-Wazir schaut, als sei ihm das | |
etwas unangenehm. „Gemach, Gemach“, sagt der Hesse stets im Duktus eines | |
Politikers im gesetzten Alter, wird er auf die Chance angesprochen, | |
Bouffier in Pension schicken zu können. „Wir Grüne wollen jedenfalls so | |
stark werden, dass bei der Regierungsbildung keiner an uns vorbeikommt.“ | |
Eine Floskel, aber sie könnte Realität werden. | |
## Ruhig und professionell | |
Al-Wazir weiß wie alle anderen wichtigen Grünen: Es wäre Harakiri, den Mund | |
kurz vor der Wahl zu voll zu nehmen. Ein Linksbündnis unter Führung der | |
Grünen, das ist für viele CDU-WählerInnen im strukturkonservativen reichen | |
Südhessen so etwas wie Ökokommunismus, aller schwarz-grünen Annäherung zum | |
Trotz. | |
Auch in der Bundespartei mag niemand über einen grünen Ministerpräsidenten | |
spekulieren. „Ich finde es bemerkenswert, dass wir aus dieser Koalition | |
gestärkt hervorgehen“, sagt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. Oft | |
werde der Juniorpartner in einem Bündnis ja eher geschwächt. „Und | |
schwarz-grüne Koalitionen sind für uns nicht einfach, die in Hamburg endete | |
bekanntlich im Chaos.“ | |
Wie ruhig und professionell Al-Wazir das schwierige Bündnis gemanagt hat, | |
ist in der Tat eine große Leistung. Schwarz-Grün in Hessen, gestartet vor | |
fünf Jahren, war im Grunde der erste ernstzunehmende erfolgreiche Testlauf | |
dieser Koalition. Und die bis zuletzt durchgehaltene Stabilität war anfangs | |
keineswegs ausgemachte Sache. Die CDU in Hessen verstand sich seit jeher | |
als konservativer Kampfverband. Alfred Dregger, Manfred Kanther oder Roland | |
Koch: Ihre Führungsfiguren trugen das Haar messerscharf gescheitelt und | |
vertraten einen schneidigen Konservatismus, der in der Merkel-CDU längst | |
ausgestorben ist. | |
[2][Doch mit Bouffier], dem brummig-freundlichen Merkel-Verteidiger, gelang | |
das Kunststück. Al-Wazir und er duzen und schätzen sich, sie waren die | |
Anker dieser schwierigen Koalition. Trotz großer Gegensätze in der | |
Flughafen- und Verkehrspolitik, in ökologischen oder flüchtlingspolitischen | |
Fragen regierten CDU und Grüne erstaunlich skandalfrei. | |
## Der hessische Pragmatismus | |
Das lag auch daran, dass der Pragmatismus der hessischen Grünen legendär | |
ist. Man könnte auch sagen: ihre Biegsamkeit. So enthielt sich ihre | |
Fraktion zum Beispiel, als der Landtag 2014 über einen | |
Untersuchungsausschuss zu den Morden der rechtsextremen Terrorgruppe NSU | |
abstimmte – um den langjährigen Innenminister Bouffier zu schützen. Linke | |
Grüne werden immer noch rot vor Wut, wenn sie sich daran erinnern. | |
Der Wunsch zu gestalten ist in der DNA der hessischen Grünen fest angelegt. | |
Die Bereitschaft, schmerzhafte Kompromisse zu machen, ebenso. Fischer, der | |
Übervater, drängte seine Partei zum Regieren und rang ihr als Außenminister | |
das Ja zum völkerrechtswidrigen Kosovokrieg ab. Seine Turnschuhe, die es | |
später ins Haus der deutschen Geschichte in Bonn schafften, legte der | |
einstige Straßenkämpfer schnell ab, um fortan mit Dreiteiler und Krawatte | |
den Staatsmann zu geben. | |
Vielleicht sind seine Nachfolger in Hessen auch deshalb so pragmatisch, | |
weil die Verhältnisse hier lange so ungrün wie nur was waren. Auch die | |
Sozialdemokratie, die das Land von 1946 bis weit in die 80er fest im Griff | |
hatte, züchtete hier knorrige Typen heran. Holger Börner, gelernter | |
Betonfacharbeiter und bis 1987 Ministerpräsident, drohte den | |
Startbahn-West-Demonstranten mit den legendären Sätzen: „Ich bedauere, dass | |
es mir mein hohes Staatsamt verbietet, den Kerlen selbst eins auf die | |
Fresse zu hauen.“ Früher auf dem Bau habe man „solche Dinge mit der | |
Dachlatte erledigt“. Der einstige Grünen-Fresser war es dann, der die mit | |
den Protesten eng verbandelte Ökopartei nicht verprügelte, sondern im | |
Oktober 1985 in die Regierung hievte. | |
Aber wie weit reicht die grüne Experimentierfreude? Warum sollte Al-Wazir | |
dem erprobten Modell mit der CDU für ein Linksbündnis den Rücken kehren? | |
## Die „Ausschließeritis“ | |
Da wäre zunächst die FDP, die wohl mit ins Boot müsste und den Grünen in | |
herzlicher Abneigung verbunden ist. Die Liberalen haben bereits öffentlich | |
das Amt des Wirtschaftsministers für sich beansprucht, das Al-Wazir nicht | |
kampflos räumen wird. Auch der Grünen-interne Druck wäre nicht zu | |
unterschätzen. Die Grünen sind sehr erfolgreich damit, sozialpolitische | |
Themen nach vorne zu schieben – und sich als gemäßigt radikal zu | |
positionieren. Ließen sie in einem wichtigen Bundesland ein Linksbündnis | |
liegen, wäre das ein Widerspruch: In Bayern hätten sie liebend gerne mit | |
Seehofers CSU koaliert, aber das inhaltlich schlüssigere Rot-Rot-Grün soll | |
nicht gehen? Das wäre zumindest schwer vermittelbar. | |
Al-Wazir ist der Erfinder eines Gedankens, mit dem die Grünen lange | |
fremdelten, der sich aber in den vergangenen Jahren durchgesetzt hat. Er | |
verwendete schon 2008 den wunderbaren Begriff „Ausschließeritis“, um die | |
Neigung von Parteien zu geißeln, sich vor Wahlen auf Lieblingspartner | |
festzulegen. Hessens Grüne beharren seither auf ihrer Eigenständigkeit – | |
und halten sich alle Koalitionen offen. Linke Grüne verweisen auch darauf, | |
dass an dem erklärten Realo Al-Wazir Vorwürfe gegen allzu linkes Spinnertum | |
abperlen würden. Wenn einer Grün-Rot-Rot oder Rot-Rot-Grün glaubwürdig | |
machen könne, hoffen sie, dann der Oberpragmatiker Al-Wazir. | |
Auf dem Rundgang durch das Junge Museum in Frankfurt erläutert die | |
Museumspädagogin anhand einer Schautafel, wie Kinder hier durchspielen | |
können, wie man eine Demonstration organisiert. „Da lernen sie, dass | |
Basisdemokratie schwierig und anstrengend ist“, sagt sie. Al-Wazir beugt | |
sich zu Kretschmann hinüber und raunt ihm zu: Bei den hessischen Grünen | |
würden wichtige Fragen auf Landesversammlungen entschieden, bei denen jedes | |
Mitglied abstimmen könne. | |
Auch das könnte für das Neue sprechen: Sollte im nächsten Landtag | |
rechnerisch ein Linksbündnis oder eine Ampel unter grüner oder | |
sozialdemokratischer Führung möglich sein, könnte die Basis verlangen, der | |
CDU den Laufpass zu geben. Dass eine Landesversammlung ein Jamaika-Bündnis | |
durchwinkt, mit großen Zugeständnissen an die FDP, obwohl es dazu | |
Alternativen gibt, ist schwer vorstellbar. | |
Aber auch wenn Al-Wazir sich für die konservative Jamaika-Variante | |
entschiede, wäre eines klar: [3][Diese Koalition ließe sich ebenfalls als | |
Avantgarde verkaufen]. | |
27 Oct 2018 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
Christoph Schmidt-Lunau | |
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