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# taz.de -- Hitlergrüße in Chemnitz: Nazi aus Versehen?
> Das Chemnitzer Amtsgericht urteilt im Schnellverfahren Rechte ab. Etliche
> sind stramme Nazis, andere behaupten, sie haben sich mitreißen lassen.
Bild: Antifaschisten beobachten „besorgte BürgerInnen“ in Chemnitz
Chemnitz taz | 15 Minuten, so schnell kann es gehen. Florian K., 24 Jahre,
kurze braune Haare, blickt von der Anklagebank ins Leere, als der Richter
das Urteil verkündet: 120 Tagessätze à 35 Euro, Verstoß gegen Paragraf 86a
Strafgesetzbuch, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger
Organisationen.
Florian K. hat am 27. August vor der Karl-Marx-Statue in Chemnitz den
Hitlergruß gezeigt. Das geht aus Fotos hervor. Das hat Florian K. gerade
zugegeben – nachdem er zuvor behauptet hatte, nur jemanden gegrüßt zu
haben. Sturzbetrunken sei er gewesen – vor allem aber sei er kein Nazi.
„Ich habe mich einfach mitreißen lassen“, sagt er. Das Gericht glaubt
Florian K. „Sie sind wohl keiner derer, die vorneweg laufen“, sagt der
Richter in der Begründung. Pünktlich um 13 Uhr hat der Prozess begonnen. Um
13.15 Uhr ist der Saal schon wieder leer.
Florian K.s Prozess fand am 27. September statt, genau einen Monat nach
seiner Tat. Einen Monat, nachdem Tausende Rechte sich in Chemnitz über
mehrere Tage hinweg versammelten, offiziell um um einen getöteten
Chemnitzer zu trauern, die aber [1][vor allem Menschen anfeindeten und auch
angriffen.] Einen Monat, nachdem Vertreter*innen der AfD zum ersten Mal mit
Neonazis gemeinsam auf einer Demonstration liefen. Und einen Monat nachdem
sich alle Meinungen zu Sachsen mal wieder zu bestätigen schienen.
Seitdem bemüht sich die sächsische Landesregierung um Schadensbegrenzung.
Und die sächsische Justiz um eine schnelle rechtliche Aufarbeitung. Bereits
am 1. September kündigte der Generalstaatsanwalt an, vermehrt auf
sogenannte beschleunigte Verfahren zu setzen. Florian K.s Prozess ist das
vierte von insgesamt sechs „Schnellverfahren“, die seitdem durchgeführt
wurden.
## Rechtsprechung im „Schnellverfahren“
„Möglich ist das beschleunigte Verfahren grundsätzlich, wenn der Fall wenig
komplex ist“, sagt Birgit Feuring, Richterin am Amtsgericht Dresden. Die
Beweislage muss klar sein und die behandelten Straftaten dürfen höchstens
eine Freiheitsstrafe von einem Jahr nach sich ziehen. Dann verkürzen sich
Fristen und diverse bürokratische Zwischenschritte entfallen.
Das Ziel: Die Justiz soll schnell und effizient auf Straftaten reagieren.
In der Praxis spielen die Verfahren allerdings nur eine geringe Rolle. Etwa
38.000 Strafverfahren beschäftigen die sächsischen Amtsgerichte pro Jahr –
nur an Amtsgerichten können Staatsanwälte beschleunigte Verfahren
beantragen. Im Jahr 2017 wurden in ganz Sachsen gerade mal 13 Anträge auf
„Schnellverfahren“ gestellt.
In diesen Tagen sind es am Amtsgericht Chemnitz vor allem Fälle, die denen
von Florian K. ähneln. Oft geht es um den Hitlergruß, aber auch um Angriffe
auf Polizeibeamt*innen. Immer sind die Straftaten gut belegt, auf Fotos
oder Videos. Viele Angeklagte sind aus Medienberichten bekannt. Es sind
Hooligans und Rechtsradikale unter den Verurteilten. Aber auch Menschen wie
K., die keine einschlägigen Vorstrafen haben und die auch Beobachter*innen
in Chemnitz nicht kennen.
## Nicht häufig – dafür schnell
13. 9. 2018: Der 33-jährige Chemnitzer Daniel M. wird zu acht Monaten Haft
auf Bewährung [2][und einer Geldstrafe von 2.000 Euro verurteilt.] Er hatte
beim sogenannten Trauermarsch am 1. September den Hitlergruß gezeigt und
ging anschließend einen Polizisten an. M. ist bekannt in der
Hooligan-Szene. Er gilt als „Intensivtäter Sport“, ist mehrfach
vorbestraft, auch weil er schon mal den Hitlergruß gezeigt hat.
14. 9. 2018: Einen Tag später wird Marcel W., 34 Jahre, [3][zu fünf Monaten
Haft ohne Bewährung verurteilt.] Videos belegen, dass er am 27. August
mehrfach den Hitlergruß gezeigt hat. Auch W. soll zur rechten Szene in
Chemnitz gehören. Er muss aufgrund seiner 22 Vorstrafen nun ins Gefängnis –
darunter Diebstahl und Körperverletzung.
26. 9. 2018: Christopher S. wird zu einer Bewährungsstrafe von fünf Monaten
verurteilt, weil er zwei Bundespolizisten angegriffen hat. Auch er ist
mehrfach einschlägig vorbestraft. Sein Anwalt Martin Kohlmann, der als
Mitbegründer der rechten Bewegung „Pro Chemnitz“ und Organisator der
Chemnitzer Demonstrationen bekannt wurde, sorgt am Ende der Verhandlung für
einen Eklat. Durch lautes Stühlerücken stört er die Urteilsverkündung.
Außerdem wirft er dem Richter vor, gelogen zu haben.
27. 9. 2018: Die Verurteilung von Florian K.
2. 10. 2018: Wieder sitzt ein Mann auf der Anklagebank, an den sich viele
erinnern. André H. war in nationalen und internationalen Medien zu einer
Art Symbol für die Ausschreitungen geworden, weil er unverhohlen den
Hitlergruß in Kameras zeigte und menschenverachtende Parolen rief. Ein
Tattoo mit dem Schriftzug „R.A.F.“ auf H.s Hand löste eine Debatte darüber
aus, ob er ein eingeschleuster Provokateur sei. Vor Gericht stellt sich
heraus, dass H. der Polizei wegen Drogenproblemen seit Jahren bekannt ist.
Seit August steht er unter Betreuung. Das Verfahren endet ohne Urteil. Das
Gericht will zunächst prüfen, inwieweit H. überhaupt schuldfähig ist.
18. 10. 2018: Der 49-jährige Heinz-Günther S. ist angeklagt, weil er
während der Demonstrationen einen Hitlergruß gezeigt haben soll. Da die Tat
im Zusammenhang mit einem anderen Verfahren steht, wird der Prozess
ausgesetzt und die Verfahren werden zusammengezogen. Die Vorstrafenliste
von Heinz-Günther S. umfasst mehr als 20 Einträge – politisch einschlägig
ist davon keine.
Die wenigen Strafverfahren bei Hunderten potenziellen Straftaten, das
klingt nicht viel. Die eigens gebildete gemeinsame Ermittlungsgruppe der
Polizeidirektion Chemnitz und des Landeskriminalamts Sachsen führt laut
Stand vom 9. Oktober 2018 insgesamt 183 Ermittlungsverfahren im
Zusammenhang mit den Demonstrationen – unter anderem wegen
Landfriedensbruchs, Körperverletzung, Beleidigung und wegen des Verwendens
von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.
## Oppositionelle Anerkennung
In 74 dieser Fälle geht die Polizei von einer rechten Motivation aus, in 13
Fällen von einer linken. Viele Fälle konnten laut Aussage des LKA Sachsen
noch nicht zugeordnet werden. Kommt es zum Prozess, werden all diese
Verfahren auf gewöhnlichem Weg vor Gericht verhandelt werden.
Die sächsische Staatskanzlei will sich zu den beschleunigten Verfahren
nicht äußern, da sie nicht in die Unabhängigkeit der Gerichte eingreifen
will. Grundsätzlich scheint aber Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU)
die schnelle Strafverfolgung zu begrüßen. Er twitterte nach dem ersten
Strafverfahren Mitte September: „Der sächsischer Rechtsstaat urteilt und
bestraft – wie der aktuelle Fall zeigt – konsequent und zügig.“
Auch aus der Opposition kommt Anerkennung – trotz der niedrigen Zahl. „Der
Rechtsstaat hat seine Reaktionsfähigkeit gezeigt“, sagte Klaus Bartl,
rechtspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Sächsischen Landtag der
taz. Er kommt selbst aus Chemnitz, wo er auch als Anwalt arbeitet. „Bei den
Auswüchsen, die sich in Chemnitz gezeigt haben, muss der Rechtsstaat
schnell durchgreifen.“
18 Oct 2018
## LINKS
[1] /Diskussion-zur-Hetzjagd-in-Chemnitz/!5535603
[2] /Chemnitz-urteilt-im-Schnellverfahren/!5535579
[3] /Rechte-Demonstranten-in-Chemitz/!5535854
## AUTOREN
Jonas Seufert
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