# taz.de -- Migration nach Großbritannien: Transitland Belgien | |
> Immer mehr Flüchtlinge versuchen von der belgischen Küste aus nach | |
> Großbritannien zu gelangen. Zuletzt ging die Regierung hart gegen sie | |
> vor. | |
Bild: Fordern internationale Hilfe: eritreische Flüchtlinge bei einer Demonstr… | |
BRÜSSEL taz | Akribisch sucht der Polizist das Gebüsch ab. Er biegt die | |
Äste hinter dem Bretterzaun zur Seite, späht durch das Unterholz. Nach | |
einer Weile geht er weiter. Wenige Schritte nur, dann nimmt er sich den | |
nächsten Abschnitt vor. Ein paar Hundert Meter hat er sich nun von seinem | |
Streifenwagen mit dem Hund im Kofferraum entfernt, der einsam an der | |
Küstenstraße Richtung Blankenberge steht. Es ist ein zugiger Nachmittag | |
Ende August. Der Verkehr fließt spärlich, der Polizist wirkt sehr | |
beschäftigt. Was ist es, das er dort im Buschwerk sucht? Er habe im | |
Vorbeifahren etwas bemerkt, sagt er. „Das versuche ich jetzt zu | |
lokalisieren.“ | |
Ein Rätsel ist es wohl nicht, wem der Beamte dort in Fonteintjes, dem | |
Naturschutz- und Wandergebiet in den Dünen auf der Spur ist. Er sucht nach | |
Migranten, die von Belgien aus unerkannt nach Großbritannien gelangen | |
wollen. „Transmigranten“ werden sie hier genannt, weil sie nur auf | |
Durchreise sind und nicht in Belgien um Asyl fragen wollen. Transmigranten | |
sind schon seit Jahresbeginn ein heißes Eisen im politischen Diskurs des | |
Landes. Jetzt, im Frühherbst, überschlagen sich die Ereignisseund der | |
Badeort Zeebrugge mit dem Hafen und den charakteristischen hellblauen | |
Verladekränen steht im Zentrum des Geschehens. | |
Über der Sankt-Donatius-Kirche in Dorp, dem kleinen Zentrum von Zeebrugge, | |
beginnt es zu dämmern. Der neogotische Bau aus braunen Backsteinen dient | |
vielen Geflüchteten als Anlaufstelle. Eine Gruppe Freiwilliger teilt | |
täglich Essen und Kleidung aus, im Pfarrhaus gibt es eine medizinische | |
Sprechstunde, im Garten zwei Duschkabinen. Jetzt ist die Kirche verwaist, | |
bis auf zwei Nachbarinnen, die eine Runde mit dem Hund laufen. „Am Mittag | |
war viel Polizei hier. Wahrscheinlich haben sie sie alle verhaftet“, sagt | |
eine der beiden Frauen über die Geflüchteten. „Aber es wird bald von Neuem | |
beginnen.“ | |
Das Thema Transitmigration, in Belgien ist es dieser Tage allgegenwärtig, | |
doch die Debatte dreht sich im Kreis: Die öffentliche Meinung drängt auf | |
ein hartes Vorgehen gegen die Durchreisenden, die Mitte-rechts-Regierung in | |
Brüssel versucht, genau damit bei den Wählern zu punkten – so wie Theo | |
Francken, der Staatssekretär für Asyl und Migration. Andererseits kostet es | |
die Regierung Geld und Aufwand, ausreisewillige Migranten festzuhalten. Und | |
da die Haftkapazitäten begrenzt sind, ließ man bis zum Sommer jene, die | |
klandestin nach England wollen, nach einer Nacht in Gewahrsam oder nach | |
ihrer Identifikation meist wieder laufen. | |
## Die Aussicht auf Arbeit | |
Am nächsten Tag um die Mittagszeit kauern auf dem schmalen Pfad hinter der | |
Kirche zwei junge Männer. Einer kommt aus Algerien, der andere aus Libyen. | |
Seit etwa zwei Monaten sind sie in Zeebrugge, erzählen sie. Wie 30 oder 40 | |
andere Geflüchtete, aus dem Maghreb, aus Afghanistan und Ägypten, Indien | |
und Albanien, schlafen sie mal am Strand, mal im Wäldchen an der | |
Küstenstraße oder hier an der Kirche. Es ist eine kleine Gruppe, verglichen | |
mit den Verhältnissen an den französischen Kanal-Häfen, wo Menschen | |
monatelang unter erbärmlichen Umständen ausharren. Und genau darin liegt | |
der Unterschied: Es gibt in Belgien kein Calais oder Dunkerque, wo bis zu | |
Tausende auf die Weiterreise nach England hoffen. Vielmehr spielen sich die | |
Dramen an verschiedenen Plätzen im ganzen Land ab. | |
„Man kann in Brüssel einen Schleuser engagieren, sagt der Libyer, „ein | |
einzelner Versuch, an einer Raststätte in einen Lkw zu kommen, kostet 500 | |
Euro.“ Er ist – so erzählt er – erst 15 Jahre alt, brach mit 11 Jahren n… | |
dem Tod seines Vaters nach Europa auf. Eine Tante in England ist seine | |
Hoffnung. | |
Der Algerier ist 24 Jahre alt. Ihn lockt die Aussicht auf Arbeit nach | |
England. Beide haben keine 500 Euro für Mittelsmänner, weswegen sie ihr | |
Glück nun hier in Zeebrugge versuchen. Nachts klettern sie vom Strand aus | |
über eine Mauer, dann über einen Zaun ins Hafengelände, wo die Suche nach | |
einem Versteck in einem Lkw beginnt, der auf die Fähre nach Großbritannien | |
fahren wird. | |
Später, als im Vorraum der Kirche das Abendessen bereitsteht, fehlt von den | |
beiden Männern jede Spur. Auch sonst ist niemand gekommen. Fernand | |
Maréchal, der Pfarrer, und zwei seiner Freiwilligen warten umsonst an | |
diesem Abend. Der Grund? Angst, glaubt Maréchal. Zuletzt, so erzählt er, | |
sei die Polizei immer wieder zur Essenszeit aufgetaucht, um die Anwesenden | |
festzunehmen. „Im Oktober sind Kommunalwahlen, da will die Politik sich | |
profilieren.“ | |
Der Pfarrer, er trägt ein blaues Polohemd, Jeans, Sandalen, wirkt ruhig | |
heute. So entspannt war er einige Tage zuvor am Telefon nicht. Im Gespräch | |
zur Lage vor Ort wollte er sich nicht äußern, gab sich zurückhaltend. | |
Offenbar mit gutem Grund, im Sommer hatte Pfarrer Maréchal mehrfach | |
Morddrohungen erhalten. | |
## Das Städtchen im Fokus identitärer Aktivisten | |
Denn die Lage in Zeebrugge spitzt sich zu: Das winzige Städtchen ist in den | |
Fokus identitärer Aktivisten geraten. Die belgische Pegida demonstrierte | |
hier gegen Flüchtlinge, auf den Mitteilungsbrettern am Kirchenportal kleben | |
Poster der rassistischen Gruppierung Voorpost. „Stoppt die Asyl-Invasion“, | |
steht auf einem. Das andere zeigt zwei Kinder mit blonden Haaren. „Flamen, | |
denkt an ihre Zukunft“, heißt es dazu, unter dem runenartigen | |
Voorpost-Logo. | |
Neben Zeebrugge hat sich in den letzten Jahren noch ein zweiter Ort zu | |
einem Symbol belgischer Transitmigration entwickelt. Er liegt gut hundert | |
Kilometer östlich, und im Gegensatz zum Geschehen an der Küste spielt sich | |
dort alles gut sichtbar ab: der Maximilian-Park in Brüssel, ein paar | |
Minuten zu Fuß vom Nordbahnhof entfernt. Es ist beklemmend, diese Szenen | |
mitten in der Hauptstadt Europas zu sehen: Menschen, die in Schlafsäcken | |
zwischen Büschen liegen, in Grüppchen auf dem staubigen Boden hocken oder | |
mit ihren wenigen Habseligkeiten Schutz unter dem Podest der Seilbahn | |
suchen. Acht- bis neunhundert Geflüchtete sind es jetzt Mitte September, | |
die meisten kommen aus Eritrea und dem Sudan. | |
Im Maximilian-Park wird klar: Die Migrationskrise Europas spielt sich | |
längst nicht mehr nur an den Grenzen ab. Sie ist im Zentrum angekommen, | |
direkt vor den gläsernen Bürotürmen, die dem Geschehen hier einen surrealen | |
Rahmen geben. Bereits im letzten Sommer nahm die Polizei rund um den Park | |
und Bahnhof viele Migranten fest. Eine groß angelegte Razzia im Januar | |
wurde von einer Menschenkette verhindert. Bis heute kommen jeden Abend | |
Helfer, die in ihren Häusern Schlafplätze anbieten – für all jene, die in | |
dieser Nacht keinen Fluchtversuch in Richtung England starten. | |
Ein ungemütlicher Nachmittag im Maximilian-Park: Nieselregen fällt, der | |
Wind fegt in Böen und wirbelt den Staub des langen trockenen Sommers auf. | |
Neben dem Fußballplatz, auf dem der Ball pausenlos rollt, stehen zwei | |
Sudanesen und schauen zu. Sie sind Cousins. Der eine, 16 Jahre alt, ist | |
schon länger hier, der andere, 25-Jährige, erst kürzlich aus Calais | |
angekommen, von wo er keine Möglichkeit mehr sah, nach England zu gelangen. | |
Man hört das öfter im Park. Belgien wird offenbar immer mehr zum | |
Ausweichort. Die Sudanesen werden sich heute Abend ausruhen. Erst gestern | |
haben sie versucht, auf einen Lkw-Parkplatz zu kommen, ohne Erfolg. Wo | |
genau sie waren, wissen sie nicht. Ein Auto brachte sie dorthin. Mehr | |
können oder wollen sie nicht sagen. | |
## Ein Schlafplatz für drei Nächte | |
Am frühen Abend kommt Unruhe auf. In Gruppen laufen die Menschen aus dem | |
Park hinüber zum Bahnhof, wo ein paar Freiwillige auf dem Vorplatz Essen | |
verteilen. Emilie Hauzeur ist eine von ihnen. Mit Mann und zwei kleinen | |
Kindern wohnt sie ganz in der Nähe. Seit einem Jahr, sagt sie, stelle sie | |
zwei oder drei Nächte pro Woche auch ihr Wohnzimmer als Schlafplatz zur | |
Verfügung. Welche Parkplätze ihre Gäste bei ihren Fluchtversuchen | |
ansteuern, weiß sie nicht. „Einmal halfen wir ihnen, auf der Karte einen zu | |
suchen“, erinnert sie sich. | |
Eine der Raststätten, die in diesem Sommer in die Schlagzeilen gerieten, | |
befindet sich unweit des Städtchens Kruibeke. Von Brüssel aus nimmt man den | |
Zug nach Antwerpen, fährt mit der Metro hinüber aufs linke Ufer der Schelde | |
und weiter mit dem Regionalbus. An der Ortseinfahrt steigt man aus, biegt | |
ab in die Molenstraat, ein ruhiges Wohngebiet mit freistehenden | |
Eigenheimen, und läuft dann ein paar Kilometer. Nachdem man schließlich die | |
Brücke über die Autobahn E17 überquert hat, führt ein platt getrampelter | |
Pfad eine Böschung hinab. Unten angekommen, fällt der Blick auf das | |
Wäldchen, hinter dem der Rastplatz liegt. Noch liegt Stille über den | |
Feldern. Gerade ist die Sonne untergegangen. | |
Im August machte das belgische Problem mit der Transitmigration Kruibeke | |
international bekannt. Wim Pieteraerens, der örtlich Polizeichef, hielt | |
seine Beamten dazu an, die Migranten nicht länger festzunehmen, da man sie | |
schlussendlich doch wieder laufen lasse. Die Londoner Times griff das Thema | |
auf und schrieb von einer belgischen Kapitulation vor dem Andrang | |
Geflüchteter. Mit dem Ergebnis, dass in den folgenden Wochen mehrere | |
Razzien in Kruibeke stattfanden. Danach meldete sich Staatssekretär | |
Francken zu Wort: Alle volljährigen Festgenommenen sollten künftig im | |
Abschiebegefängnis Steenokkerzeel bei Brüssel eingesperrt werden, lautete | |
sein offizielles Statement. | |
Als es dunkel ist, kommt Jos Stassen auf den Rastplatz Kruibeke geradelt. | |
Der Bürgermeister von Kruibeke hat zugestimmt, an Ort und Stelle über das | |
Thema zu sprechen. Er nimmt auf einer der Rastbänke Platz und schaut über | |
den voll belegten Lkw-Parkplatz. Zwei Wachmänner einer privaten | |
Sicherheitsfirma, bezahlt von der Regierung in Brüssel, drehen mit einem | |
Schäferhund ihre Runden. Jos Stassen erzählt nun, wie er einmal auf einer | |
Fahrradtour mit seiner Frau durch Calais kam. Wie er dort die Beklemmung | |
der Geflüchteten wahrnahm, und dass er nie gedacht hätte, etwas davon in | |
seinem Städtchen zu spüren. | |
## Kabelbinder an der hinteren Lkw-Tür | |
Dann aber, im Sommer 2017, tauchten spätabends die ersten Flüchtlinge in | |
Kruibeke auf. Ihr Ziel: der Rastplatz. Es wurden mehr, und als der Winter | |
vor der Tür stand, bat Stassen die Regierung um Hilfe. Nicht weil er | |
unbedingt Transmigranten eingesperrt haben will, wie er betont. Kruibeke, | |
sagt er, sei gerne bereit, sie aufzufangen. Wohl aber wolle man Schleusern | |
zeigen, dass „der Weg nach England nicht über diesen Parkplatz führt“. Ein | |
Signal, das bislang offenbar nicht besonders deutlich ankam. Noch immer | |
ziehen die Migranten jeden Abend hierher. Stassen selbst hat eben „fünf | |
oder sechs“ Menschen gesehen, als er durch das Wäldchen radelte. Schleuser | |
seien ihnen hier noch nicht ins Netz gegangen, erzählt er. Inzwischen | |
würden diese sogar mit Garantie-Preisen arbeiten. „Wer die zahlt, kommt | |
sicher nach England“, sagt Stassen über das Versprechen. | |
Den Rastplatz sperren lassen will er trotzdem nicht. „Das würde das Problem | |
nur in die Industriegebiete um Kruibeke verlagern.“ Stattdessen fordert er | |
von Brüssel mehr Bewachung und einen Zaun um den Parkplatz. Und: „England | |
muss endlich aktiv werden, um das Image eines gelobten Landes abschütteln. | |
Solange ein Teil der Wirtschaft auf Niedriglöhnern basiert, bleibt das | |
Problem bestehen.“ | |
Es ist kurz nach elf Uhr, als der Bürgermeister sich auf den Weg macht, das | |
Rücklicht seines Fahrrads verliert sich in den Feldern. Der Wachmann mit | |
Hund sagt, dass es erst gegen Mitternacht richtig losgehen würde. „Abhängig | |
davon, wann die Geflüchteten von den Schleusern gebracht werden.“ Gesehen | |
habe er allerdings noch keinen Schleuser hier. Am strengsten, erklärt er, | |
würden er und seine Kollegen bei ihren Kontrollgängen auf die Kabelbinder | |
achten, die unten am rechten Teil einer Lkw-Hintertür angebracht werden. Er | |
leuchtet mit der Taschenlampe darauf. „Wenn einer durchtrennt ist, wissen | |
wir, dass jemand drinsitzt.“ | |
Die Nacht ist mild. Still liegt das Wäldchen da, vorne an der Ausfahrt. | |
Auch zwischen den Lkws ist keinerlei Regung zu erkennen. Inzwischen ist | |
auch ein zweites Bewacherpaar im Einsatz, ebenfalls mit Hund. Auch ihnen | |
fällt nichts auf. Dann aber, gegen halb zwei Uhr, stürmen drei der Bewacher | |
und ein Hund auf einmal ins Wäldchen. Bald sieht man sie in den | |
angrenzenden Feldern, die Taschenlampen schwirren hektisch durch die Luft | |
und treffen hier und da die Silhouetten von Menschen, die im Sprint | |
davonlaufen. | |
Auf dem Parkplatz nebenan untersucht der vierte Wachmann mit seiner Hündin | |
den Standstreifen, auf dem mehrere Lkws geparkt sind. Ohne Ergebnis. Er | |
greift zum Funkgerät, als darin die Stimme eines Kollegen ertönt „25 | |
Personen waren es, sagt die Stimme. Sie wollten in die Trucks auf dem | |
Standstreifen und sind dann weggerannt, in die Felder.“ Festgenommen wird | |
in dieser Nacht niemand. Dafür, sagt der Wachmann, seien sie auch nicht | |
zuständig. Nur verjagen sollen sie die Transmigranten. Nicht zuletzt, weil | |
am 14. Oktober in Belgien Kommunalwahlen stattfinden. | |
13 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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