| # taz.de -- Georg Winter-Ausstellung in Delmenhorst: Die Kunst der Stadtverscha… | |
| > Straßenkunst ist für Georg Winter nicht bloß Attitüde: Um die Städte | |
| > kennenzulernen, in denen er ausstellt, schläft er ein paar Nächte in | |
| > einer Holzkiste draußen. | |
| Bild: Auf einer Wiese im Delmenhorster Wollepark-Viertel lässt Georg Winter Sc… | |
| Delmenhorst taz | „Stadtverschafung“. Das ist einer der Begriffe, die – | |
| neben zumindest etwas Eingängigerem wie „Reizorganisation“ oder | |
| „Aktivierung des Betrachters“ – im Zentrum der Ausstellung „Delmenhorst… | |
| Modell“ in der Städtischen Galerie Delmenhorst stehen. Bis zum 11. November | |
| zeigt sie Arbeiten des Künstlers Georg Winter. „Stadtverschafung“ also. | |
| Dabei muss man vorausschicken: All die obskuren, lustigen und etwas blöden | |
| Ideen in dieser Ausstellung sind kein Witz – das ist alles ernst gemeint. | |
| Mit Humor hat es zwar viel zu tun, ganz und gar nicht aber mit Sarkasmus. | |
| Georg Winter also. Der erscheint nicht nur habituell wie ein Streetworker | |
| der Kunst; er ist es tatsächlich und das ganz ohne doppelten Boden. Ganz | |
| praktisch etwa, wenn er seine Schlafkoje im Ausstellungsraum auf einem | |
| Treppenabsatz abstellt. Eine Holzkiste, ein bisschen zu kurz, um sich | |
| vollkommen in ihr auszustrecken; ein bisschen zu niedrig, um richtig in ihr | |
| hocken zu können; isoliert mit Styropor, ausgestattet mit einem Schlafsack, | |
| nach vorn hin offen. Man darf sich in ihr niederbetten und ihren Komfort am | |
| eigenen Leib erfahren. Aber ordentlich zurücklassen, bitte! | |
| Winter nutzt diese Kiste, um die Städte, in denen er ausstellt, | |
| kennenzulernen. Ein paar Nächte auf der Straße zu schlafen, ist eine sehr | |
| direkte Erfahrung. Das mag wie eine Attitude wirken, aber dem 1962 in einer | |
| schwäbischen Kleinstadt geborenen Künstler nimmt man sein | |
| Straßenkünstlersein ab. In Japan hat er diese provisorischen Behausungen | |
| kennengelernt. Der Respekt, mit denen die Menschen in diesen Schlafstätten | |
| behandelt wurden, habe ihn fasziniert, sagt er. | |
| Aus Japan kommt auch die Idee für Winters „Erschütterungskammer“. Auch die | |
| ist eine nach vorn geöffnete Holzkiste. Diesmal stehen darin zwei Stühle | |
| und ein Tisch, die Kiste selbst steht auf vier Stahlfedern. Wer sich | |
| hineinsetzt, begibt sich also auf wackligen Grund. An der Außenseite | |
| befindet sich ein Griff, unter ihm zwei Knieschoner. Mit diesen wenigen | |
| Mitteln werden Erdbeben ausgelöst. JapanerInnen sind angehalten, mithilfe | |
| einer solchen Simulation zu lernen, wie man im Ernstfall zum Beispiel den | |
| Herd ausmacht. | |
| Georg Winter hingegen bietet seinen Besuchern Stücke von Aristophanes zum | |
| Lesen an. Das Experiment funktioniert nur, wenn sich drei Personen finden: | |
| Zwei schauen sich während der Erschütterung ins Gesicht, eine dritte | |
| erzeugt das Beben. Es ist ein Versuch, das übliche Schweigen der | |
| Kunstbetrachtung zu durchbrechen. | |
| Durchgeschüttelt kann man sich dann vor dem UCS High Black Monitor, Model | |
| Solitude niederlassen. Der Flatscreen wurde von Winters eigener Firma Ukiyo | |
| Camera Systems produziert. Er besteht vollständig aus schwarz lackiertem | |
| Holz und ermöglicht den Besuchern, „mithilfe modernster Monitortechnik | |
| aktive Formen der Reizreduktion zu erproben“, wie man daneben liest. | |
| Auch Kameras stellt Ukiyo her, schwarze Klötze, bei denen weder Film noch | |
| Bildprozessor benötigt werden: Die Aufnahme erfolgt durch den Körper der | |
| Benutzer*innen, in den das Bild verlustfrei eingeschrieben wird. Ganze | |
| Filme wurden so schon gedreht. Zur Erinnerung: Das alles ist kein Witz. | |
| In der Remise der Städtischen Galerie zeigen derweil | |
| Bildhauerei-Studierende von Georg Winter aus Saarbrücken Videoarbeiten und | |
| Installationen. Organisiert sind sie im Kollektiv „Fence Dance | |
| International“. Und Schüler*innen der Delmenhorster Berufsschule bauen in | |
| Kooperation mit dem Künstler einen „Delmenhorster Hocker“, der auch ein | |
| Bücherregal sein kann. So fordert er sie heraus – und greift den wenigen | |
| Lehrer*innen am Ort unter die Arme. | |
| ## Windschiefe Displays | |
| Präsentiert werden die Hocker in der Ausstellung auf windschiefen Displays, | |
| für die aus der Nachbarschaft Sperrmüll zusammengekarrt wurde. Die Straßen | |
| wurden gesäubert und dem Abfall wurde eine Funktion zugewiesen. | |
| Für weitere Teile der Ausstellung wiederum zeichnet das schwäbisch-syrische | |
| Import/Export-Unternehmen „Schwarabia“ verantwortlich. Dessen Firmenmotto: | |
| „Erinnerung ist eine Stadt, die nicht schläft“. Entstanden ist es aus einer | |
| früheren Performance Winters. | |
| Hintergrund des Ganzen: Georg Winter denkt in einer politischen | |
| Organisationsform, die im spanischen Bürgerkrieg ihren Ursprung hat: in der | |
| Brigade. Studierende, Geflüchtete, Schüler*innen: Sie alle werden dieser | |
| Idee folgend eingesammelt und „aktiviert“. Künstlerische Praxis wird zur | |
| Lebenspraxis – hier wird ganz handfest angepackt und aufgebaut. | |
| Angepackt und aufgebaut wird auch da, wo andere abreisen. In Delmenhorst | |
| ist das der Wollepark, gleich neben der Galerie. Einzelne Blöcke der | |
| Siedlung aus den 70er-Jahren ringsum wurden bereits dem Erdboden | |
| gleichgemacht, andere stehen leer und warten auf den Abriss, die noch | |
| bewohnten Blöcke sind angezählt. Es gibt unterschiedliche Pläne, was aus | |
| der Siedlung werden soll – dass zugunsten der dort lebenden Romafamilien | |
| entschieden wird, ist allerdings unwahrscheinlich. | |
| Winters Vorschlag für die Umgestaltung: Die zu Beginn erwähnte | |
| „Stadtverschafung“. Der als „Schandfleck“ bezeichnete Ort wird nun | |
| tatsächlich von Schafen bewohnt. Morgens werden die Tiere gebracht, abends | |
| abgeholt. Tagsüber stehen sie in kleinen Gruppen in ihren Gattern, fressen | |
| Gras – und sorgen so dafür, dass man sich niederlassen will und ihnen bei | |
| ihrem Schafsein zuschauen möchte. Friedliche Tiere sind das. Und Tiere, die | |
| in verwilderten Städten, denen ihre Struktur abhandenkommt, für Ordnung | |
| sorgen. | |
| „Das ‚Delmenhorster Modell‘ versteht sich als Handlungsmodell“ steht im | |
| Ankündigungstext. Dass die Führung durch die Ausstellung mit einem | |
| engagierten Gespräch über die Neugestaltung des Problemviertels endet, ist | |
| für Winter Beweis für die Richtigkeit seines Herangehens: „Eine dolle | |
| Gruppe!“ | |
| 12 Oct 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Hannah Wolf | |
| ## TAGS | |
| Delmenhorst | |
| Performance | |
| Politische Kunst | |
| Kunst im öffentlichen Raum | |
| Kunst | |
| Reiseland Japan | |
| Fahrrad | |
| Delmenhorst | |
| Delmenhorst | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Naoshima in Japan: Die Insel der Kunst | |
| Auf der japanischen Insel Naoshima hat Kunst den Verfall verdrängt. Dort | |
| sind Werke von Monet, Andy Warhol und Jackson Pollock ausgestellt. | |
| Autorin Poschmann übers Überlandreisen: „Das Fade ist elektrisierend“ | |
| Als Stipendiatin ist Marion Poschmann durchs Oldenburger Land geradelt. | |
| Jetzt wiederholt sie diesen „Landgang“ und trägt vor, was sie damals | |
| notierte. | |
| Doppelausstellung in Delmenhorst: Großes ist geschehen, wir wissen bloß nicht… | |
| Veit Laurent Kurz und Stefan Tcherepnin entwerfen in der Städtischen | |
| Galerie Delmenhorst dystopische Szenarien. | |
| Wand-Kunst vor Villa: Ein Riss im Dreidimensionalen | |
| Dies ist kein Bauzaun: Weil der Denkmalschutz die ganz großen Eingriffe | |
| verwehrte, hat Künstler Jan Köchermann eine Delmenhorster Bürgervilla | |
| umbaut. |