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# taz.de -- Doppelausstellung in Delmenhorst: Großes ist geschehen, wir wissen…
> Veit Laurent Kurz und Stefan Tcherepnin entwerfen in der Städtischen
> Galerie Delmenhorst dystopische Szenarien.
Bild: Der Stoff, der die Dystopie antreibt: Überall sabbert „Herba-4“ raus.
DELMENHORST taz |Stellen Sie sich vor, die Zivilisation, so wie wir sie aus
unserer schnöden Gegenwart kennen, ist nicht mehr. Wir wissen nicht genau,
was geschehen ist, aber irgendetwas Großes muss geschehen sein. Solche
Szenarien entwerfen die beiden jungen Künstler Veit Laurent Kurz und Stefan
Tcherepnin zurzeit in einer Ausstellung der Städtischen Galerie Delmenhorst
in gemeinsamen wie auch getrennten Arbeiten. Die beiden Multimediakünstler
sind seit Langem schon miteinander befreundet. Sie kollaborieren vor allem
bei experimentellen Film- und Musikprojekten und treten bei Performances
gemeinsam auf.
Den Hauptteil der Schau bespielt Kurz alleine. 1985 wurde er im hessischen
Erbach geboren. Er studierte an der Frankfurter Städelschule. Heute lebt er
in Berlin. Bereits seit 2011 kümmerte sich die im schwedischen Malmö
ansässige Galerie Berggren um ihn und zeigte ihn prominent auf wichtigen
Messen, wie der Londoner Frieze.
Die gutbürgerliche Villa, in der die Städtische Galerie untergebracht ist,
hat Kurz in einen etwas unheimlichen, vor allem aber
schmierentheaterartigen Parcours verwandelt. „Kräutergasse“ ist der Titel
seiner Schau, und tatsächlich sind es allerlei Pflanzen, die gegen die alte
Zivilisation den Siegeszug angetreten haben.
Zwischen den Dielen sprießen Grashalme aus Kunststoff. In den
Fensternischen sitzen und liegen zwielichtige, lebensechte, menschliche
Gestalten. Schläuche ziehen sich durch die Räume und das Treppenhaus.
Entscheidend aber scheint zu sein, dass überall grün lackierte
Aluminiumdosen herumliegen. Auf ihnen prangt bedeutungsschwer der
Markenname „Herba-4“.
Das in den Dosen enthaltene Mittel, wohl eine Mischung aus Rauschmittel und
Superpflanzendünger, scheint für die Szenerie verantwortlich zu sein. Woher
kommt es? Wie setzt es sich zusammen? Ist nun die ganze Welt in Gefahr? Wie
kann man sich schützen? Gibt es ein Gegenmittel? Es scheint so, als würde
das grüne Substrat, das aus den offenen Dosen quillt und überall auf
den Ausstellungsböden Flecken hinterlassen hat, durch die Schläuche
geleitet werden.
Ein wenig geordneter als das Chaos am Boden erscheinen diese
Tischkonstruktionen, die er kurz „Brunnen“ nennt und die an
Versuchsaufbauten aus dem Labor ebenso erinnern wie an Modellaufbauten aus
dem Haushalt eines Märklin-Nerds. Auf diesen Tischen wuchert allerlei
grünes Kraut – aus Kunststoff, so wie man es in Läden für höherwertigen
Dekorationsbedarf findet.
Dazwischen krabbelt verschiedenes Getier, bunt bemalte Eidechsen aus
Porzellan zum Beispiel, denen verschiedene Gliedmaßen amputiert wurden.
Wenn man sich etwas duckt und in die künstlichen Landschaften hineinschaut,
anstatt sie herrschaftlich von oben zu betrachten, kann man in diese
seltsamen, kaputten Welten eintauchen. Diese Tische sind natürlich mit
Schläuchen verbunden, durch die das ominöse „Herba-4“ verabreicht wird.
Die Dystopie des Herrn Kurz scheint insgesamt vor allem auf der Phantasie
um diesen in Dosen konfektionierten Stoff zu basieren. In der Ausstellung
sind mehrere kleinere Ölbilder zu sehen, die Gruppen von Jugendlichen
zeigen, die unter dem Einfluss von „Herba-4“ stehen. Ihre Haut ist fahl,
ihr Blick leer, ihr Zustand hoffnungslos. Dabei tun sie nichts anderes als
das, was Jugendliche in einem urbanen Umfeld tun: auf öffentlichen Plätzen
und Straßen rumhängen.
Aber warum muss ausgerechnet auf eine Weise das Ende der Zivilisation
markiert werden? Sind diese Angstphantasien tatsächlich so absurd, wie sie
vorgeben zu sein, oder werden nicht vielmehr Allgemeinplätze bedient – vom
Soma aus Aldous Huxleys „Brave New World“ bis zu den „Chemtrails“ der
Querfrontbewegung.
Weit interessanter sind die Filmarbeiten des 1977 in Boston geborenen und
in New York lebenden Stefan Tcherepnin. Auch hier ist die Welt nicht mehr,
wie sie einmal war. Allerdings ist sie in ihrem ganzen Irre-Gewordensein um
einiges glaubhafter und origineller, aber auch blöder und lustiger.
In der Ausstellung sind Tcherepnins erzählerisch absurde Filmarbeiten
„Learning Movie“ (2014) und „Forgetting Movie (2016) zu sehen. Die
Protagonisten dieser Filme sind Monster mit blauem, schwarzem und orangenem
Fell – orientiert an Jim Hensons Cookie Monster. In den Videos schleppen
sie sich durch die Welt. Die flauschigen Kostüme sind den Schauspielern zu
groß, somit wirken die Ungeheuer etwas aus der Form geraten, etwas
degeneriert.
Sie sind vollkommen unfähig, sich zu artikulieren. Was ihnen zustößt, ist
total. Es gibt keine Distanz, die Reflexion ermöglichen würde. Sie sind das
Fell gewordene Es und leben einen ewigen Traum, eine nicht enden wollende
frühe Kindheit. So roh und strange und fern von jeglichem Bewusstsein wie
die Monster agiert auch die Musik der amerikanischen Noiseperformer von
Wally Blanchard III, ESPCP und Kings of Hell.
Das blaue Monster immerhin versucht zu einer Art von Bewusstsein zu
gelangen. Es rudert, getrieben von der Vision eines sakralen Baus, mit
dessen Bild es selbst überblendet wird, in einem kleinen Boot über einen
See. Auf einer Insel findet es schließlich das erträumte, verlassene
Gebäude.
Nach langem Umkreisen des runden Baus gelingt es ihm schließlich, in das
Innere zu gelangen. Hier bleibt der Mythos auf der Strecke, die Erfahrung
zeigt dem Wesen, dass rein nichts geschieht, es Herr seiner Sinne ist.
Später begegnet es noch einer Gruppe Truthähne, mit denen es versucht,
Kontakt aufzunehmen. Das Vorhaben misslingt zwar, die Vögel fliehen, aber
das Wesen versucht es immerhin.
Tcherepnin führt uns das blaue Wesen auch bei seiner Desintegration vor.
Das orangene und schwarze Monster entdecken auf einem Jahrmarkt ein Plakat,
auf dem das blaue zu sehen ist. In einer ausgedehnten Zeichentricksequenz
sieht man, wie es sich langsam auflöst.
Die Gliedmaßen scheinen sich zu verflüssigen und ihre Form wird amorph. Die
weißen Kulleraugen rollen hin und her. Alles Erlernte ist vergessen. Das
wäre die individualisierte Entsprechung von Veit Laurent Kurz’ Dystopie, in
der die Triebe der Pflanzenwelt über die mühevoll errichtete Zivilisation
siegen.
11 Apr 2017
## AUTOREN
Radek Krolczyk
## TAGS
Delmenhorst
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