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# taz.de -- Kolumne Lost in Trans*lation: Ankommen, dann kommen
> Meine ersten Monate in Deutschland verbrachte ich ohne Kosmetikerin –
> also ohne Selbstbewusstsein und ohne Sex. Jetzt ist Schluss damit.
Bild: In feministischen Studios auch mal zum Solipreis: Nageldesign
Draußen ist es kalt. Ich will noch schnell zum Supermarkt und dann zu Hause
vor dem Fernseher einschlafen. Gerade packe ich meine Einkäufe zusammen,
als mich jemand fragt: „You need help?“ Die Stimme gehört einem großen,
nicht zu schlanken Mann mit dunklem Teint, höchstens 25. Ich sage „ja“, er
nimmt mir die schwere Tüte ab.
Zu Hause angekommen, ziehe ich den Schlüssel aus meiner Tasche und öffne
die Tür, schon hat er einen Schritt über die Schwelle gesetzt. Er dreht
sich zu mir. Ich kenne nicht einmal seinen Namen, aber er küsst unglaublich
gut. Sein Körper ist der Wahnsinn.
Dann klingelt mein Telefon. Ich ignoriere es, konzentriere mich auf die
Hände an meinem Körper. Ich zittere vor Aufregung. Irgendwann, das Telefon
klingelt immer noch, gehe ich ran. „Was los, Schwester?“, fragt die nervige
Stimme meiner besten Freundin Hati. Oh mein Gott, die ganze Welt fällt über
mir zusammen. Denn der Mann ist weg und die heiße Begegnung zu schön, um
wahr zu sein. Nur ein Traum.
## Weite Kleidung, flache Schuhe
Seit letztem Oktober lebe ich in Deutschland, und bis jetzt hatte ich weder
ein Date noch einen Flirt. Klar, ich musste mich erstmal mit der höchst
unerotischen Bürokratie der Einwanderung herumschlagen. Aber mir fehlten
auch schlicht die Zeit und das Geld für das, was ich brauche, um mich
überhaupt sexy zu fühlen: kosmetische Behandlungen.
Als ich noch in Istanbul lebte, bin ich alle drei Monate zur Epilation und
alle 15 Tage zur Maniküre, Pediküre und zum Augenbrauenzupfen gegangen. In
Deutschland kam ich lange nicht dazu – was mir das Ankommen deutlich
erschwerte. Es zog mich runter. Ich mochte mich nicht.
Wenn ich nicht zur Kosmetikerin gehe, fühle ich mich nicht wie eine Frau.
Ich verstecke mich, trage weite Kleidung, Hose, flache Schuhe. Kurz: Ich
kann nicht die starke Istanbulerin sein, die ich einmal war. Denn mich
schick zu machen gibt mir die Kraft, die ich zum Überleben als trans Frau
brauche.
In Leipzig habe ich sechs Monate ohne Kosmetikerin gelebt – damit auch ohne
Selbstbewusstsein, also ohne Sex. Nach meinem Umzug nach Berlin ging es so
weiter. Langsam fand ich mich damit ab, dass die Männer hier sich nur für
cis Frauen interessieren. Erst als mir vor lauter Stress meine langen
blonden Haare ausfielen, verstand ich: Ich muss etwas tun.
## Rennen in Pumps
Also habe ich einen passenden Salon gesucht und gefunden, in
Berlin-Wedding. Ich lasse mich dort epilieren, maniküren und pediküren. Die
Besitzerin ist Deutschtürkin. Wenn das Wetter schön ist, sitzen wir vor der
Tür, trinken Mokka und tratschen. Und weil sie wie ich eine Feministin ist,
macht sie mir sogar einen Solipreis.
Ich ging auch sofort shoppen: rote Plateau-Sandalen, eine passende Tasche,
ein Chanel-Parfüm. Ich gehe jetzt aufrechter und genieße die Blicke der
Frauen auf der Straße. Hinter meiner schwarzen Sonnenbrille sehe ich, wie
sie mich von Kopf bis Fuß mustern. Manche fragen: “Wie kommst du mit den
hohen Schuhen die Treppe hoch?“ Ayol, sie wissen ja nicht, wie oft ich in
solchen Pumps vor den Istanbuler Bullen wegrennen musste.
Auch die Männer schauen mir jetzt nach. Bislang war nur leider keiner
dabei, bei dem ich „wow“ dachte. Ich hoffe wohl immer noch, dem
gutaussehenden Mann aus meinem Traum zu begegnen. Wer weiß, vielleicht
wartet er ja irgendwo auf mich.
16 Sep 2018
## AUTOREN
Michelle Demishevich
## TAGS
Lost in Trans*lation
Trans
Feminismus
Queerfeminismus
Kosmetik
Migration
taz.gazete
Trans-Community
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