# taz.de -- Verhandlung zum Paragraf 219a: Zwei weitere Ärztinnen vor Gericht | |
> Seit Mittwochmorgen harren UnterstützerInnen der beiden angeklagten | |
> Gynäkologinnen in Kassel aus. Der Prozess wurde unterbrochen. | |
Bild: UnterstützerInnen der angeklagten Ärztinnen vor dem Amtsgericht Kassel | |
KASSEL taz | Zwischen 300 und 400 Menschen aller Altersstufen stehen am | |
Mittwoch morgen schon gegen halb neun Uhr vor dem Kasseler Amtsgericht, | |
fast alle sind Frauen. Viele halten Schilder in die Höhe. „In welchem | |
Jahrhundert leben wir eigentlich?“, steht darauf. Oder auch: „Ob Kinder | |
oder keine, entscheide ich alleine!“ | |
Gleich wird hier der [1][Prozess gegen die beiden Kasseler Gynäkologinnen | |
Nora Szász und Natascha Nicklaus] beginnen. Die informieren in einem | |
Halbsatz auf ihrer Website darüber, dass sie Schwangerschaftsabbrüche | |
durchführen. Die Staatsanwaltschaft sieht darin „zum eigenen | |
Vermögensvorteil“ einen Verstoß gegen den Paragrafen 219a, der Werbung für | |
Abtreibungen verbietet. | |
Es ist innerhalb eines Jahres der zweite Prozess wegen des Paragrafen: Im | |
November 2017 war die Gießener Ärztin Kristina Hänel aus denselben Gründen | |
zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Seitdem hat sich viel getan: Eine | |
hitzige Debatte über die Abschaffung von 219a ist entbrannt, die | |
Unterstützung durch Frauen, NGOs und die politische Opposition für die | |
betroffenen Ärztinnen ist enorm. Die SPD zielt momentan auf einen | |
Kompromiss, die Union will am Paragrafen festhalten. | |
Eine kleine Bühne ist vor dem Amtsgericht aufgebaut. Auf der, kündigt eine | |
Rednerin des Bündnisses „Weg mit 219a“ an, sollen heute jede halbe Stunden | |
Soli-Kundgebungen gehalten werden – so lange die Verhandlung gegen Szász | |
und Nicklaus dauert. Im Gerichtssaal selbst haben ohnehin nur rund 70 | |
UnterstützerInnen Platz, darunter auch Kristina Hänel. Als die beiden | |
angeklagten Ärztinnen den Saal betreten, brandet Applaus auf. „Heldinnen!“, | |
ruft eine Frau. Sie lacht, aber es ist kein Scherz. | |
## „Wir wissen genau, wofür wir kämpfen“ | |
Angezeigt wurden Szász und Nicklaus von zwei Männern, die es sich [2][seit | |
Jahren zur Aufgabe und zum „Hobby“ gemacht haben], hunderte Ärztinnen zu | |
kriminalisieren. „Es ist unglaublich wichtig, da gegenzuhalten“, sagt Nora | |
Szász kurz vor dem Prozess. Bei der Verhandlung gehe es nicht nur um den | |
kleinen Eintrag auf der Seite ihrer Praxis, sondern um | |
gesamtgesellschaftliche Entwicklungen: Die Möglichkeit, Abbrüche | |
durchführen zu lassen, ist seit 2003 um 40 Prozent zurückgegangen. | |
Bundesweit sind Abbrüche noch in 1.300 Praxen möglich. „Wir wissen genau“, | |
sagt Szász, „wofür wir kämpfen.“ | |
Deshalb ist auch das Ziel des Prozesses klar: „Freispruch“ fordert ihr | |
Verteidiger Knuth Pfeiffer gleich zu Beginn. Der Paragraf 219a sei mehrfach | |
verfassungswidrig: Er verletze die Grundrechte auf Berufs- und | |
Informationsfreiheit, das Grundrecht des | |
Patientinnenselbstbestimmungsrechts und das Gebot der Gleichberechtigung. | |
Auf der einen Seite lasse es der Staat zu, dass sich ÄrztInnen von | |
sogenannten LebensschützerInnen als MörderInnen beschimpfen lassen müssen. | |
Während den LebensschützerInnen also das Grundrecht der freien | |
Meinungsäußerung gewährt werde, werde es auf der anderen Seite den | |
ÄrztInnen verwehrt – und sogar unter Strafe gestellt. | |
Auch die Verteidigerin von Natascha Nicklaus, Gabriele Heinecke, wird | |
deutlich: „Gegenüber der schwangeren Frau will der deutsche Staat sich auch | |
heute noch die Option bewahren, über ihren Körper zu bestimmen und damit | |
den Nachwuchs zu steuern.“ Doch das Gericht werde aussprechen müssen, was | |
jede Frau auf dieser Welt weiß: „dass Frauen verantwortungsvolle Menschen | |
sind“. | |
## Notfalls durch alle Instanzen | |
Nach zweieinhalb Stunden Verhandlung, in denen Szász und Nicklaus unter | |
anderem darlegen, dass sich ihr „Vermögensvorteil“ durch 10 bis 15 | |
Schwangerschaftsabbrüche pro Jahr zusammen auf rund 600 bis 1.650 Euro | |
beläuft, wird die Verhandlung unterbrochen. Am Nachmittag soll sie | |
fortgesetzt werden. | |
Der Grund für die Unterbrechung: Die Verteidigung hatte beantragt, einen | |
Sachverständigen zu hören. Beweisziele unter anderem: dass Schwangere nicht | |
für einen Abbruch „geworben“ werden können und ein „Werbeverbot“ Schw… | |
nicht etwa von einem Abbruch abhält, sondern dass die Frauen vielmehr | |
andere Wege suchen. Doch die Staatsanwaltschaft hält die Beweisanträge der | |
Verteidigung für nicht relevant, und der Vorsitzende Richter weist den | |
Antrag der Verteidigung schließlich zurück. | |
„Das ist schlicht lebensfremd“, sagt die frauenpolitische Sprecherin der | |
grünen Bundestagsfraktion, Ulle Schauws, der taz. Und Verteidigerin | |
Heinecke sagt schon jetzt: Der Prozess „wird durchgezogen“: [3][Wenn nötig, | |
werde man bis zum Bundesverfassungsgericht] oder sogar Europäischen | |
Menschenrechtsgerichtshof gehen. | |
Draußen vor dem Gericht sind die UnterstützerInnen wieder zusammengekommen. | |
Sie habe selbst einmal abgetrieben, erzählt eine 63 Jahre alte Frau aus | |
Kassel, [4][damals habe es schon legale Möglichkeiten dazu gegeben]. Sie | |
finde es grotesk, die Information über die Möglichkeit eines Abbruchs als | |
Werbung zu betrachten. Und eine junge Frau mit Baby auf dem Arm sagt: Sie | |
werde den ganzen Tag hier sein – „so lange der Prozess heute dauert“. | |
29 Aug 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Verhandlungen-zum-Paragraf-219a/!5528089 | |
[2] /Abtreibungsgegner-ueber-219a/!5494752 | |
[3] /Kommentar-Prozess-um--219a/!5528177 | |
[4] /Illegale-Abtreibungen-in-den-70ern/!5521063 | |
## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
## TAGS | |
Kristina Hänel | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
Schwerpunkt Abtreibung | |
Kristina Hänel | |
Kristina Hänel | |
Kristina Hänel | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
Kristina Hänel | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
„Werbung“ für Schwangerschaftsabbruch: Gericht bestätigt Hänels Verurtei… | |
Das Gießener Landgericht hat das Urteil gegen Kristina Hänel in Höhe von | |
6.000 Euro Strafe bestätigt. Die Ärztin zeigte sich dennoch zufrieden. | |
„Werbung“ für Schwangerschaftsabbruch: Kristina Hänel im Berufungsprozess | |
Am Landgericht Gießen beginnt die Berufung im Fall der Ärztin Hänel. Sie | |
war verurteilt worden, weil sie Informationen zu Abtreibungen | |
veröffentlichte. | |
Verhandlung zum Paragraf 219a: Befangenheitsantrag gegen Richter | |
Im Prozess gegen zwei Frauenärztinnen in Kassel hat es noch kein Urteil | |
gegeben. Sie werfen dem vorsitzenden Richter Befangenheit vor. | |
Kommentar Prozess um § 219a: Verlieren heißt gewinnen | |
Von der Bundesregierung ist eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes | |
nicht zu erwarten. Doch das Bundesverfassungsgericht könnte helfen. | |
Verhandlungen zum Paragraf 219a: Steiniger Weg zu straffreien Infos | |
Zwei Ärztinnen stehen wegen Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen vor | |
Gericht. Von der GroKo ist zu Paragraf 219a noch nichts zu hören. | |
Weitere Anklage wegen 219a: Der Druck steigt | |
Gegen Berliner Ärztinnen liegt eine Anklageschrift vor, weil sie über | |
Abtreibungen informieren. Auch zwei weitere Verfahren laufen. |