| # taz.de -- Lidokino 4: Gute Beiträge im Wettbewerb: Signale der Unruhe | |
| > Lidokino 4: Filme von Olivier Assayas, Alfonso Cuarón und Yorgos | |
| > Lanthimos konkurrieren im Wettbewerb mit starken Bildsprachen. | |
| Bild: Szene aus „Roma“ von Alfonso Cuarón | |
| Ein Verleger stellt eine Mitarbeiterin für „digitalen Wandel“ ein. Im | |
| Freundeskreis diskutiert man, ob der Wechsel vom Gedruckten zum | |
| E-Publishing sinnvoll ist, solange man mit Papiererzeugnissen noch Geld | |
| verdienen kann. Klingt bekannt? Ausnahmsweise geht es hier nicht um die | |
| Debatten, die gerade in dieser Zeitung über die eigene Zukunft geführt | |
| werden, doch die Fragen sind dieselben. | |
| Der französische Regisseur Olivier Assayas hat sich für seinen | |
| Wettbewerbsbeitrag „Doubles vies“ das „Digitale“ als Dialogstoff gewäh… | |
| um von Liebe und Betrug zu erzählen: Bei allen Paaren dieser Geschichte | |
| geht mindestens ein Partner mit jemand anderem fremd. Währenddessen wird | |
| ohne Unterlass über Veränderungen in der Medienwelt diskutiert, etwa ob es | |
| beim Seriengucken nicht in erster Linie darum geht, dass man als Zuschauer | |
| abhängig ist. Und ob Algorithmen die klassische Literaturkritik verdrängen. | |
| Juliette Binoche spielt dabei die Schauspielerin Selena, die im Film in | |
| einer Polizeiserie spielt, auch wenn sie mäßig begeistert ist von ihrem | |
| Job. Ihr Mann Alain (Guillaume Canet), der Verleger, steht den digitalen | |
| Umbrüchen skeptisch gegenüber, zeigt sich seiner jungen Fachkraft für das | |
| Gebiet gegenüber dafür höchst aufgeschlossen. Selena hat eine Affäre mit | |
| einem Autor ihres Manns. Das ist ein „Reigen“ für das Zeitalter der | |
| sozialen Medien, wunderbar dicht gespielt und oft von laserscharf | |
| treffender Komik. | |
| ## Vermeintlich geschlossene Welt | |
| Weniger komisch, dafür im guten Sinn engagiert ist „Roma“ von Alfonso | |
| Cuarón. Er erzählt von einer Zeit der Aufstände, ohne dass die Gewalt groß | |
| ins Bild drängt. Der mexikanische Regisseur („Y Tu Mamá También“, | |
| „Gravity“) wählt in seinem Wettbewerbsfilm die Hausangestellte einer | |
| Mittelklassefamilie Anfang der siebziger Jahre als Protagonistin. Man wohnt | |
| im bürgerlichen Stadtteil Roma von Mexiko-Stadt. Cleo (Yalitza Aparicia) | |
| lebt nicht im Haupthaus, sondern im Anbau, wohlgemerkt. | |
| Die indígena wird geschätzt, besonders von den Kindern, bringt sie zu Bett, | |
| weckt sie morgens sanft – bei ihr erledigt diesen Dienst ein schrillender | |
| Wecker. Vordergründig schildert „Roma“ den Alltag und unerwartete Wendungen | |
| im Leben der Familie – der Mann verschwindet eines Tages, zu einem | |
| Kongress, heißt es. Cleo wird schwanger, der Vater verdünnisiert sich | |
| ebenfalls. | |
| In diese vermeintlich geschlossene Welt dringen Signale von den Unruhen, | |
| die in der Stadt toben. Die Nachrichten, die im Film ausschließlich auf | |
| Spanisch im Hintergrund zu hören sind, geben Hinweise – an einer Stelle | |
| kommentiert eines der Kinder eine Radiomeldung mit dem Wort „Gewehr!“. Aber | |
| auch Transparente auf der Straße künden von politischer Bewegung. | |
| ## Stilistische Eleganz | |
| „Roma“ ist makellos ruhig gefilmt, in langen Kamerafahrten, die mit der | |
| Tiefe des Raums arbeiten. In einer der stärksten Szenen ist die Familie auf | |
| dem Weg zum Kaufhaus, während es in der Stadt eine Demonstration gibt. Man | |
| sieht Cleo mit der Großmutter und den Kindern hinter Reihen von | |
| Bereitschaftspolizisten entlanggehen, als Hinweis auf die bald eskalierende | |
| Situation. Mitunter ist die stilistische Eleganz bloß eine Spur zu | |
| ausgestellt. | |
| Großzügig gefilmt ist auch „The Favourite“ des griechischen Regisseurs | |
| Yorgos Lanthimos, einer der vielen englischsprachigen Beiträge im | |
| Wettbewerb. Bei Lanthimos gibt es gern extreme Weitwinkel, was dem | |
| intriganten Treiben am englischen Königshof des 18. Jahrhunderts zur Zeit | |
| von Queen Anne gut zu Gesicht steht. Und die weitläufige Architektur, durch | |
| die sich Olivia Colman als Königin und, an ihrer Seite, Emma Stone und | |
| Rachel Weisz als rivalisierende Cousinen bewegen, wirkt da gleich noch | |
| desorientierender und bedrückender. Nur die Ränkespiele bleiben | |
| vorhersehbar. Das ginge überraschender. | |
| 1 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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