# taz.de -- Ein Besuch bei Florian Günther: Irgendwie reicht es immer zum Leben | |
> „DreckSack“ hat der Dichter und Fotograf Florian Günther seine | |
> Zeitschrift genannt. Ihn interessiert die Realität, nicht das Geschönte. | |
Bild: Man muss vom Leben erzählen: „DreckSack“-Herausgeber Florian Günther | |
Mein Stammfriseur liegt gleich um die Ecke, in der Ebertystraße, im | |
äußersten Nordteil von Friedrichshain. Also jenseits der Frankfurter Allee | |
und auch noch ein ganzes Stück hinter der allseits bekannten Rigaer Straße, | |
die Landsberger Allee ist ganz nah mit ihrem ewigen Verkehrsrauschen. Das | |
Friseurgeschäft hat nicht mal einen Namen. Über die letzten Jahre hat sich | |
dort, außer der wegen des eingeführten Mindestlohns peu à peu gestiegenen | |
Preise, nie etwas geändert. Es blieb immer alles gleich. Auch das Level der | |
Dienstleistung. | |
Das ist beruhigend in einem sich langsam, aber stetig wandelnden Kiez. | |
Lange herrschte Stillstand. Keine Spur von Verdrängung. Doch seit zwei, | |
drei Jahren verschwinden immer mehr kleine alteingesessene Geschäfte, | |
etliche Läden stehen leer. Doch es gibt auch Neuzugänge, hier macht eine | |
Pizzabude auf, dort zieht ein Start-up-Unternehmen ein. Neuerdings werden | |
in einigen Häusern die Dächer ausgebaut. | |
Gleich neben meinem Stammfriseur liegt die Kalter-Hund-Manufaktur, in dem | |
Café gibt es den Kekskuchen in x Varianten. Und nur zwei Hausnummern weiter | |
lädt der Eberty Treff, eine Raucherkneipe Urberliner Schlages, ein. Da war | |
ich aber nie drin. Ein Fehler, wie sich jetzt herausstellte. Denn dort | |
hätte ich Florian Günther längst schon kennenlernen können. | |
Günther gibt den DreckSack heraus, die „Lesbare Zeitschrift für Literatur�… | |
von der er die jeweils neueste Ausgabe immer bei seinem (und meinem) | |
Stammfriseur auslegt. Da bekam ich den DreckSack in die Finger. | |
## Ein Besuch im Weisbachviertel | |
Hausbesuch bei Florian Günther in der Kochhannstraße, ein paar Meter vom | |
Friseursalon entfernt. Er lebt im sogenannten Weisbachviertel, das von 1901 | |
bis 1904 entstand. Es ist nach Valentin Weisbach benannt, dem Vorsitzenden | |
des „Vereins zur Verbesserung der kleinen Wohnungen“, der Bauherr des | |
Viertels war. | |
Das Gründerzeit-Karree sticht aus dem im Kiez vorherrschenden | |
Mietskaserneneinerlei mit kleinen Hinterhöfen, Seitenflügeln und | |
Quergebäuden hervor. Hier sollten auch die Mieter mit wenig Geld in ihren | |
Wohnungen die Sonne sehen. Mit Innentoilette, Speisekammer und oft auch | |
einem Balkon, dazu ein begrünter großer Innenhof. Ein Wohnparadies für | |
sogenannte kleine Leute. Und eine noch heute beliebte Wohnadresse. Denn die | |
Häuser wurden Mitte der 1990er saniert, die Wohnungsbaugesellschaft | |
Berlin-Mitte ist der Vermieter. | |
Und mittendrin, hoch oben unterm Dach, lebt Florian Günther. Mit Zille | |
gesprochen ist der Friedrichshainer Nordkiez sein Milieu. Und das hat er | |
eigentlich nie groß verlassen (sieht man natürlich von Reisen ab, aber dazu | |
später mehr). | |
## Die Verhältnisse in der DDR | |
Florian Günther wurde in Friedrichshain geboren, das war 1963. Mit 17 | |
Jahren zog er von zu Hause aus. Ohne eigene Wohnung – zu DDR-Zeiten | |
Mangelware (wie heute auch wieder) – lebte er auf der Straße. Obwohl er in | |
der Druckerei des Neuen Deutschland am Mehringplatz zum Drucker ausgebildet | |
wurde. „Und ich war ein guter Lehrling“, erzählt er lachend. Günther | |
übernachtet auf Parkbänken oder in Hausfluren, besetzt aber auch immer | |
wieder leerstehende Wohnungen. Bis ihn die Staatsmacht in eine | |
heruntergekommene Parterrewohnung mit Außentoilette in der | |
Kopernikusstraße einweist, Miete nur 25 Mark der DDR. „Es war mein | |
Rattenloch“, fasst Günther zusammen. | |
Gelegenheitsjobs halten ihn über Wasser, mal hier, mal da, am Ostbahnhof | |
oder auf Friedhöfen. Auch mit wenig Geld konnte man in der DDR ganz gut | |
leben. Ab und an gab es Ärger mit der Polizei. „Ich war ein schwieriger | |
Zeitgenosse“, hat Günther dem Kiezmagazin Friedrichshainer Zeitzeiger | |
einmal erzählt, „fast immer betrunken, hatte das Gefühl, nirgendwo so | |
richtig reinzupassen.“ Ihn plagten Suizidgedanken. | |
Parallel beginnt Günther damit, sich Notizen zu machen, auf Bierdeckeln | |
oder Zettelchen etwa, und zu schreiben. Seine literarischen Arbeiten, meist | |
Gedichte, schickte er an Verlage. Ohne Erfolg. „Die Briefe kamen immer | |
zurück.“ Leider ohne Erklärung. Nur einmal erhielt er eine Antwort, | |
wahrlich keine schöne: „Ihre Texte werden nie bei uns erscheinen, weil sie | |
nichts mit den Verhältnissen in der DDR zu tun haben.“ Dabei bildeten seine | |
Texte die pure Realität in der DDR ab. Aber gerade damit eckte man an. | |
„Nach dieser Erfahrung habe ich mit dem Schreiben aufgehört und mir eine | |
Praktica gekauft“, erzählt Florian Günther grinsend. „Weil Fotos die | |
Realität abbilden. Da konnte keiner das Gegenteil behaupten.“ | |
So einer wie Florian Günther hat auch Glück verdient. Er stellte seine | |
Bilder aus. Er fand eine Anstellung in der Berliner Stadtbibliothek, in der | |
Abteilung Öffentlichkeitsarbeit. Dort lernte er „nebenbei“ ganz viel von | |
dem Grafiker Hubert Riedel und übernahm später dessen Stelle als | |
Hausgrafiker. | |
Wollte er denn niemals der DDR den Rücken kehren und sein Glück im Westen | |
suchen? „Das wollte ich nie“, sagt Günther betont ernst, „die Ausreise w… | |
keine Alternative. Meine Eltern und Großeltern waren Kommunisten. Deren | |
Leben hätte ich damit verraten. Meinen Großvater, an dem ich sehr hing, | |
hatten die Nazis gefoltert und ins KZ gesperrt.“ Ausreisen also nicht, aber | |
reisen. Doch das kam erst nach der Wende. | |
## Kumpels aus der Stammkneipe | |
Ach die Wende! „Da mach ich nicht mit“, war sein erster Impuls, als die DDR | |
den Bach runterging. „Ich war damals schwerer Trinker und depressiv, das | |
wurde aber erst 1994 diagnostiziert. Heute nehme ich Antidepressiva, und | |
alles läuft bestens!“ Günther geht mit seiner Geschichte auch deshalb so | |
offen um, um anderen ein Beispiel zu sein. | |
Nach dem Mauerfall kann Günther endlich reisen. Er fährt oft nach | |
Frankreich und 1993 nach Brasilien, besucht aber auch die Ostblockländer, | |
er kommt viel rum. Sein Geld verdient er nun als Fotograf, unter anderem | |
für ein Magazin aus Basel, und weiter als Grafiker. | |
In seinem ersten Fotoband, „Reisen, ohne wegzumüssen – Fotografien | |
1984–1994“, sind viele seiner schwarzweißen Aufnahmen versammelt, die auf | |
jenen Reisen entstanden und meistens Alltagsszenen zeigen. In Brasilien ist | |
das zum Beispiel vor allem Armut, aber auch Lebensfreude. Und man sieht | |
Gesichter von Menschen aus Berlin, die ihm in den zehn Jahren in seinem | |
Kiez, vor allem in Kneipen, aber auch in Kreuzberg – etwa im Goldenen Hahn | |
– oder Prenzlauer Berg, begegnet sind: Künstlerfreunde natürlich, unter | |
anderem Peter Wawerzinek, Kumpels aus der Stammkneipe, eben Leute wie du | |
und ich. | |
Apropos Stammkneipe: Viele Fotos entstehen im Eberty Treff. Sie sind in dem | |
genialen Bildband „Genug Zeit zu verlieren – Neue Fotos, gebrauchte | |
Gedichte“ verewigt. Was für ein Schatz! Ganz normale Leute haben sich | |
fotografieren lassen. Zum Teil sind darunter Frauen und Männer, die ich | |
seit Jahren aus dem Straßenbild kenne. „Sie vertrauen mir“, erklärt Flori… | |
Günther die Entstehung der ungewöhnlichen Porträts, „weil sie mich | |
jahrelang kennen, mir vertrauen, weil ich dort Stammgast bin.“ | |
Und so wirft sich Renate ganz wild in laszive Pose, während Petra eher | |
introvertiert in die Kamera schaut, so als ob sie lieber nicht fotografiert | |
werden wollte. Andy und Achim lassen sich scheinbar nicht so oft ablichten, | |
dafür hat André sicher Kameraerfahrung. | |
Man kann sich beim Betrachten der Bilder seinen Teil denken, auch weil | |
Günter neben dem Vornamen den Beruf notiert hat. Er hat Botschaftsfahrer, | |
Maschinisten und Polizisten, Thekenkräfte, Fernfahrerinnen, Maurer und | |
Köche, Hausmeister und Verlegerinnen und auch Huren fotografiert. Alles | |
Stammgäste im Eberty Treff bei mir um die Ecke. Eine für mich fremde Welt. | |
Eine Welt, in der sich Florian Günther heimisch fühlt. Eine Welt, „die im | |
Verschwinden begriffen ist“, wie Günther leicht melancholisch sagt. „Die es | |
galt, noch rechtzeitig festzuhalten.“ | |
## Aphorismen und Gedichte | |
Heute schreibt er längst wieder Texte. Im Eigenverlag, aber auch in anderen | |
Verlagen hat Günther Gedichtbände und Aphorismen-Sammlungen herausgebracht. | |
Bereits 1993 ist sein erster Gedichtband, „Taschenbillard“, in der von ihm | |
gegründeten Edition Lükk Nösens erschienen. Inzwischen gibt es zwölf Bücher | |
von ihm, meist Gedichtbände. Günther hat sich von Anfang an | |
UnterstützerInnen für seine Buchvorhaben gesucht, die in die | |
Vorfinanzierung gingen – er betrieb Crowdfundig, lange bevor es das Wort | |
dafür gab. | |
In dem Band „Schutt“, bei Moloko Print erschienen, brilliert Günther mit | |
„Aufgeschnapptem, Sprüchen und Notizen“ – so der Untertitel. „Gegensta… | |
seiner Aphorismen (wie auch seiner Gedichte) bildet der Dschungel des | |
alltäglichen Wahnsinns“, schreibt Marvin Chlada so schön wie richtig im | |
Nachwort. | |
Beispiel gefällig? Bitte schön: „Dass die deutsche Regierung auch Nazis | |
eine Opferrente zahlt, die in DDR-Gefängnissen gesessen haben, ist kein Akt | |
christlicher Nächstenliebe, sondern Solidarität.“ | |
Gedichtbände zu verkaufen macht hierzulande bekanntlich nicht reich. Mit | |
ein Grund, warum der DreckSack erfunden wurde, erzählt Günther. Im November | |
2010 erschien die erste Ausgabe. Damals saß noch Bert Papenfuß mit ihm im | |
Boot. „Er kannte die Leute und hatte die Kontakte“, sagt Günther über den | |
bekannten Lyriker mit DDR-Bonus. „Allein wäre das nicht gegangen.“ | |
Weil sich die beiden nicht auf einen Titel und Inhalte einigen konnten, gab | |
es eine Doppelausgabe mit Wende-Cover. Je zur Hälfte von Papenfuß (namens | |
„Konnektör) und Günther („DreckSack“) bespielt. „Papenfuß wollte eine | |
Literatenzeitung von und für Literaten. Ich wollte eine Literaturzeitung | |
für Krethi und Plethi. Wir zerstritten uns nach ein paar Ausgaben“, erzählt | |
Günther. Er machte allein weiter. „Seitdem geht es steil bergauf!“ | |
Aber was ist denn nun DreckSack für ein Blatt? | |
„Kein Literatenblatt, das wäre zu wenig“, sagt Günther. „Einer nannte es | |
mal Gossenzeug, was wir da drucken.“ Günther hat das nicht als Beleidigung | |
aufgefasst. | |
## Ehrliche Texte über den Alltag | |
Günther legt Wert auf den Untertitel des DreckSack und besonders auf das | |
Wort „lesbar“. „Ich will eine Zeitschrift machen“, sagt er, „die den … | |
unserer Gesellschaft, den sprichwörtlichen, aufnimmt, all die Probleme | |
dieser Zeit, die Korruption, die Verdrängung, das wachsende Elend … Ich | |
will keine spitzfindigen Essays, ich will eine lesbare Zeitschrift machen, | |
die Texte sollen und müssen gut geschrieben sein, aber auch unterhalten, | |
und die soziale Kompetenz ist wichtig. Es schadet nichts, wenn die Autoren | |
noch Dreck unter den Fingernägeln haben.“ | |
Deshalb schreibt für DreckSack zum Beispiel ein Obdachloser. „Auch er soll | |
die Möglichkeit haben, sich zu äußern. Das ist dann sicher kein | |
geschliffener Text, aber ein ehrlicher Text über seinen Alltag. Ein Text | |
für ganz normale Leute – da bin ich stolz drauf“, so Günther. | |
Mit anderen Worten: Der DreckSack spiegelt die Zeit, in der wir leben, | |
wider. Nicht nur mit Texten, auch mit Fotos, früher ausschließlich von | |
Günther selbst, heute auch von anderen Fotografen. | |
Eine Kolumne der Zeitschrift sticht besonders hervor: „Briefe aus dem | |
Knast“. Darin schreibt der Bankräuber Thomas Meyer-Falk, der seit zwanzig | |
Jahren im Gefängnis sitzt, über seinen Alltag und wie es so zugeht hinter | |
Mauern und Gittern. Ein gutes Beispiel, denn so soll es ein: „Autoren | |
schreiben über ihren Alltag, nicht immer in formvollendeter Literatur, aber | |
eben gut lesbar“, fasst Günther zusammen. | |
Alles gesagt?! Ach, das noch: Der Verleger, Dichter, Fotograf, Grafiker und | |
Herausgeber ist jetzt 55 Jahre alt und muss zusehen, wie er über die Runden | |
kommt. „Aber irgendwie“, so sein Credo, „reicht es immer zum Leben.“ | |
21 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Andreas Hergeth | |
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