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# taz.de -- Illegale Abtreibungen in den 70ern: Ihr Codewort war „Picknick“
> Eine Gruppe junger Linker nahm in den 70ern illegale Abtreibungen vor.
> Erstmals reden nun vier der Frauen darüber.
Bild: Christiane war in den 70ern Medizinstudentin
Anfang der siebziger Jahre wurden Schwangerschaftsabbrüche in der
Bundesrepublik verfolgt. In einer westdeutschen Universitätsstadt gründeten
junge Linke eine Gruppe, die heimlich Abtreibungen vornahm. Sie trafen sich
dafür in WG-Zimmern, benutzten Codewörter und umgebaute Fahrradpumpen.
Vierzig Jahre später haben wir vier Frauen der Gruppe zusammengebracht:
Dora und Christiane, die damals Medizin studierten – und Gela und Beate,
die einen Abbruch bei ihnen hatten. Zum ersten Mal sprechen sie öffentlich
darüber.
Die Frauen möchten anonym bleiben. Dora und Christiane, die als Ärztinnen
gearbeitet haben, sind heute im Ruhestand. Trotzdem fürchten sie noch, ihre
ehemaligen KollegInnen in Bedrängnis zu bringen: Die Zahl der ÄrztInnen,
die heute Schwangerschaftsabbrüche durchführen, nimmt ab. Und viele
derjenigen, die Abbrüche vornehmen, sind Anfeindungen von
AbtreibungsgegnerInnen ausgesetzt.
Als wir uns im Juni in der Wohnung einer der vier Frauen treffen, sprechen
wir fast sechs Stunden. Auf dem Wohnzimmertisch sind Erinnerungsstücke
ausgebreitet: medizinische Instrumente, Schwarzweißfotos und Hefte mit
Aufzeichnungen über den weiblichen Zyklus.
Gela: Als ich 1970 das erste Mal schwanger wurde, war ich 20. Ich war in
der Ausbildung und viel zu jung, mein Freund war Student, ich wollte das
Kind nicht. Die Gruppe um Dora und Christiane gab es noch nicht. Aber ein
Arzt in der Nähe machte Abbrüche. Man wusste, dass es solche Ärzte gab,
aber offizielle Sprechstunden hatten die natürlich nicht. Alles war ganz
mysteriös.
Christiane: Für eine Abtreibung drohte ja nicht nur den Schwangeren eine
Strafe, auch auf Durchführung und Beihilfe standen mehrere Jahre Gefängnis.
Gela: Ich bin da also mit dem Kindsvater hin, und der Arzt sagte, er könne
momentan gar nichts machen, er sei unter Beobachtung.
Dora: Ich weiß noch, dass ich irgendwann Mitte der Siebziger vorm Bahnhof
stand und Flugblätter verteilt habe. Damals war genau dieser Arzt
erschossen worden, und alle hatten Angst, dass jetzt die Kartei mit den
Namen seiner Patientinnen gefunden wird.
Gela: Ich hab dann meiner Mutter erzählt, dass ich keinen Ausweg weiß. Sie
war sehr solidarisch mit mir, sie hatte nach dem vierten Kind selbst
abgetrieben, mit einem alten Hebammentrick, wie es hieß. Ihre Mutter hatte
ihr dabei geholfen. Das haben wir bei mir also auch probiert.
Christiane: Als Medizinstudentinnen wussten wir damals, dass immer mal
wieder Frauen nach einer illegalen Abtreibung in die Kliniken kamen.
Frauen, die einen Abbruch hatten, der nicht vollständig war, oder eine
Gebärmutterentzündung.
Gela: Meine Mutter hat einen runden, ummantelten Gummi besorgt, mit dem man
eigentlich die Arme und Beine von Puppen an deren Körpern befestigt hat.
Ich hab versucht, den Gummi in meinen Muttermund reinzudrücken. Bestimmt
vier Stunden lang, immer wieder, das war wirklich grausam. Die Theorie war:
Wenn der Muttermund durch den Gummi geöffnet wird und so Luft reinkommt,
löst sich der Embryo ab. Es hat nicht funktioniert, alles war wund. Ich war
wirklich verzweifelt.
Christiane: Es gab auch Gynäkologen, die illegale Abbrüche technisch gut
gemacht haben, als Typen aber unmöglich waren. Die haben die Frau zur Sau
gemacht oder gequält.
Gela: Ich bin dann zum Asta gegangen und hab gefragt, wo die Frauen
hingehen, die ungewollt schwanger werden. Das waren nur Männer dort, die
getan haben, als sei ich ’ne Schwerverbrecherin. Sie sagten, da gibt es
zwei Möglichkeiten: die teure Variante England und die günstige Variante
Jugoslawien, ein sozialistisches Land, wo Abtreibungen eigentlich
unproblematisch waren. Holland kam erst später.
Dora: Dort konnten ungewollt Schwangere aus Deutschland ab 1971 eine
Abtreibung bekommen.
Gela: Meine Mutter und ich sind also nach Jugoslawien gefahren. Ljubljana
war wirklich crazy. Der Typ hat uns im Dunkeln vor der Klinik getroffen und
wollte als Erstes das Geld. Ich sollte am nächsten Tag ohne meine Mutter
wiederkommen, hat er gesagt, und das Gesicht von dem Menschen, der den
Abbruch macht, dürfe ich nicht sehen. Der trage so eine Art Maske. Meine
Mutter hat gleich gesagt, das machen wir nicht. Wir hatten noch eine zweite
Adresse in Zagreb, wo ein Paar in seiner Praxis Abtreibungen gemacht hat.
Ich hatte eine Vollnarkose, aber hab noch was mitbekommen. Mir ist die
ganze Zeit irgendwas unten rausgetropft, vielleicht war es Gewebe, das
ausgeschabt wurde. Ich hab das Geräusch noch im Ohr, das war so ein dunkles
Blubb-blubb.
Christiane: Grausig.
Gela: Zusammen hat das bestimmt drei, vier Tage gedauert und viel Geld
gekostet. Danach war ich einfach nur glücklich, dass es vorbei war. Meine
Mutter hat gesagt, jetzt musst du langsam machen, dich schonen und so. Aber
ich dachte, nee, nee, und bin mit meinem Freund direkt in die Disko.
Christiane: Wir haben im Winter 1975 mit den Schwangerschaftsabbrüchen
angefangen. Damals war ich 23 und studierte Medizin. Dora und ich hatten
uns an der Uni kennengelernt, dort bin ich auch in die politischen Gruppen
reingerutscht. Ich war eher so auf der Sponti-Seite. In den Semesterferien
hab ich zum Geldverdienen in der Gynäkologie gearbeitet, als
Pflegehelferin. Wir wussten natürlich, dass die Abbrüche ein Risiko waren:
Unser künftiger Beruf als Ärztinnen stand auf dem Spiel. Außerdem war der
Paragraf zur Bildung einer kriminellen Vereinigung ständig Thema. Es war ja
die Zeit der RAF-Verfolgung.
Dora: Natürlich macht es was mit einem, dass man illegal arbeitet. Ich
hatte schon paranoide Gedanken, dass wir mal auffliegen. Wir kannten die
Frauen ja nicht, die zu uns kamen. Wir hatten Angst, abgehört zu werden,
und haben nur Telefonzellen benutzt, um mit den Frauen zu sprechen.
Gleichzeitig fühlten wir uns eingebettet in die linke Bewegung. Ich dachte,
wenn was passiert, stehen die Massen vor dem Gefängnis und rufen: „Lasst
die Dora frei!“
Christiane: Wir waren die Generation der Nach-68er und ständig auf Demos.
Vietnam war noch nicht lange her, Krieg, Atomkraft, Überbevölkerung … Wir
lebten im Überfluss, während anderswo die Menschen hungerten.
Dora: Die Welt war schlecht, und wir waren alle ein bisschen depressiv. Das
war so die Grundstimmung unter den Linken: hängende Mundwinkel.
Christiane: Viele sagten, in diese Welt muss man nicht noch Kinder setzen.
Beate: Aber aus den Schlechtigkeiten ist viel entstanden, die Frauen-,
Schwulen- und die Anti-Atom-Bewegung, Wohngemeinschaften, Krabbelgruppen.
Und unser Kampf um den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen.
Dora: Anfangs haben wir bloß Frauen beraten und sie mit Klinikadressen in
Holland versorgt. Irgendwann dachten wir: Warum jede einzeln? Also haben
wir Busfahrten organisiert. Der erste Bus 1975 war wie eine Demo, mit
Plakaten und von der Presse begleitet.
Christiane: Aber dafür musstest du Verbindungen haben, du musstest Geld
haben. So ein Abbruch in Holland hat damals 200 bis 300 Mark gekostet. Du
musstest Zeit haben, wegzufahren.
Dora: Wir haben dann einmal die Woche etwa 20 Schwangere aus der Region
nach Holland gebracht. Das war Stress, man musste um vier Uhr aufstehen.
Wir sind in eine Tagesklinik gefahren, in der Nähe von Den Haag. Während
wir auf die Frauen gewartet haben, konnten wir manchmal für zehn Minuten
die Füße ins Meer hängen. Irgendwann sagten einige in der Gruppe: Das
müssen wir doch auch selbst können.
Christiane: Unser Codewort für die Frauen war „Picknick“. „Am Samstag um…
Uhr, wir treffen uns bei dir.“ Der Korb mit unseren Instrumenten war der
„Picknickkorb“. Das war so ein großer geflochtener Handarbeitskorb, den
konnte man aufklappen, da war das ganze Zeug drin. Die Instrumente, die
Schüssel für das Gewebe, das hat ganz schön geklappert beim Transport.
Dora: Diese Horrorgeschichten mit den Stricknadeln, die Frauen in ihre
Gebärmutter einführen, um selbst abzutreiben, waren da schon nicht mehr so
präsent – es gab dann ja Holland.
Christiane: Uns ging es um Frauengesundheit, wir wollten konservativen
Frauenärzten etwas entgegensetzen.
Dora: Ich war der Meinung, die Frauenbewegung braucht Frauenärztinnen. Wir
hatten Verbindungen zur linksradikalen Frauengruppe „Gruppe Brot und Rosen“
nach Berlin, und zu Consciousness-Rising-Gruppen in Deutschland und den
USA.
Christiane: Wir haben uns also selbst untersucht, mit dem Spekulum, haben
Aufzeichnungen gemacht und Tabellen geführt.
Beate: Ich habe noch alte Tagebücher, in denen ich mir genau notiert habe,
wie mein Zyklus abgelaufen ist. Zum Beispiel: Der Muttermund ist leicht
geöffnet, weißer Schleim.
Christiane: Es ging darum, einen Zugang zum eigenen Körper zu bekommen. Wir
haben das in der Gruppe gemacht, saßen zusammen auf dem Boden oder auf
Matratzen. Der weibliche Körper war noch tabu, man hat nicht so genau
hingeguckt, und die Gynäkologen waren überwiegend Männer.
Dora: Es gab überhaupt keine Worte. Man hat nur „da unten“ gesagt.
Beate: Es gab total viele Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen.
Da ging es um die Entwicklung einer eigenen Identität, um Selbstbewusstsein
und Selbstbehauptung. Die Frauen haben ihre Meinung gesagt, wurden aber
einfach übergangen. Ständig gab es Diskussionen mit den Männern, auch den
Liebschaften, die man hatte. Die Frauengruppen waren dazu da, dass wir uns
frei äußern konnten.
Gela: Männer hatten damals eine absolute Übermacht. Die waren überall,
saßen in allen wichtigen Positionen. Alles, was wir durften, war Zuhören.
Christiane: Abtreibungen machen war natürlich viel sensibler als
Selbstuntersuchungen. Wir haben uns sehr zurückhalten müssen und konnten
nicht laut sagen, was wir tun. Es gab kein Internet, kein Handy, nur
Mundpropaganda. In den entsprechenden Kreisen waren wir bekannt, sonst
hätten die Frauen uns ja nicht gefunden. Meist haben wir die Abbrüche zu
dritt gemacht, dazu natürlich die Frau und eine Freundin von ihr.
Beate: Ich weiß nicht mehr viel von meinem Abbruch, nur, dass es in meiner
WG war. Das war gut für mich, ein guter Ort. Es ist eine Entscheidung, so
eine Schwangerschaft abzubrechen. Ich hatte schon den Wunsch, eine
dauerhafte Beziehung mit einem Mann aufzubauen, aber mit dem damaligen war
das nicht möglich. Wir hatten in der WG keine eigenen Zimmer, sondern haben
alles gemeinsam genutzt. Man konnte in jedem Zimmer schlafen. Ein Zimmer
war vom Bett her am geeignetsten für den Abbruch, von der Position her.
Christiane: Ich war bei Beate auf jeden Fall dabei. Aber ich weiß nicht
mehr, ob ich den Abbruch selbst gemacht oder nur geholfen habe. Da sieht
man, wie tief ich das verdrängt habe.
Beate: Eine meiner Mitbewohnerinnen hat mir fest die Hand gedrückt.
Dora: Wir hatten eine Fahrradpumpe, eine Frau musste neben dem Bett stehen
und auf Kommando pumpen. Mal mehr, mal weniger. Das war so eine Pumpe, auf
der man stehen konnte, wir hatten die umgebaut. Die war mit einem Schlauch
verbunden, der in eine Flasche mit zwei Öffnungen führte, an der anderen
Seite war der Absaugschlauch. Das Gewebe floss dann in die Glasflasche oder
eine Schüssel mit Wasser. Das haben wir uns hinterher genau angesehen, um
sicherzustellen, dass die Fruchtblase vollständig und die Plazenta raus
ist. Dann musste man fühlen, ob die Gebärmutter ganz leer ist.
Beate: Man wurde gefragt, ob man sich das ansehen möchte. Ich hab es mir
angeschaut, ich hab darüber auch Abschied genommen.
Dora: Am Ende haben wir das Gewebe ins Klo gekippt. Wir haben Abbrüche bis
zur zehnten Woche gemacht. Ganz genau konnte man das gar nicht bestimmen,
manchmal war die Schwangerschaft doch weiter. Dann wurde es schwer mit dem
Absaugen, wenn die Kanülen nicht weit genug waren.
Christiane: Die Instrumente haben wir teils aus den Kliniken geklaut, die
Spekula, Zangen und so. Irgendwer hat immer irgendwo etwas abgegriffen. Die
Kanülen haben wir in den USA bestellt. Das war schwierig, wir konnten ja
nur wenige bestellen. Die waren teuer, und es sollte nicht auffallen. Wir
haben sie also sterilisiert und mehrfach benutzt. Erst wenn sie rau wurden,
haben wir sie weggeschmissen. Das finde ich heute problematisch und würde
es unter hygienischen Aspekten nicht mehr machen. Zur Dehnung des
Muttermunds haben wir Bougierstifte verwendet, die zur Harnröhrenweitung
bei Männern benutzt werden. Die Instrumente haben wir vor dem Einsatz mit
Alkohol übergossen und abgebrannt, das Plastikmaterial in desinfizierende
Lösungen gelegt.
Dora: Wir haben uns in Lehrbüchern kundig gemacht, wann Bakterien
absterben, wie lange es dafür wie heiß sein muss.
Christiane: Bei jedem Eingriff musste eine Person dabei sein, die
medizinisch vorgebildet war. Ich war einmal in der Woche an der
gynäkologischen Ambulanz, da habe ich bei einer sehr netten Kollegin viel
gelernt – zum Beispiel, wie man sicher untersucht. Das war sehr wichtig.
Oder auch das Anhaken des Uterus mit der Zange, damit er nicht wegrutscht.
Ich erinnere mich, dass ich das unangenehm fand, das tut ja auch der Frau
weh.
Dora: Und dieses „Klack“-Geräusch …
Christiane: Wir wollten von den Ausschabungen weg. Es gab ja jetzt die
schonendere Absaugmethode und wir haben nicht eingesehen, dass die für
Frauen in Deutschland nicht zugänglich sein sollte. Dora und ich sind im
März 1976 nach Rom gefahren, um da in einer Gruppe zu lernen, die mit den
italienischen Linken von Lotta Continua verknüpft war. Da gab es einmal die
Woche Veranstaltungen, bei denen Frauen sich anmelden konnten, um dann auf
verschlungenen Wegen in irgendwelche alten Villen gefahren zu werden, in
denen die Abbrüche gemacht wurden.
Dora: Was wir gemacht haben, war okay. Obwohl ich inzwischen so viele Jahre
unter dem Einfluss der Schulmedizin hinter mir habe, schaue ich nicht mit
Entsetzen auf meine Vergangenheit. Wir hatten Regeln und Standards und ich
denke: Ja, das kann man machen.
Christiane: Die Angst, dass etwas schiefgeht, war trotzdem immer da.
Dora: Wir hatten nur eine einzige medizinische Komplikation. Eine aus
unserer Gruppe, die den Eingriff damals gemacht hat, hat etwas getan, das
gegen unsere Regeln verstieß: einen Abbruch bei einer Frau, die seit
mehreren Tagen blutete. Weil ja auch medizinische Laiinnen in der Gruppe
waren, war Konsens, dass wir nur etwas machen, wenn alles in Ordnung ist.
Wenn die Frau schon blutet, kann es sein, dass die Gebärmutter so
butterweich ist, dass man etwas kaputt macht. So war es dann: Sie hat die
Gebärmutterwand durchstoßen, und die Frau musste ins Krankenhaus. Für die
Frau aus unserer Gruppe, der das passiert ist, war das so schlimm, dass sie
keine Abbrüche mehr machen wollte.
Christiane: Die Frau, die den Abbruch hatte, hat das überstanden. Aber
wegen solcher Risiken waren wir sehr streng in der Auswahl, wer bei uns
eine Abtreibung bekommen kann. Es durfte keine Komplikationen gegeben
haben, und wir haben die Frauen gründlich untersucht: Wie groß ist die
Gebärmutter, wo liegt sie. Ultraschall gab es noch kaum. Wenn wir nach dem
Tastbefund und der Anamnese der Meinung waren, dass wir es nicht risikolos
machen können, haben wir es nicht gemacht.
Beate: Nach meinem Abbruch wurde ich selbst Teil der Gruppe. Das war der
Wunsch, das Konzept: dass wir das selbst lernen, auch die medizinischen
Laien. Ich fand das gut. Später habe ich selbst Abbrüche gemacht, das war
natürlich ein Lernprozess – die Zange in den Muttermund zu setzen, ihn zu
weiten, und dann das Absaugen. Das ging ganz langsam, wir mussten ja am
lebenden Objekt lernen. Es war auch eine Entscheidung, zu sagen, jetzt
fühle ich mich sicher genug. Beim ersten Mal hatte ich das Gefühl, eine
sehr, sehr große Verantwortung zu tragen.
Gela: Ich hatte noch ein zweites und drittes Mal selbst einen Abbruch, da
war ich schon Teil der Gruppe. Mit der Pille hatte ich im Zuge der
Frauenbewegung wegen der Nebenwirkungen aufgehört und hab mit Diaphragma
verhütet oder mit Kondomen. Die hat man aber selten eingefordert. Die
Männer haben von sich aus nichts getan, das war Frauensache. Man hat
überhaupt nicht darüber gesprochen. Als die zweite Schwangerschaft passiert
ist, wusste ich genau, heute kann ich keinen Sex haben, aber ich hab mich
nicht getraut zu sagen, dass er ein Kondom nehmen muss. Christiane war bei
beiden Abbrüchen dabei. Beide haben in meinem Zimmer stattgefunden, in
einer gemischten Achter-WG. Im Vergleich zu Jugoslawien war alles
wunderbar. Die Männer haben etwas Schönes gekocht, die Frauen die
Abtreibung gemacht.
Christiane: Der Mann durfte nur dabei sein, wenn die Frau das wollte und
wir ein gutes Gefühl mit ihm hatten. Es gab ja auch Frauen in
Gewaltsituationen. Einmal hatten wir richtige Probleme, weil es länger
dauerte. Plötzlich kam der Mann und wollte in die Wohnung, er hat an die
Tür gehämmert – durfte aber auf keinen Fall wissen, was da gerade
passierte. Wir machten eine Pause, waren ganz still und haben so getan, als
ob niemand da wäre. Wir hatten fürchterliche Angst.
Gela: Mir ist vor lauter Schreck eine Linse aus dem Auge gesprungen. Wir
hatten auch Angst, dass er die Polizei ruft.
Christiane: Irgendwann verschwand er, und wir konnten den Abbruch noch
beenden.
Beate: Für viele Frauen, die keinen Zugang zu Gruppen wie unserer hatten
oder kein Geld, waren ungewollte Schwangerschaften eine Katastrophe.
Alleinstehend schwanger, und das vielleicht noch auf dem Land –
Katastrophe. Wenn du Geld hattest, gab es wenigstens noch Holland, aber das
merkt in so einem Dorf ja jeder, wenn du drei Tage weg bist. Oder du bist
halt in die nächste Kleinstadt gefahren und hast dir einen gesucht, der das
auf dem Küchentisch gemacht hat, wie es hieß. Aber das war nicht nur
illegal, sondern auch gefährlich; scheiße.
Christiane: Später hab ich eine Zeit lang als Ärztin bei Pro Familia
gearbeitet. Da musste ich mich sehr zurückhalten, wenn über illegale
Abbrüche und über feministische Aktivistinnen diskutiert wurde. Denn wir
haben ja auch illegale Abtreibungen gemacht. Aber anders als viele Pfuscher
im Hinterzimmer haben wir versucht, es für die Frau so gut wie möglich zu
gestalten. Es war geheim, aber die Frauen durften aussuchen, wer dabei war,
wann und wo es passiert.
Dora: Wir haben immer sauber und steril gearbeitet. Wir haben keine
Infektionen verursacht, kannten die Anatomie und wussten, wo wir mit dem
Röhrchen rein- und wann wir aufhören müssen. Das ist bei den
Küchentischabtreibungen oft schiefgegangen. Ein anderer wichtiger
Unterschied war, dass die Entscheidung der Frau, jetzt kein Kind zu wollen,
in unserer Gruppe akzeptiert war.
Gela: Und dass es umsonst war. Also auf Spendenbasis, weil die Kanülen ja
bezahlt werden mussten. Ich selbst hab dann nur eine einzige Abtreibung
gemacht, aber ich war bei ungefähr zehn dabei.
Dora: Ich hab vielleicht 20, 30 illegale Abbrüche gemacht.
Christiane: Wir haben sehr umfassend aufgeklärt und den Frauen gesagt,
worauf sie achten müssen. Wir haben allen Antibiotika gegeben, und für den
Fall, dass sie Fieber bekommen hätten, hätten sie gewusst, was sie wann
nehmen sollten. Wir kannten an zwei oder drei Krankenhäusern linke Ärzte,
an die hätten wir uns in Notfällen wenden können.
Dora: Am Folgetag und zwei Wochen später haben wir dann noch mal
telefoniert. Getroffen haben wir die Frauen allerdings nicht noch mal. Es
sei denn, sie wollten in der Gruppe mitmachen.
Christiane: Direkt hinterher haben wir aber immer noch zusammengesessen und
etwas gegessen. Das war schön für alle. Das war so ein Moment des
Aufatmens.
Gela: Ich find toll, was wir gemacht haben. Trotzdem war ich froh, als es
1978 dann vorbei war. Das war trotz allem belastend.
Dora: Du konntest ja auch nur mit ausgewählten Freunden darüber reden, nur
mit ganz wenigen. Den meisten Menschen konntest du gar nicht erzählen,
womit du dich beschäftigst.
Gela: Die Gruppe ist dann einfach eingeschlafen.
Dora: Es gab ja so langsam auch bei den Ärzten in Deutschland bessere
Methoden, das Absaugen setzte sich mehr und mehr durch. Und vor allem war
ab 1976 ein straffreier Schwangerschaftsabbruch auch bei sozialer Notlage
der Frau möglich. Vorher ging das nur aus medizinischen Gründen, nach einer
Vergewaltigung oder bei einer Behinderung. Pro Familia stieg in die
Schwangerschaftskonfliktberatung ein, und allmählich konnten Frauen einen
guten Abbruch in einer angemessenen Zeit bekommen.
Christiane: Als wir aufgehört haben, hatten wir noch die Kanülen. Wir
hatten Angst, dass sie jemand im Müll entdeckt, wenn wir sie einfach
wegwerfen. Also haben wir die peu à peu zerschnitten. So tief saß die
Angst, doch noch erwischt zu werden. Wir haben danach auch nie darüber
gesprochen.
Dora: Aber heute denke ich: Wir können das doch nicht mit ins Grab nehmen.
Christiane: Dass ich mich so schlecht erinnere, liegt ja nicht nur an den
vierzig Jahren, die seitdem vergangen sind. Ich musste meine illegale Zeit
verdrängen. Bei Pro Familia gab es Leute, bei denen ich gern gewollt hätte,
dass sie es wissen – aber es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn das
rausgekommen wäre. Dann war es lange nicht mehr so ein relevantes Thema für
mich. Nur bei Umzügen habe ich mich immer mal gefragt, wo ich jetzt diesen
Picknickkorb hintue. Er stand noch lange hinten im Schuppen. Vor zehn
Jahren habe ich ihn weggeschmissen.
Dora: Politisch waren wir natürlich ein bisschen naiv. Wir dachten, wir
fangen an, und dann breitet sich das aus, und irgendwann machen alle selbst
Abtreibungen. Das war die Stimmung, davon waren wir getragen. Wir waren
Teil der Bewegung, die den Paragrafen 218 abschaffen wollte.
Gela: Ein radikaler Teil.
Dora: Ein klandestiner Teil.
Beate: Ich liebe es, aktiv etwas anzupacken.
Dora: Frauen nehmen ihr Leben selbst in die Hand – das war die Devise.
7 Aug 2018
## AUTOREN
Patricia Hecht
Dinah Riese
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Paragraf 218
Schwerpunkt Paragraf 219a
Schwerpunkt Abtreibung
Mutterschaft
Studiengang Medizin
Schwerpunkt Paragraf 219a
Paragraf 218
Schwerpunkt Paragraf 219a
Schwerpunkt Paragraf 219a
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