| # taz.de -- Illegale Abtreibungen in den 70ern: Ihr Codewort war „Picknick“ | |
| > Eine Gruppe junger Linker nahm in den 70ern illegale Abtreibungen vor. | |
| > Erstmals reden nun vier der Frauen darüber. | |
| Bild: Christiane war in den 70ern Medizinstudentin | |
| Anfang der siebziger Jahre wurden Schwangerschaftsabbrüche in der | |
| Bundesrepublik verfolgt. In einer westdeutschen Universitätsstadt gründeten | |
| junge Linke eine Gruppe, die heimlich Abtreibungen vornahm. Sie trafen sich | |
| dafür in WG-Zimmern, benutzten Codewörter und umgebaute Fahrradpumpen. | |
| Vierzig Jahre später haben wir vier Frauen der Gruppe zusammengebracht: | |
| Dora und Christiane, die damals Medizin studierten – und Gela und Beate, | |
| die einen Abbruch bei ihnen hatten. Zum ersten Mal sprechen sie öffentlich | |
| darüber. | |
| Die Frauen möchten anonym bleiben. Dora und Christiane, die als Ärztinnen | |
| gearbeitet haben, sind heute im Ruhestand. Trotzdem fürchten sie noch, ihre | |
| ehemaligen KollegInnen in Bedrängnis zu bringen: Die Zahl der ÄrztInnen, | |
| die heute Schwangerschaftsabbrüche durchführen, nimmt ab. Und viele | |
| derjenigen, die Abbrüche vornehmen, sind Anfeindungen von | |
| AbtreibungsgegnerInnen ausgesetzt. | |
| Als wir uns im Juni in der Wohnung einer der vier Frauen treffen, sprechen | |
| wir fast sechs Stunden. Auf dem Wohnzimmertisch sind Erinnerungsstücke | |
| ausgebreitet: medizinische Instrumente, Schwarzweißfotos und Hefte mit | |
| Aufzeichnungen über den weiblichen Zyklus. | |
| Gela: Als ich 1970 das erste Mal schwanger wurde, war ich 20. Ich war in | |
| der Ausbildung und viel zu jung, mein Freund war Student, ich wollte das | |
| Kind nicht. Die Gruppe um Dora und Christiane gab es noch nicht. Aber ein | |
| Arzt in der Nähe machte Abbrüche. Man wusste, dass es solche Ärzte gab, | |
| aber offizielle Sprechstunden hatten die natürlich nicht. Alles war ganz | |
| mysteriös. | |
| Christiane: Für eine Abtreibung drohte ja nicht nur den Schwangeren eine | |
| Strafe, auch auf Durchführung und Beihilfe standen mehrere Jahre Gefängnis. | |
| Gela: Ich bin da also mit dem Kindsvater hin, und der Arzt sagte, er könne | |
| momentan gar nichts machen, er sei unter Beobachtung. | |
| Dora: Ich weiß noch, dass ich irgendwann Mitte der Siebziger vorm Bahnhof | |
| stand und Flugblätter verteilt habe. Damals war genau dieser Arzt | |
| erschossen worden, und alle hatten Angst, dass jetzt die Kartei mit den | |
| Namen seiner Patientinnen gefunden wird. | |
| Gela: Ich hab dann meiner Mutter erzählt, dass ich keinen Ausweg weiß. Sie | |
| war sehr solidarisch mit mir, sie hatte nach dem vierten Kind selbst | |
| abgetrieben, mit einem alten Hebammentrick, wie es hieß. Ihre Mutter hatte | |
| ihr dabei geholfen. Das haben wir bei mir also auch probiert. | |
| Christiane: Als Medizinstudentinnen wussten wir damals, dass immer mal | |
| wieder Frauen nach einer illegalen Abtreibung in die Kliniken kamen. | |
| Frauen, die einen Abbruch hatten, der nicht vollständig war, oder eine | |
| Gebärmutterentzündung. | |
| Gela: Meine Mutter hat einen runden, ummantelten Gummi besorgt, mit dem man | |
| eigentlich die Arme und Beine von Puppen an deren Körpern befestigt hat. | |
| Ich hab versucht, den Gummi in meinen Muttermund reinzudrücken. Bestimmt | |
| vier Stunden lang, immer wieder, das war wirklich grausam. Die Theorie war: | |
| Wenn der Muttermund durch den Gummi geöffnet wird und so Luft reinkommt, | |
| löst sich der Embryo ab. Es hat nicht funktioniert, alles war wund. Ich war | |
| wirklich verzweifelt. | |
| Christiane: Es gab auch Gynäkologen, die illegale Abbrüche technisch gut | |
| gemacht haben, als Typen aber unmöglich waren. Die haben die Frau zur Sau | |
| gemacht oder gequält. | |
| Gela: Ich bin dann zum Asta gegangen und hab gefragt, wo die Frauen | |
| hingehen, die ungewollt schwanger werden. Das waren nur Männer dort, die | |
| getan haben, als sei ich ’ne Schwerverbrecherin. Sie sagten, da gibt es | |
| zwei Möglichkeiten: die teure Variante England und die günstige Variante | |
| Jugoslawien, ein sozialistisches Land, wo Abtreibungen eigentlich | |
| unproblematisch waren. Holland kam erst später. | |
| Dora: Dort konnten ungewollt Schwangere aus Deutschland ab 1971 eine | |
| Abtreibung bekommen. | |
| Gela: Meine Mutter und ich sind also nach Jugoslawien gefahren. Ljubljana | |
| war wirklich crazy. Der Typ hat uns im Dunkeln vor der Klinik getroffen und | |
| wollte als Erstes das Geld. Ich sollte am nächsten Tag ohne meine Mutter | |
| wiederkommen, hat er gesagt, und das Gesicht von dem Menschen, der den | |
| Abbruch macht, dürfe ich nicht sehen. Der trage so eine Art Maske. Meine | |
| Mutter hat gleich gesagt, das machen wir nicht. Wir hatten noch eine zweite | |
| Adresse in Zagreb, wo ein Paar in seiner Praxis Abtreibungen gemacht hat. | |
| Ich hatte eine Vollnarkose, aber hab noch was mitbekommen. Mir ist die | |
| ganze Zeit irgendwas unten rausgetropft, vielleicht war es Gewebe, das | |
| ausgeschabt wurde. Ich hab das Geräusch noch im Ohr, das war so ein dunkles | |
| Blubb-blubb. | |
| Christiane: Grausig. | |
| Gela: Zusammen hat das bestimmt drei, vier Tage gedauert und viel Geld | |
| gekostet. Danach war ich einfach nur glücklich, dass es vorbei war. Meine | |
| Mutter hat gesagt, jetzt musst du langsam machen, dich schonen und so. Aber | |
| ich dachte, nee, nee, und bin mit meinem Freund direkt in die Disko. | |
| Christiane: Wir haben im Winter 1975 mit den Schwangerschaftsabbrüchen | |
| angefangen. Damals war ich 23 und studierte Medizin. Dora und ich hatten | |
| uns an der Uni kennengelernt, dort bin ich auch in die politischen Gruppen | |
| reingerutscht. Ich war eher so auf der Sponti-Seite. In den Semesterferien | |
| hab ich zum Geldverdienen in der Gynäkologie gearbeitet, als | |
| Pflegehelferin. Wir wussten natürlich, dass die Abbrüche ein Risiko waren: | |
| Unser künftiger Beruf als Ärztinnen stand auf dem Spiel. Außerdem war der | |
| Paragraf zur Bildung einer kriminellen Vereinigung ständig Thema. Es war ja | |
| die Zeit der RAF-Verfolgung. | |
| Dora: Natürlich macht es was mit einem, dass man illegal arbeitet. Ich | |
| hatte schon paranoide Gedanken, dass wir mal auffliegen. Wir kannten die | |
| Frauen ja nicht, die zu uns kamen. Wir hatten Angst, abgehört zu werden, | |
| und haben nur Telefonzellen benutzt, um mit den Frauen zu sprechen. | |
| Gleichzeitig fühlten wir uns eingebettet in die linke Bewegung. Ich dachte, | |
| wenn was passiert, stehen die Massen vor dem Gefängnis und rufen: „Lasst | |
| die Dora frei!“ | |
| Christiane: Wir waren die Generation der Nach-68er und ständig auf Demos. | |
| Vietnam war noch nicht lange her, Krieg, Atomkraft, Überbevölkerung … Wir | |
| lebten im Überfluss, während anderswo die Menschen hungerten. | |
| Dora: Die Welt war schlecht, und wir waren alle ein bisschen depressiv. Das | |
| war so die Grundstimmung unter den Linken: hängende Mundwinkel. | |
| Christiane: Viele sagten, in diese Welt muss man nicht noch Kinder setzen. | |
| Beate: Aber aus den Schlechtigkeiten ist viel entstanden, die Frauen-, | |
| Schwulen- und die Anti-Atom-Bewegung, Wohngemeinschaften, Krabbelgruppen. | |
| Und unser Kampf um den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. | |
| Dora: Anfangs haben wir bloß Frauen beraten und sie mit Klinikadressen in | |
| Holland versorgt. Irgendwann dachten wir: Warum jede einzeln? Also haben | |
| wir Busfahrten organisiert. Der erste Bus 1975 war wie eine Demo, mit | |
| Plakaten und von der Presse begleitet. | |
| Christiane: Aber dafür musstest du Verbindungen haben, du musstest Geld | |
| haben. So ein Abbruch in Holland hat damals 200 bis 300 Mark gekostet. Du | |
| musstest Zeit haben, wegzufahren. | |
| Dora: Wir haben dann einmal die Woche etwa 20 Schwangere aus der Region | |
| nach Holland gebracht. Das war Stress, man musste um vier Uhr aufstehen. | |
| Wir sind in eine Tagesklinik gefahren, in der Nähe von Den Haag. Während | |
| wir auf die Frauen gewartet haben, konnten wir manchmal für zehn Minuten | |
| die Füße ins Meer hängen. Irgendwann sagten einige in der Gruppe: Das | |
| müssen wir doch auch selbst können. | |
| Christiane: Unser Codewort für die Frauen war „Picknick“. „Am Samstag um… | |
| Uhr, wir treffen uns bei dir.“ Der Korb mit unseren Instrumenten war der | |
| „Picknickkorb“. Das war so ein großer geflochtener Handarbeitskorb, den | |
| konnte man aufklappen, da war das ganze Zeug drin. Die Instrumente, die | |
| Schüssel für das Gewebe, das hat ganz schön geklappert beim Transport. | |
| Dora: Diese Horrorgeschichten mit den Stricknadeln, die Frauen in ihre | |
| Gebärmutter einführen, um selbst abzutreiben, waren da schon nicht mehr so | |
| präsent – es gab dann ja Holland. | |
| Christiane: Uns ging es um Frauengesundheit, wir wollten konservativen | |
| Frauenärzten etwas entgegensetzen. | |
| Dora: Ich war der Meinung, die Frauenbewegung braucht Frauenärztinnen. Wir | |
| hatten Verbindungen zur linksradikalen Frauengruppe „Gruppe Brot und Rosen“ | |
| nach Berlin, und zu Consciousness-Rising-Gruppen in Deutschland und den | |
| USA. | |
| Christiane: Wir haben uns also selbst untersucht, mit dem Spekulum, haben | |
| Aufzeichnungen gemacht und Tabellen geführt. | |
| Beate: Ich habe noch alte Tagebücher, in denen ich mir genau notiert habe, | |
| wie mein Zyklus abgelaufen ist. Zum Beispiel: Der Muttermund ist leicht | |
| geöffnet, weißer Schleim. | |
| Christiane: Es ging darum, einen Zugang zum eigenen Körper zu bekommen. Wir | |
| haben das in der Gruppe gemacht, saßen zusammen auf dem Boden oder auf | |
| Matratzen. Der weibliche Körper war noch tabu, man hat nicht so genau | |
| hingeguckt, und die Gynäkologen waren überwiegend Männer. | |
| Dora: Es gab überhaupt keine Worte. Man hat nur „da unten“ gesagt. | |
| Beate: Es gab total viele Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen. | |
| Da ging es um die Entwicklung einer eigenen Identität, um Selbstbewusstsein | |
| und Selbstbehauptung. Die Frauen haben ihre Meinung gesagt, wurden aber | |
| einfach übergangen. Ständig gab es Diskussionen mit den Männern, auch den | |
| Liebschaften, die man hatte. Die Frauengruppen waren dazu da, dass wir uns | |
| frei äußern konnten. | |
| Gela: Männer hatten damals eine absolute Übermacht. Die waren überall, | |
| saßen in allen wichtigen Positionen. Alles, was wir durften, war Zuhören. | |
| Christiane: Abtreibungen machen war natürlich viel sensibler als | |
| Selbstuntersuchungen. Wir haben uns sehr zurückhalten müssen und konnten | |
| nicht laut sagen, was wir tun. Es gab kein Internet, kein Handy, nur | |
| Mundpropaganda. In den entsprechenden Kreisen waren wir bekannt, sonst | |
| hätten die Frauen uns ja nicht gefunden. Meist haben wir die Abbrüche zu | |
| dritt gemacht, dazu natürlich die Frau und eine Freundin von ihr. | |
| Beate: Ich weiß nicht mehr viel von meinem Abbruch, nur, dass es in meiner | |
| WG war. Das war gut für mich, ein guter Ort. Es ist eine Entscheidung, so | |
| eine Schwangerschaft abzubrechen. Ich hatte schon den Wunsch, eine | |
| dauerhafte Beziehung mit einem Mann aufzubauen, aber mit dem damaligen war | |
| das nicht möglich. Wir hatten in der WG keine eigenen Zimmer, sondern haben | |
| alles gemeinsam genutzt. Man konnte in jedem Zimmer schlafen. Ein Zimmer | |
| war vom Bett her am geeignetsten für den Abbruch, von der Position her. | |
| Christiane: Ich war bei Beate auf jeden Fall dabei. Aber ich weiß nicht | |
| mehr, ob ich den Abbruch selbst gemacht oder nur geholfen habe. Da sieht | |
| man, wie tief ich das verdrängt habe. | |
| Beate: Eine meiner Mitbewohnerinnen hat mir fest die Hand gedrückt. | |
| Dora: Wir hatten eine Fahrradpumpe, eine Frau musste neben dem Bett stehen | |
| und auf Kommando pumpen. Mal mehr, mal weniger. Das war so eine Pumpe, auf | |
| der man stehen konnte, wir hatten die umgebaut. Die war mit einem Schlauch | |
| verbunden, der in eine Flasche mit zwei Öffnungen führte, an der anderen | |
| Seite war der Absaugschlauch. Das Gewebe floss dann in die Glasflasche oder | |
| eine Schüssel mit Wasser. Das haben wir uns hinterher genau angesehen, um | |
| sicherzustellen, dass die Fruchtblase vollständig und die Plazenta raus | |
| ist. Dann musste man fühlen, ob die Gebärmutter ganz leer ist. | |
| Beate: Man wurde gefragt, ob man sich das ansehen möchte. Ich hab es mir | |
| angeschaut, ich hab darüber auch Abschied genommen. | |
| Dora: Am Ende haben wir das Gewebe ins Klo gekippt. Wir haben Abbrüche bis | |
| zur zehnten Woche gemacht. Ganz genau konnte man das gar nicht bestimmen, | |
| manchmal war die Schwangerschaft doch weiter. Dann wurde es schwer mit dem | |
| Absaugen, wenn die Kanülen nicht weit genug waren. | |
| Christiane: Die Instrumente haben wir teils aus den Kliniken geklaut, die | |
| Spekula, Zangen und so. Irgendwer hat immer irgendwo etwas abgegriffen. Die | |
| Kanülen haben wir in den USA bestellt. Das war schwierig, wir konnten ja | |
| nur wenige bestellen. Die waren teuer, und es sollte nicht auffallen. Wir | |
| haben sie also sterilisiert und mehrfach benutzt. Erst wenn sie rau wurden, | |
| haben wir sie weggeschmissen. Das finde ich heute problematisch und würde | |
| es unter hygienischen Aspekten nicht mehr machen. Zur Dehnung des | |
| Muttermunds haben wir Bougierstifte verwendet, die zur Harnröhrenweitung | |
| bei Männern benutzt werden. Die Instrumente haben wir vor dem Einsatz mit | |
| Alkohol übergossen und abgebrannt, das Plastikmaterial in desinfizierende | |
| Lösungen gelegt. | |
| Dora: Wir haben uns in Lehrbüchern kundig gemacht, wann Bakterien | |
| absterben, wie lange es dafür wie heiß sein muss. | |
| Christiane: Bei jedem Eingriff musste eine Person dabei sein, die | |
| medizinisch vorgebildet war. Ich war einmal in der Woche an der | |
| gynäkologischen Ambulanz, da habe ich bei einer sehr netten Kollegin viel | |
| gelernt – zum Beispiel, wie man sicher untersucht. Das war sehr wichtig. | |
| Oder auch das Anhaken des Uterus mit der Zange, damit er nicht wegrutscht. | |
| Ich erinnere mich, dass ich das unangenehm fand, das tut ja auch der Frau | |
| weh. | |
| Dora: Und dieses „Klack“-Geräusch … | |
| Christiane: Wir wollten von den Ausschabungen weg. Es gab ja jetzt die | |
| schonendere Absaugmethode und wir haben nicht eingesehen, dass die für | |
| Frauen in Deutschland nicht zugänglich sein sollte. Dora und ich sind im | |
| März 1976 nach Rom gefahren, um da in einer Gruppe zu lernen, die mit den | |
| italienischen Linken von Lotta Continua verknüpft war. Da gab es einmal die | |
| Woche Veranstaltungen, bei denen Frauen sich anmelden konnten, um dann auf | |
| verschlungenen Wegen in irgendwelche alten Villen gefahren zu werden, in | |
| denen die Abbrüche gemacht wurden. | |
| Dora: Was wir gemacht haben, war okay. Obwohl ich inzwischen so viele Jahre | |
| unter dem Einfluss der Schulmedizin hinter mir habe, schaue ich nicht mit | |
| Entsetzen auf meine Vergangenheit. Wir hatten Regeln und Standards und ich | |
| denke: Ja, das kann man machen. | |
| Christiane: Die Angst, dass etwas schiefgeht, war trotzdem immer da. | |
| Dora: Wir hatten nur eine einzige medizinische Komplikation. Eine aus | |
| unserer Gruppe, die den Eingriff damals gemacht hat, hat etwas getan, das | |
| gegen unsere Regeln verstieß: einen Abbruch bei einer Frau, die seit | |
| mehreren Tagen blutete. Weil ja auch medizinische Laiinnen in der Gruppe | |
| waren, war Konsens, dass wir nur etwas machen, wenn alles in Ordnung ist. | |
| Wenn die Frau schon blutet, kann es sein, dass die Gebärmutter so | |
| butterweich ist, dass man etwas kaputt macht. So war es dann: Sie hat die | |
| Gebärmutterwand durchstoßen, und die Frau musste ins Krankenhaus. Für die | |
| Frau aus unserer Gruppe, der das passiert ist, war das so schlimm, dass sie | |
| keine Abbrüche mehr machen wollte. | |
| Christiane: Die Frau, die den Abbruch hatte, hat das überstanden. Aber | |
| wegen solcher Risiken waren wir sehr streng in der Auswahl, wer bei uns | |
| eine Abtreibung bekommen kann. Es durfte keine Komplikationen gegeben | |
| haben, und wir haben die Frauen gründlich untersucht: Wie groß ist die | |
| Gebärmutter, wo liegt sie. Ultraschall gab es noch kaum. Wenn wir nach dem | |
| Tastbefund und der Anamnese der Meinung waren, dass wir es nicht risikolos | |
| machen können, haben wir es nicht gemacht. | |
| Beate: Nach meinem Abbruch wurde ich selbst Teil der Gruppe. Das war der | |
| Wunsch, das Konzept: dass wir das selbst lernen, auch die medizinischen | |
| Laien. Ich fand das gut. Später habe ich selbst Abbrüche gemacht, das war | |
| natürlich ein Lernprozess – die Zange in den Muttermund zu setzen, ihn zu | |
| weiten, und dann das Absaugen. Das ging ganz langsam, wir mussten ja am | |
| lebenden Objekt lernen. Es war auch eine Entscheidung, zu sagen, jetzt | |
| fühle ich mich sicher genug. Beim ersten Mal hatte ich das Gefühl, eine | |
| sehr, sehr große Verantwortung zu tragen. | |
| Gela: Ich hatte noch ein zweites und drittes Mal selbst einen Abbruch, da | |
| war ich schon Teil der Gruppe. Mit der Pille hatte ich im Zuge der | |
| Frauenbewegung wegen der Nebenwirkungen aufgehört und hab mit Diaphragma | |
| verhütet oder mit Kondomen. Die hat man aber selten eingefordert. Die | |
| Männer haben von sich aus nichts getan, das war Frauensache. Man hat | |
| überhaupt nicht darüber gesprochen. Als die zweite Schwangerschaft passiert | |
| ist, wusste ich genau, heute kann ich keinen Sex haben, aber ich hab mich | |
| nicht getraut zu sagen, dass er ein Kondom nehmen muss. Christiane war bei | |
| beiden Abbrüchen dabei. Beide haben in meinem Zimmer stattgefunden, in | |
| einer gemischten Achter-WG. Im Vergleich zu Jugoslawien war alles | |
| wunderbar. Die Männer haben etwas Schönes gekocht, die Frauen die | |
| Abtreibung gemacht. | |
| Christiane: Der Mann durfte nur dabei sein, wenn die Frau das wollte und | |
| wir ein gutes Gefühl mit ihm hatten. Es gab ja auch Frauen in | |
| Gewaltsituationen. Einmal hatten wir richtige Probleme, weil es länger | |
| dauerte. Plötzlich kam der Mann und wollte in die Wohnung, er hat an die | |
| Tür gehämmert – durfte aber auf keinen Fall wissen, was da gerade | |
| passierte. Wir machten eine Pause, waren ganz still und haben so getan, als | |
| ob niemand da wäre. Wir hatten fürchterliche Angst. | |
| Gela: Mir ist vor lauter Schreck eine Linse aus dem Auge gesprungen. Wir | |
| hatten auch Angst, dass er die Polizei ruft. | |
| Christiane: Irgendwann verschwand er, und wir konnten den Abbruch noch | |
| beenden. | |
| Beate: Für viele Frauen, die keinen Zugang zu Gruppen wie unserer hatten | |
| oder kein Geld, waren ungewollte Schwangerschaften eine Katastrophe. | |
| Alleinstehend schwanger, und das vielleicht noch auf dem Land – | |
| Katastrophe. Wenn du Geld hattest, gab es wenigstens noch Holland, aber das | |
| merkt in so einem Dorf ja jeder, wenn du drei Tage weg bist. Oder du bist | |
| halt in die nächste Kleinstadt gefahren und hast dir einen gesucht, der das | |
| auf dem Küchentisch gemacht hat, wie es hieß. Aber das war nicht nur | |
| illegal, sondern auch gefährlich; scheiße. | |
| Christiane: Später hab ich eine Zeit lang als Ärztin bei Pro Familia | |
| gearbeitet. Da musste ich mich sehr zurückhalten, wenn über illegale | |
| Abbrüche und über feministische Aktivistinnen diskutiert wurde. Denn wir | |
| haben ja auch illegale Abtreibungen gemacht. Aber anders als viele Pfuscher | |
| im Hinterzimmer haben wir versucht, es für die Frau so gut wie möglich zu | |
| gestalten. Es war geheim, aber die Frauen durften aussuchen, wer dabei war, | |
| wann und wo es passiert. | |
| Dora: Wir haben immer sauber und steril gearbeitet. Wir haben keine | |
| Infektionen verursacht, kannten die Anatomie und wussten, wo wir mit dem | |
| Röhrchen rein- und wann wir aufhören müssen. Das ist bei den | |
| Küchentischabtreibungen oft schiefgegangen. Ein anderer wichtiger | |
| Unterschied war, dass die Entscheidung der Frau, jetzt kein Kind zu wollen, | |
| in unserer Gruppe akzeptiert war. | |
| Gela: Und dass es umsonst war. Also auf Spendenbasis, weil die Kanülen ja | |
| bezahlt werden mussten. Ich selbst hab dann nur eine einzige Abtreibung | |
| gemacht, aber ich war bei ungefähr zehn dabei. | |
| Dora: Ich hab vielleicht 20, 30 illegale Abbrüche gemacht. | |
| Christiane: Wir haben sehr umfassend aufgeklärt und den Frauen gesagt, | |
| worauf sie achten müssen. Wir haben allen Antibiotika gegeben, und für den | |
| Fall, dass sie Fieber bekommen hätten, hätten sie gewusst, was sie wann | |
| nehmen sollten. Wir kannten an zwei oder drei Krankenhäusern linke Ärzte, | |
| an die hätten wir uns in Notfällen wenden können. | |
| Dora: Am Folgetag und zwei Wochen später haben wir dann noch mal | |
| telefoniert. Getroffen haben wir die Frauen allerdings nicht noch mal. Es | |
| sei denn, sie wollten in der Gruppe mitmachen. | |
| Christiane: Direkt hinterher haben wir aber immer noch zusammengesessen und | |
| etwas gegessen. Das war schön für alle. Das war so ein Moment des | |
| Aufatmens. | |
| Gela: Ich find toll, was wir gemacht haben. Trotzdem war ich froh, als es | |
| 1978 dann vorbei war. Das war trotz allem belastend. | |
| Dora: Du konntest ja auch nur mit ausgewählten Freunden darüber reden, nur | |
| mit ganz wenigen. Den meisten Menschen konntest du gar nicht erzählen, | |
| womit du dich beschäftigst. | |
| Gela: Die Gruppe ist dann einfach eingeschlafen. | |
| Dora: Es gab ja so langsam auch bei den Ärzten in Deutschland bessere | |
| Methoden, das Absaugen setzte sich mehr und mehr durch. Und vor allem war | |
| ab 1976 ein straffreier Schwangerschaftsabbruch auch bei sozialer Notlage | |
| der Frau möglich. Vorher ging das nur aus medizinischen Gründen, nach einer | |
| Vergewaltigung oder bei einer Behinderung. Pro Familia stieg in die | |
| Schwangerschaftskonfliktberatung ein, und allmählich konnten Frauen einen | |
| guten Abbruch in einer angemessenen Zeit bekommen. | |
| Christiane: Als wir aufgehört haben, hatten wir noch die Kanülen. Wir | |
| hatten Angst, dass sie jemand im Müll entdeckt, wenn wir sie einfach | |
| wegwerfen. Also haben wir die peu à peu zerschnitten. So tief saß die | |
| Angst, doch noch erwischt zu werden. Wir haben danach auch nie darüber | |
| gesprochen. | |
| Dora: Aber heute denke ich: Wir können das doch nicht mit ins Grab nehmen. | |
| Christiane: Dass ich mich so schlecht erinnere, liegt ja nicht nur an den | |
| vierzig Jahren, die seitdem vergangen sind. Ich musste meine illegale Zeit | |
| verdrängen. Bei Pro Familia gab es Leute, bei denen ich gern gewollt hätte, | |
| dass sie es wissen – aber es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn das | |
| rausgekommen wäre. Dann war es lange nicht mehr so ein relevantes Thema für | |
| mich. Nur bei Umzügen habe ich mich immer mal gefragt, wo ich jetzt diesen | |
| Picknickkorb hintue. Er stand noch lange hinten im Schuppen. Vor zehn | |
| Jahren habe ich ihn weggeschmissen. | |
| Dora: Politisch waren wir natürlich ein bisschen naiv. Wir dachten, wir | |
| fangen an, und dann breitet sich das aus, und irgendwann machen alle selbst | |
| Abtreibungen. Das war die Stimmung, davon waren wir getragen. Wir waren | |
| Teil der Bewegung, die den Paragrafen 218 abschaffen wollte. | |
| Gela: Ein radikaler Teil. | |
| Dora: Ein klandestiner Teil. | |
| Beate: Ich liebe es, aktiv etwas anzupacken. | |
| Dora: Frauen nehmen ihr Leben selbst in die Hand – das war die Devise. | |
| 7 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Patricia Hecht | |
| Dinah Riese | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Paragraf 218 | |
| Schwerpunkt Paragraf 219a | |
| Schwerpunkt Abtreibung | |
| Mutterschaft | |
| Studiengang Medizin | |
| Schwerpunkt Paragraf 219a | |
| Paragraf 218 | |
| Schwerpunkt Paragraf 219a | |
| Schwerpunkt Paragraf 219a | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Schwangerschaftsabbruch in den Medien: Gegen das Unverständnis | |
| Im Zentrum der klugen Serie „Bauchgefühl“ steht eine Frau, die sich für | |
| einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet – trotz aller Widerstände. | |
| Thema Abtreibungen im Studium: Lernen, wie man Abbrüche durchführt | |
| Der Assistenzarzt Nathan Klee kritisiert, dass im Medizin-Studium | |
| Schwangerschaftsabbrüche kaum vorkommen. Er hospitiert jetzt bei Kristina | |
| Hänel. | |
| Kommentar Prozess um § 219a: Verlieren heißt gewinnen | |
| Von der Bundesregierung ist eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes | |
| nicht zu erwarten. Doch das Bundesverfassungsgericht könnte helfen. | |
| Antifeministische Rechte: Massenmails gegen Abtreibungsrecht | |
| In einem Text in der taz sprachen sich Politiker für eine Legalisierung von | |
| Schwangerschaftsabbrüchen aus. Tausende protestieren per Massenmail. | |
| Anhörung zu Paragraf 219a im Bundestag: Meinungen gehen weit auseinander | |
| Der Rechtsausschuss im Bundestag diskutiert über verbotene „Werbung“ für | |
| Abtreibungen. Ein Gesetzentwurf der Regierung steht noch aus. | |
| Frauenpolitische Sprecherinnen fordern: Abtreibungen sollen straffrei sein | |
| PolitikerInnen von Linken und Grünen sowie mehrere Organisationen wollen, | |
| dass Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird. |