# taz.de -- Die Wahrheit: Horch, was zieht von draußen rein | |
> Sie wird von den meisten Menschen abgelehnt, ja verabscheut, dabei bringt | |
> sie doch zumindest frischen Wind: die Zugluft. | |
Bild: Die neuen Farben der Deutschen Bahn: Grün-Rot-Gelb | |
Und? Zieht’s? Gerade jetzt, während Sie diese Zeilen lesen? Vielleicht vom | |
Fenster her und unten zur Tür hinaus? Tja, dann kommen wir nicht zusammen. | |
Ich zähle mich zur anderen Hälfte der Menschheit, jener, die gegen Zugluft | |
nicht etwa immun ist, sondern, schlimmer noch, dieses angebliche „Phänomen“ | |
rundheraus leugnet. Es gibt keine Zugluft. | |
Was es gibt und ich gern einräume: Luftzug, also eine Windbewegung in | |
geschlossenen Räumen. Das kann eine feine Sache sein. Im Auto | |
beispielsweise, wenn ich bei 33 Grad zwei Fenster einen Spaltbreit öffne, | |
um, ah!, ein wenig frische … – aber nein. „Fenster zu! Es zieht!“, scha… | |
der Alarm aus vielen Kehlen. Und Zugluft, das wissen besonders die | |
Deutschen sehr gut, bedeutet nicht etwa Erfrischung. Sondern Schnupfen, | |
Halsstarre, Kopfgrippe, Rachenentzündung, steigende Kriminalitätsrate, | |
früher Tod. Zugluft ist sozusagen des grimmen Schnitters eisiger Atem. | |
Es gibt die Anemophobie, also die Furcht vor Wirbelstürmen und Zyklonen. | |
Kann gut begründet sein. Anders verhält es sich mit der Aerophobie. Das ist | |
die Angst vor, na ja, Luft. Vergleichbar höchstens mit der Nihilophobie, | |
der Angst vor: nichts. Wobei Luft, wenn sie sich passiv und ruhig verhält, | |
selbst den neurotischsten Aerophobiker kaum stören dürfte. Hin und wieder | |
macht er sich ihre Anwesenheit sogar zunutze, etwa beim Atmen. | |
Kohlenstoffdioxid raus, Sauerstoff rein. Geht doch! | |
Sobald aber diese Luft ihren passiven Charakter ablegt, ein wenig | |
Engagement zeigt, von hier nach dort strömt: „Irgendwo zieht’s hier! Mir | |
ist schon ganz flau!“ Weshalb der Aerophobiker sich vorzugsweise in | |
windstillen, bestenfalls fest verschweißten Räumen so richtig munter fühlt. | |
Ganz egal, wie schwül oder abgestanden die Luft ist. Hauptsache, sie steht | |
oder wird nur gaaanz behutsam von einem rheumatischen Ventilator verquirlt. | |
Bizarrerweise verhält es sich „an frischer Luft“ genau umgekehrt. Unter | |
freiem Himmel können dem Gegner fremder Luft die Brisen gar nicht steif | |
genug sein. Bora, Blizzard, Föhn? Immer her damit! Hui, wie das wieder | |
pustet! Wehe aber, danach geht’s in einen auch nur leidlich geschlossenen | |
Raum, etwa eine U-Bahn-Station. Sofort droht dort der tückische Chicago, | |
diese leicht nach Eisenabrieb und Mäusekot riechende Schubluft, mit der | |
jede Bahn sich ankündigt. Sie lässt den Windbeutel husten, hecheln, den | |
Kragen hochschlagen und zum Ausgang eilen. | |
Nun sind Ängste bekanntlich ernst zu nehmen. Vor allem dann, wenn Deutsche | |
sie hegen, pflegen, katalogisieren und klassifizieren. Es sollte das | |
Gespräch gesucht werden mit Menschen, die nicht horchen und erst recht | |
nicht fühlen wollen, ob und was so von draußen hereinkommt. Und weil das so | |
ist, dürfen gerade die Freunde des Äolischen keinesfalls auf Durchzug | |
schalten. Im Gegenteil. Wir werden alle ersticken. | |
27 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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