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# taz.de -- Die Wahrheit: Reisende soll man dringend aufhalten
> Die Deutsche Bahn lässt ihre Verspätungen und Ausfälle jetzt von einem
> neuen Happiness-Manager zu Dienstleistungen hochjubeln.
Bild: Tschu-tschu! Verhältnisse wie in Indien!
Bitte beachten Sie folgende Durchsage: Dieser Text verkehrt heute in
geänderter Wortreihung. Außerdem sind die Platzreservierungen aufgehoben.
Zu entschuldigen wir bitten das.
Endlich! Die Bahn AG hat begriffen, dass sich ihre Probleme nicht lösen
lassen. Es kommt also auf die Einstellung an. Und genau diesbezüglich
werden gerade entscheidende Weichen auf der Bahnfahrt in die Zukunft
gestellt – und zwar von Robert „Bobby“ Schmitz.
Der rundliche Kaffeefahrt-Experte ist der neue „Happyness-Manager“ der
Bahn. Er soll den Blick der Fahrgäste auf die kleinen Pannen des
Bahn-Alltags versöhnlicher gestalten. Wir haben uns mit dem
Gute-Laune-Spezialisten („Ich kann auch Heizdecken!“) in der DB Lounge in
Köln verabredet – im Pilotbahnhof für die neue Feelgood-Bahn. Mit seiner
Bahncard 1000 hat Schmitz uns ein Tischchen ergattert. Wir steigen über
kampierende Top-Manager hinweg. Vor einem steht ein Pappschild: „Ich habe
Hunger. Mein Zug sollte im Oktober fahren.“
Schmitz wirkt eifrig: „Klar, es zieht sich manchmal ein wenig. Aber man
kann so eine Wartezeit auch positiv gestalten. Wir planen eine Art
Bahnsteig-Bingo: Wer die Wagenreihung richtig vorhersagt, kann eine
Flixcard 100 gewinnen. Wartematratzen mit rosa Laken auf den Bahnsteigen
machen jede Verspätung zum entspannten Event. Vor allem aber muss es wieder
etwas Besonderes sein, wenn ein Zug bereitgestellt wird. Da machen wir ab
jetzt immer einen zünftigen Festakt, wie früher bei Bahnhofseinweihungen.
Inklusive Schweinebraten, Blaskapelle und durchgeschnittenem Band. Und bei
Pünktlichkeit zusätzlich mit einem Feuerwerk. Ich meine, einen Zug
bereitzustellen ist doch nicht nichts!“
## Warten heißt Sein
Wir sind jetzt draußen auf einem der Bahnsteige. Auf der Anzeigetafel
laufen die neuen Info-Bänder: „Warten heißt Sein“ und „Das Hier und Jet…
ist wichtig, nicht das Wann und Wohin“ statt deprimierender
Verspätungsanzeigen. Wir wollen das Wagnis eingehen, einen Zug Richtung
München zu besteigen. Dafür mussten wir der Bahn eine
Forderungsverzichterklärung unterschreiben und unsere Hausschlüssel
aushändigen, damit die Blumen gegossen sowie Katzen und Omas gefüttert
werden. Nach angemessener Zeit wird die Wohnung untervermietet. Angehörige
werden benachrichtigt. Dieser Rundum-sorglos-Service wird künftig für alle
Bahnreisen ab 100 Kilometern gelten. Eine tolle Geschichte.
Eine Durchsage zu unserem Zug: „… fährt heute auf Gleis 8 statt auf Gleis 4
ein“. Unser vorwurfsvoll-fragender Blick prallt an Bobby Schmitz ab. „Das
ist doch positiv! Im Laufschritt zu Gleis 8 hält fit. Außerdem haben wir so
keine platzraubenden Rollstuhlfahrer im Zug. Die schaffen das zeitlich gar
nicht.“
Nach einigen Stunden auf Gleis 8 schneiden wir – mittlerweile umringt von
Rollstuhlfahrern – das Reizthema „Verspätungen“ an. Schmitz wird energis…
„Ich halte überhaupt nichts vom Fatalismus mancher Redensarten. Ich bin der
Meinung: Reisende soll man aufhalten!“ Und Verspätung sei doch ein
relativer Begriff. In Sachen Fahrtzeit solle künftig das kölsche Motto
gelten: „Et kütt, wann et kütt!“
## Minuten, die den Bürger nur verunsichern würden
Unterstützung für die Bahn kommt ausgerechnet von einem autoverrückten
Bayern, von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Er zweifelt die
Grenzwerte für Verspätungen massiv an. 6 Minuten seien reine Willkür und
verunsicherten die Bürger. Er werde demnächst verfügen, dass erst 60
Minuten und mehr als verspätet gelten. Alles darunter sei „kostenlose
Quality Time“ für die Fahrgäste. Und die Begriffe „Umsteigen“ und
„Anschlusszüge“ würden abgeschafft. In Zukunft heißt es: „Neue Reise, …
Glück“. Und warum nicht mal einen Winter in Hannover verbringen?
Damit an Bord trotz des einen oder anderen Stündchens Verspätung kein Unmut
aufkommt, sind „die Schaffnernden“ gehalten, ab einer „negativen
Fahrplanabweichung“ von 30 Minuten nicht mehr die Fahrkarten zu
kontrollieren, sondern mit den Fahrgästen über Gott zu sprechen: „Das Ende
ist nah, doch unergründlich sind Wege und Fahrpläne des Herrn! Und denket
daran: Im ICE Jehova gibt es nur 144.000 Plätze!“
Für religiös indifferente Reisende hingegen ist das Programm „Bahn frei für
die Liebe“ gedacht: Ab einer Verspätung von 120 Minuten wird das
Kopulationsverbot in Großraumabteilen nach 21 Uhr aufgehoben (Ausnahme:
Ruhe- und Familienabteile).
## Neu im Portfolio: Drogeriewagen
Auch für etwas umfangreichere Verzögerungen im Betriebsablauf sorgt die
Bahn vor: Jeder ICE enthält künftig einen Drogeriewagen mit dem
dringendsten Reisebedarf (Rasierapparate, Damenhygiene, Brautmoden,
Umstandskleidung, Kinderwagen, Scheidungsanwälte). Und im „Bahnville-Wagen“
sollen sogar dörfliche Strukturen entstehen, sodass man den
jahrtausendealten Rhythmus von Aussaat und Ernte im Wortsinn und im
ländlichen Nahverkehr „erfahren“ kann.
Das eigentliche Endziel der Bahn ist jedoch, die Mobilität hinter sich zu
lassen. Schon der Aufenthalt in stehenden Zügen sei doch ein Privileg, sagt
Schmitz – und eine moderne Wohnform: „Die Bahncard 100 ist schließlich
weitaus günstiger als eine Einzimmerwohnung in München.“
Und was ist mit den übrigen Unannehmlichkeiten? Die Bordbistros, oft Quelle
der Frustration, werden in Kantinen nur für Zugpersonal umgewandelt. Die
Fahrgäste sind gebeten, die Essenszeiten des Personals und den dafür
erforderlichen Halt auf freier Strecke zu respektieren. Zwischen 12 und 14
Uhr sowie zwischen Würzburg und Hannover sollten Fahrgäste von Nachfragen
absehen. Ein erholtes und zufriedenes Personal kommt ihnen schließlich
zugute.
## Big Brother Bahn
Außerdem dürfen die Insassen der Großraumwagen vor jedem Zwischenhalt einen
Fahrgast rauswählen (etwa nervige Kleinkinder oder telefonierende Manager).
Und wenn es an meinem Platz zu warm oder zu kalt ist? Schmitz strahlt: „Mit
hoher Wahrscheinlichkeit ist es vier Wagen weiter umgekehrt. Nutzen Sie
Ihre Reise zur aktiven Gesundheitspflege und wechseln Sie regelmäßig
zwischen unseren Kneippwagen.“
Aber was, wenn Züge doch einmal an ihrem Ziel ankommen? Schmitz wirkt etwas
ratlos, er muss ein wenig in seinen Unterlagen kramen. „Dann halten wir das
Ankunftsgleis geheim. Das Spiel heißt ‚Blind Gate‘: Wer holt mich heute ab?
Und wo? Und geh ich mit? Bei der Ankunft eines Zugs gibt es auch eine
kleine Zeremonie am Gleis. Denn Ankommen ist wie neu geboren werden.“
Als wir Bobby Schmitz vier Tage später verlassen, steht er noch immer auf
Gleis 8 und hält Ausschau nach dem Zug in Richtung München. Ein tapferer
Mann.
11 Feb 2019
## AUTOREN
Oliver Domzalski
## TAGS
Deutsche Bahn
Wagenreihung
Dienstleistungen
Die Wahrheit
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