# taz.de -- Kolumne Kapitalozän: Die Angst vorm Kapitalismus | |
> Niemand ist so ich-zentriert und kurzsichtig wie ein Baby. Doch wie | |
> schützt man als Eltern seine Kinder vor dem Konsumterror? | |
Bild: Bunt, will haben | |
Babys sind genauso egoistisch, wie sich viele Ökonomen den Menschen an sich | |
vorstellen. Mein Baby zum Beispiel ist das wunderschönste und, wenn es | |
etwas will, das ichzentrierteste Wesen der Welt. Sitzt es in seinem | |
Babystuhl, ballt es die Fäustchen und brüllt und läuft dabei rot an wie ein | |
kleines Teufelchen. Bis es ein Stück Banane bekommt, oder was es eben will. | |
Da gibt es zum Beispiel diesen lilafarbenen Becher, zeitweise der hellste | |
Stern im Universum des Babys. Sitzt es auf dem Boden und sieht ihn, dann | |
krabbelt es unverrichteter Dinge patschend los. Rennt mit dem Kopf in den | |
vorbeitrottenden Hund oder ein Menschenbein, wälzt sich wie ein | |
Leopard-II-Panzer über am Boden liegende Elternberge, Rucksackhügel, | |
Einkaufstütenschluchten, stürzt sich Bodenschwellen hinab, robbt über | |
glühende Kohlen, durchwatet Seen voller hungriger Krokodile und das alles | |
nur für einen Becher. Der drei Meter vor ihm liegt. | |
Was mag da in seinem Kopf vorgehen? Momentan versteht es so viele Worte wie | |
der Hund und hält sein Spiegelbild für einen Spielgefährten. Aber es kann | |
schon den Becher in den nächst größeren stapeln. | |
Unser Wirtschaftssystem basiert nun auf der Idee rational handelnder | |
Individuen. Aber so kurzsichtig, wie der Mensch in der Theorie skizziert | |
ist, kann er nur als Baby sein. Die sind radikal rational, wenn sie den | |
eigenen Vorteil sehen. Ständig versuchen sie, sich kopfüber vom Bett zu | |
stürzen, und brüllen Eltern in Unterzuckerung, Übernächtigung und | |
Untervögelung. Sie nehmen auf nichts und niemanden Rücksicht, nicht mal auf | |
die eigene Unversehrtheit. | |
## Man soll alles haben wollen müssen | |
Der Kapitalismus sieht den Mensch also als Baby. Als Vater allerdings fühle | |
ich mich in den wirtschaftswissenschaftlichen Standardtheorien nicht | |
angemessen repräsentiert. Von Müttern ganz zu schweigen. Dieses ganze | |
Engelhafte, diesen Hang zum Brutpflegen, Nestbauen, Helfen – so sind sie | |
halt auch, die Menschen. Kommunistische Herdentiere, die sich gern | |
gegenseitig lausen. Unser Wirtschaftssystem basiert dagegen auf der | |
Annahme, der Mensch bleibe in seiner Entwicklung irgendwo zwischen | |
Wellensittich und Cockerspaniel hängen. Als würden wir ewig nichts als | |
lilafarbene Becher haben wollen. | |
Das Ergebnis ist ein Leben, in dem man ständig Zeug haben wollen müssen | |
soll. Ich rede oft mit erfahrenen Eltern darüber, wie man das Baby vor | |
Konsumterror schützt. Dann grinsen sie mich an wie der Kriegsveteran den | |
Rekruten und sagen: Dir hat man doch als Kind auch die Lutscher und | |
Actionfiguren im Supermarkt in Kinderaugenhöhe gehängt, damit du an Mamas | |
Hose zerrst und haben willst. Heute bist du ein großer, kritischer, | |
aufgeklärter Typ. | |
Wenn ich den Kleinen auf den Arm nehme und darüber nachdenke, dann lässt er | |
den Becher fallen, zeigt nach oben, in den Himmel, und ruft: „Da!“ Und ich | |
auch: „Da!“ Wir rufen zusammen „Da!“ in den Himmel und alles ist gut. | |
25 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arzt | |
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