Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Widewidewitt und Widerruf
> Die neuste Mode unserer Zeit ist, etwas offiziell zu verkünden, um es
> dann so bald wie möglich ins komplette Gegenteil zu verkehren
Bild: Der Urvater des Widerrufs in voller Action: Elvis lebt
Noch schauen alle gebannt auf die Fußball-Weltmeisterschaft, doch im
Windschatten des Großereignisses hat sich längst ein neuer Trendsport
global etabliert: das Wettwiderrufen. Es gilt, irgendetwas extrem
Offizielles zu verkünden, um dann so bald wie möglich das komplette
Gegenteil zu sagen, gern auch mit originellen Begründungen.
Bisher unangefochtener Spitzenreiter der neuen Disziplin ist der
amerikanische Präsident Donald Trump mit einigen besonders akrobatischen
Volten: Treffen mit Kim Jong Un angesetzt, dann mit wüstem Brandbrief
wieder abgesagt, dann doch gemacht, dann den Koreaner zum besten Freund
erklärt. Oder Abschlusserklärung des G7-Gipfels erst abgesegnet, dann
Stunden später per Twitter widerrufen, weil ausgerechnet der putzige
kanadische Premier ein durchtriebener Finsterling sei. Oder Kinder an der
Südgrenze per Anordnung von ihren Eltern getrennt, dann die Trennung per
Anordnung beendet und dazu gesagt: „Ich konnte den Anblick und das Gefühl
von getrennten Familien nicht ausstehen. Die Leute haben sich nicht darum
gekümmert, und wir kümmern uns.“ Chapeau!
Aber andere sind dem Champion aller Klassen dicht auf den Fersen. Die
Ukraine lässt verlautbaren, der kremlkritische Journalist Babtschenko sei
von Moskau ermordet worden, schon am nächsten Tag präsentiert sie dem
staunenden Publikum die überraschende Wendung: doch nicht ermordet, sondern
mopsfidel – die Ermordung war nur ein brillanter Plan, um zu verhindern,
dass er tatsächlich ermordet wird, denn ein für einen Tag ermordet
gemeldeter Journalist kann anschließend ruhig und entspannt bis ans Ende
seiner Tage in Sicherheit leben.
## Kampfstoff für alle
Da mussten die Briten sich geschlagen geben. Ihre Erklärung, für den
Anschlag mit Nowitschok auf Doppelagent Skripal könne nur Russland
verantwortlich sein, weil es als einziges Land diesen Kampfstoff habe, um
dann ein paar Tage später nachzuschieben, dass noch ein paar unbedeutende
Staaten wie Deutschland, die USA und die Ukraine auch ihre Bestände hätten,
wirkte etwas lau.
Und Deutschland? Jämmerlich! Vom Ansatz zwar nicht schlecht war die
Offensive von Martin Schulz, erst Verhandlungen über eine Große Koalition
auszuschließen, um sie dann nochmals auszuschließen, um sie dann direkt
auszuhandeln. Nahtlos daran schloss sich sein persönlicher Sprint an, erst
jedes Ministeramt auszuschließen, es dann doch zu nehmen, um es dann sofort
wieder abzusagen, aber letztlich konnte er damit nicht landen, schon weil
Tage später niemand mehr wusste, wer dieser Martin Schulz doch noch gleich
war.
Auch das unausgegorene Hin und Her zwischen Innenminister Seehofer und
Kanzlerin Merkel, ob es nun Zurückweisungen von Flüchtlingen an den Grenzen
gibt oder nicht und ob die ach so christlichen Schwesterparteien sich nun
scheiden lassen oder doch, wirkt vergleichsweise unambitioniert im
internationalen Vergleich.
## Widmung auf dem Trikot
Aber damit ist nun Schluss. Für ein echtes Aha-Erlebnis wird kurz vor dem
entscheidenden Fußball-WM-Spiel gegen Schweden am Samstag die Mitteilung
des DFB sorgen, dass das Treffen von Özil und Gündoğan mit dem türkischen
Präsidenten Erdoğan in Wirklichkeit gar nicht dazu gedient habe, dem
Despoten ihre ergebene Aufwartung zu machen, im Gegenteil: Die berühmte
Widmung auf dem Trikot sei in Wirklichkeit mit einem Nowitschok-Stift
aufgebracht worden, um konstruktive Kritik an Erdoğan zu üben. Leider habe
man es versehentlich eine Nummer zu klein gewählt, sodass der Plan
scheiterte. Die deutschen Fans reagieren umgehend auf diese spektakuläre
Wendung, um ihrerseits zu verkünden, dass sie Özil nun selbstverständlich
nicht mehr wegen des Erdoğan-Dates auspfeifen werden, sondern nur noch,
weil er halt nun mal Türke sei.
Doch auch die Bundesregierung hat noch einiges zu bieten. Die
Wiederauferstehung des russischen Journalisten Babtschenko war zweifellos
ein schöner Achtungserfolg, aber Deutschland geht klar in Führung, als
Angela Merkel verkündet, dass auch Helmut Kohl noch lebt. Das
Staatsbegräbnis im vergangenen Jahr war nur ein Ablenkungsmanöver, um den
Kanzler der Einheit unauffällig von seiner nervtötenden Witwe loszueisen.
Man habe ihn mit diesem Schiff auf dem Rhein nach Frankreich in Sicherheit
gebracht, wo er nun die Vorzüge der französischen Küche genieße, weil er
pfälzischen Saumagen in Wirklichkeit sowieso nie leiden konnte.
Gleichzeitig widerrufen Angela Merkel und Horst Seehofer, dass sie einen
Dissens in der Flüchtlingsfrage haben. In Wirklichkeit, so die beiden Hand
in Hand vor der Bundespressekonferenz, seien sie schon seit geraumer Zeit
privat heimlich ein Paar. Sie überlegen nun, gemeinsam ein Flüchtlingskind
zu adoptieren. „Aber nur, wenn es christlich und schön blond ist“, wie
Horst Seehofer listig nachschiebt.
## Wahre Gesinnung von Nationalisten
Da will auch die Opposition nicht hintenanstehen. Umgehend überrascht
Alexander Gauland die Öffentlichkeit mit der Mitteilung, seine Partei habe
in Wirklichkeit überhaupt nichts gegen Muslime und Ausländer. Es sei nur
darum gegangen, einmal aufzuzeigen, dass rechts-nationalistische Positionen
von der CSU bis tief in die Linkspartei hinein verwurzelt sind. Man habe
das Projekt AfD deshalb entwickelt, um die wahre Gesinnung von
Nationalisten wie Markus Söder und Sahra Wagenknecht offenzulegen, aber
leider sei die Sache dann irgendwie aus dem Ruder gelaufen.
Woraufhin der BND widerruft, Antifa-Aktivisten hätten das Attentat vom
Potsdamer Badesee auf Alexander Gauland verübt; vielmehr habe es sich beim
Kleiderklau um eine Geheimdienstoperation gehandelt, um auf diese Weise
echte Attentate auf Gauland zu verhindern, denn nach dem erschütternden
Badehosen-Foto sei man sich sicher gewesen, dass niemand es noch wagen
würde, dem alten Mann Böses anzutun.
Allerhand! Doch am Ende behält der Titelverteidiger die Nase vorn.
Plötzlich widerruft Trump die Darstellung, er habe sich mit Kim Jong Un in
Singapur getroffen. Vielmehr habe er einfach endlich mal wieder zwei Tage
in Ruhe Golf spielen wollen, weshalb er Alec Baldwin nach Singapur
geschickt habe. Die getroffenen Vereinbarungen würden aber natürlich
trotzdem gelten. Mindestens bis nächste Woche.
22 Jun 2018
## AUTOREN
Heiko Werning
## TAGS
Schwerpunkt Angela Merkel
Donald Trump
Lifestyle
Internet
Service
Sergej Skripal
Unterkunft
Alexander Gauland
Ausländer
Schwerpunkt AfD
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Chill dein Lifestyle!
Die Brut auf der Couch findet, dass Hausaufgaben machen heute nicht nötig
ist. Und Erdbeeren? Sind für sie Nüsse.
Die Wahrheit: Techniker-Tracking
Es hätte alles so schön enden können. Doch dann bog der rote Punkt auf dem
Computer falsch ab… Ging der Techniker jetzt erstmal Biertrinken?
Die Wahrheit: Ab jetzt wird zurückbewertet!
Wäre es nicht ein Service für Kolumnenschreiber, zu wissen, ob die Leser es
überhaupt wert sind, ausgesuchte Spitzenpointen zu schreiben?
Nach Anschlag auf Ex-Doppelagent Skripal: Britin stirbt nach Gift-Kontakt
Eine Britin stirbt, nachdem sie mit dem Nervengift Nowitschok in Berührung
gekommen ist. Die Ermittler prüfen nun eine Verbindung zum Fall Skripal.
Die Wahrheit: Das schwimmende Brechzimmer
Die unwirtlichsten Unterkünfte der Welt (1). Die neue Sommerserie. Heute:
Auf einem übel schaukelnden Kutter unterwegs zu den Galapagosinseln.
Die Wahrheit: Der Mann mit dem Vogel
Ein letztes Wort zum Vogelschiss. Was ist neben den zwölf Nazi-Jahren mit
dem Rest der über tausendjährigen deutschen Geschichte?
Die Wahrheit: Am Verteilerkasten
Kleine Solidaritätsadressen in Zeiten ungehemmter Ausländerhetze und
sozialer Spaltung können sich schnell ins Gegenteil verkehren …
Heiko Werning: Gehört Katjes zu Deutschland?
In einem Werbespot mampft eine Hidschab tragende Frau Süßes – und die
Rechte dreht durch. Der Untergang des süßen Abendlandes steht bevor!
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.