# taz.de -- Meritokratie in der Nationalmannschaft: Kein Triumph der Tüchtigen… | |
> Dass bei Bundestrainer Löw nicht jeder Spieler die gleiche Chance hat, | |
> ist schon manchem übel aufgestoßen. Der Erfolg gab ihm recht – bislang. | |
Bild: Leroy Sané – da war doch was? | |
Seit der Weltmeisterschaft in Brasilien führt Jogi Löw eine sphärische | |
Existenz. Er ist Weltmeistertrainer. Man spricht in so einem Fall von einer | |
„lebenden Legende“. Von dieser Legende weiß man, dass er Espressi wie | |
andere Menschen Wasser trinkt und dass er in Trainingseinheiten | |
selbstvergessen über den Platz schreitet, als messe er mit jedem Schritt | |
seine eigene Bedeutung aus. | |
Der Jogi ist zu einem Denkmal seiner selbst geworden, was seiner inneren | |
Ruhe sicherlich enorm förderlich ist. Aber ist der Jogi auch noch ein | |
Anführer, ein Menschenfänger und Projekttrainer? Daran hegen viele [1][nach | |
der 0:1-Auftaktniederlage] gegen die Mexikaner Zweifel. Zu Recht. Denn die | |
geschlossene Gesellschaft, die sich Nationalmannschaft nennt, offenbart | |
Zeichen eines Niedergangs, wie er sich in Systemen, die extrem auf Leistung | |
und Effizienz getrimmt sind, immer wieder vollzieht. | |
Im Grunde funktionierte Jogis Unternehmung wie eine Meritokratie im | |
Kleinformat, also wie eine Herrschaftsform, in der die Amtsträger nach wie | |
auch immer gearteten Verdiensten bestimmt werden. Er suchte die Besten und | |
Leistungsstärksten heraus, ließ sie von den Besten betreuen, schuf eine | |
Wohlfühlatmosphäre im Kokon der Nationalmannschaft – und musste eigentlich | |
nur warten, bis seine hochbegabten Schützlinge reif genug sind, um sich den | |
Titel zu schnappen. Der Triumph der Tüchtigen schien unausweichlich in | |
einer Atmosphäre gewissenhafter Förderung und Ausbildung. | |
Der Meritokrat Löw schien auch ein Utopist zu sein, ermöglichte er doch die | |
Gründung einer „Internationalmannschaft“ (2010) und die allmähliche | |
Hispanisierung des deutschen Rumpelfußballs. Löw erwies sich in seinem | |
Reformwillen, angestoßen von [2][Jürgen Klinsmann], als kluger Pragmatiker | |
und Globalist. Er nahm sich, was er brauchte, um sein Labor der Besten mit | |
jenen Leuten zu besetzen, die sich auch außerhalb des Fußballs Meriten | |
erworben hatten. | |
Als sein Team bei der Europameisterschaft 2008 Zeichen der Erschlaffung | |
erkennen ließ, zog er den internen Konkurrenzkampf noch einmal an. Jogi | |
zeigte sich hellwach. Jede Position wurde doppelt und gleichwertig besetzt. | |
Selbst die Führungsspieler sollten sich ihrer Sache nicht mehr sicher sein. | |
## Die Gruppe schottet sich ab | |
Löw ahnte wohl, dass sich im Laufe der Zeit Abhängigkeiten zu seinen | |
Spielern entwickeln würden, eine Nähe, die nicht gut ist für den Erfolg. | |
Loyalitätskonflikte sind aber trotz großer Wachsamkeit unvermeidlich: Die | |
Nibelungentreue zum einmal verdienten Kicker, das Festhalten am | |
Althergebrachten oder das Wegschieben von Kritik unterhöhlen das Prinzip | |
einer Meritokratie. Die Gruppe schottet sich mehr und mehr gegen äußere | |
Einflusse ab, behauptet ihren Machtbereich und redet sich in einer Art | |
stark, die nichts mehr mit der Realität zu tun hat. | |
Wem der Aufstieg heuer konkret verwehrt wurde, [3][ist Leroy Sané.] Hinzu | |
kommt, dass sich Führungsspieler wie Sami Khedira oder Mats Hummels nicht | |
mehr so sehr beweisen müssen wie früher. Das liegt schlichtweg daran, dass | |
Löw diesen Rubikon nicht mehr überschreiten muss; der Jogi hat das Ufer der | |
ultimativen Anerkennung längst erreicht. | |
Der Erfinder des Begriffs Meritokratie, der Engländer Michael Young, | |
schrieb vor über 50 Jahren die Satire „The Rise of Meritocracy“ („Es lebe | |
die Ungleichheit“). Und dieses Experiment, das im Jahr 2034 spielt, geht | |
geradezu dystopisch aus: Der Weg ins gelobte Land der Exzellenz mündet in | |
einer Vision Orwell’schen Ausmaßes. | |
So weit muss es mit dem Jogi, der schlimmstenfalls seinen Posten verliert, | |
natürlich nicht kommen. Es heißt, in den vergangenen Tagen sei viel | |
gesprochen und intern Kritik geübt worden. | |
Vielleicht ist Jogis leicht angetagte Meritokraten-Truppe ja immer noch | |
schlau genug, um die Lehren aus der Auftaktpleite zu ziehen. Sie haben es | |
selbst in der Hand, wie man sie dereinst nennen wird: die Weisen von | |
Watutinki. Oder die Wappler von Watutinki. | |
22 Jun 2018 | |
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## AUTOREN | |
Markus Völker | |
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