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# taz.de -- Fragen an Theresa May: Duell der Rhetorik
> Die „Prime Minister's Questions“, kurz PMQ, sind Kult. Corbyn attackiert
> May für ihr fehlendes Weißbuch zu den Brexit-Verhandlungen.
Bild: Theresa May bei den „Prime Minister's Questions“
Jeden Mittwoch um 12.30 Uhr tritt im britischen Unterhaus in London die
Premierministerin in den vollgepackten Saal und stellt sich einem
30-minütigen Trommelfeuer: „Prime Minister's Questions“, Vorbild aller
parlamentarischen Fragestunden weltweit. PMQ, seit 1989 im Fernsehen
übertragen, ist Kult. Wer sich davon Inhalte erhofft, ist meistens
enttäuscht. Wer Theater und Inszenierungen bevorzugt, ist meistens
begeistert. Und darin zeigt sich die wahre Kunst der Live-Befragung, mit
der sich gravitasverliebte deutsche Politiker, die Würde mit Behäbigkeit
verwechseln, so schwertun.
PMQ ist ein rhetorisches Duell mit Wurzeln in realen Duellen. Sechs Fragen
hintereinander stellt der Oppositionsführer der Regierungschefin; sie
stehen sich direkt gegenüber, durch einen Tisch in der Breite von zwei
Florettlängen getrennt, und schnauzen sich gegenseitig an. Wer den anderen
in die Enge treibt, hat in den Abendnachrichten und den Zeitungen des
nächsten Tages die besseren Schlagzeilen. Es sind nur wenige Minuten, aber
sie können über Aufstieg oder Untergang von Politikern entscheiden.
An diesem Mittwoch versucht Jeremy Corbyn, gegen Theresa May zu punkten,
indem er wissen will, wann die britische Regierung denn ihr geplantes
Weißbuch zu ihren Brexit-Verhandlungszielen zu veröffentlichen gedenkt:
noch vor einer Schlüsseldebatte zum Brexit am 12. Juni? Vor dem EU-Gipfel
Ende Juni? May sagt, das Weißbuch werde kommen, aber sie nennt keinen
Zeitpunkt. Sie kann nicht zugeben, dass sie ihr Kabinett nicht auf Linie
hat. Stattdessen siegt sie, wie so oft, durch Beharrlichkeit im Ausweichen.
Corbyn ist nicht beharrlich genug: Er verändert seine Frage ständig, er
sticht in zuviele verschiedene Punkte statt immer in den einen.
Erst spät nutzt der Labour-Chef das aktuelle Aufregerthema in der
britischen Öffentlichkeit, von dem Kommentatoren erwartet hatten, er werde
es zum Hauptthema machen: das groteske Chaos in den neuen Sommerfahrplänen
der Eisenbahn. Mays Brexit-Strategie sei so ähnlich, lästert der
Labour-Chef. Labour habe gar keine, giftet die Premierministerin zurück.
Das ist vertrautes Terrain.
## Komplexe Choreographie
Seinen Unterhaltungswert bezieht so etwas zum einen aus der Begleitmusik:
die gespielte laute Begeisterung beziehungsweise Empörung der
Hinterbänkler, und der Kabarettstil des Parlamentspräsidenten John Bercow,
der in langgezogenen Tönen abwechselnd „Jeremy Corbyyyyyyyyn“ und „Prime
Ministerrrrr“ das Wort erteilt und die ganze Show ohne Atempause in einem
enormen Tempo durchzieht.
Zum anderen weiß die Premierministerin nie vorher, womit sie konfrontiert
wird. Sie muss also auf alles vorbereitet sein. Das gilt auch für die
Fragen der Hinterbänkler aller Fraktionen, die auf den Oppositionsführer
folgen.
Die Choreographie der Fragestunde ist komplex, aber eigentlich einfach: Wer
eine Frage hat, muss sie zwei Tage vorher einreichen, der
Parlamentspräsident wählt nach dem Zufallsprinzip 15 Fragesteller aus,
einschließlich des Oppositionsführers. Die eingereichte Frage beinhaltet
das Recht auf eine Zusatzfrage. Deswegen ist die eingerichte Frage immer
dieselbe: die nach der Tagesordnung des Premierministers – sie wird
deswegen nur einmal ganz am Anfang gestellt, und ansonsten kommen die
Zusatzfragen, die nicht vorher eingereicht werden.
An diesem Mittwoch wechseln also die Themen innerhalb von Sekunden von
Zugverspätungen zu hyperaktiven Kindern, von Asylsuchenden aus Georgien zu
Supermärkten in Schottland. Die Premierministerin muss zu allem etwas
sagen, egal ob die Frage „Können Sie das Brexit-Datum bestätigen?“ lautet
oder „Stimmen Sie zu, dass die Rolle von Tieren in bewaffneten Konflikten
etwas ist, was das gesamte Commonwealth um uns vereinen sollte?“. Beides
beantwortet May übrigens mit Ja.
## Die wahre Kunst
Wichtig ist: Die Parlamentarier sprechen sich nie direkt an. Sie befragen
und beantworten sich in der dritten Person. Jemand aus der eigenen Fraktion
ist ein „Right Honourable Friend“, jemand vom politischen Gegenüber ein
„Right Honourable Gentleman/Lady“. Eigentlicher Adressat ist immer der
Parlamentspräsident selbst, dem damit die zentrale Rolle des Puppenspielers
zukommt.
Bis 1997 fand PMQ zweimal die Woche statt, dienstags und donnerstags für
jeweils 15 Minuten. Der damals neugewählte Premierminister Tony Blair
machte daraus 30 Minuten einmal die Woche. Er nennt die Fragestunde in
seinen Memoiren die „aufreibendste, verwirrendste, angespannteste,
aufwühlendste, terrorisierende, entmutigendste Erfahrung meines Lebens als
Premierminister“.
Dabei dachten alle, Blair sei in solchen Dingen der Meister. Denn die wahre
Kunst der Antwort ist nicht, etwas Interessantes zu sagen. Die Kunst
besteht darin, schnell und flexibel zu denken und zu parieren, zu beweisen,
dass man auf jedes denkbare Thema perfekt vorbereitet ist und notfalls
gekonnt zurückschlagen kann. Und die Kunst des Fragestellers besteht darin,
das Bonmot zu finden, das in die Geschichte eingeht.
Der junge Oppositionschef Tony Blair sagte über Premierminister John Major:
„Ich führe meine Partei. Er folgt seiner.“ Zwanzig Jahre später sagte der
junge Oppositionschef David Cameron über Premierminister Tony Blair: „Sie
waren einst die Zukunft.“ Heute sind beide Geschichte.
6 Jun 2018
## AUTOREN
Dominic Johnson
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