| # taz.de -- Fragestunde mit der Bundeskanzlerin: Gummiwand statt Revolution | |
| > Angela Merkel lässt Hasstiraden der AfD ins Leere laufen und meistert | |
| > kritische Fragen mit Sachkenntnis und Ausweichrhetorik. | |
| Bild: Merkel schaut sich den Frontalangriff der AfD betont gelassen an – und … | |
| Berlin taz | Angela Merkel kommt um 12.29 Uhr in den Bundestag, im roten | |
| Blazer. Vielleicht soll die ziemlich knallige Farbe eine Botschaft sein. | |
| Merkel versteckt sich nicht, sie hat keine Angst, im Parlament gegrillt zu | |
| werden. Diesen Eindruck konnte man zuvor durchaus haben – die | |
| Unionsfraktion hat jahrelang hartnäckig verhindert, dass die Kanzlerin dem | |
| Parlament Rede und Antwort stehen muss. Was anderswo normal ist, erscheint | |
| in der wenig streitfreudigen bundesdeutschen Demokratie als Experiment, gar | |
| als Wagnis. | |
| So ist dieser Mittwoch für den Parlamentsbetrieb etwas Besonderes. Der | |
| Bundestag ist zu oft nur gut geölte Abstimmungsmaschine, die der Regierung | |
| Mehrheiten verschafft und Vorlagen der Ministerialbürokratie durchwinkt. | |
| Das Spontane, Unvorhergesehene hat kaum Platz. Die öffentlich | |
| wahrgenommenen Debatten finden längst in Talkshows statt. Deren Attraktion | |
| ist die andere Seite der Ödnis des reibungslos choreographierten | |
| Parlamentsbetriebes. Die Kanzlerin im Kreuzfeuer – das soll, hofft Carsten | |
| Schneider, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD, den Bundestag wieder | |
| zum „Zentrum der politischen Öffentlichkeit“ machen. [1][Was anderswo | |
| normal ist], erscheint hier als halbe Revolution. | |
| Merkel steht eine Stunde lang an ihrem Platz in der Regierungsbank und | |
| antwortet. Erst 20 Minuten lang zu einem Thema, das die Regierung vorgibt. | |
| Erst zum G7-Gipfel in Kanada, danach quer Beet. Warum es so wenig Frauen in | |
| der Unionsfraktion gibt, zu viel Plastik in den Meeren, zu wenig bezahlbare | |
| Wohnungen. Die Linkspolitikern Caren Lay [2][hält das aktuelle taz-Cover | |
| vor ihren Bauch] und ruft: „Was tun Sie gegen explodierende Mieten?“ | |
| Merkel verweist auf den Koalitionsvertrag, ehrgeizige Wohnungsprogramme und | |
| versichert, dass die Regierung „ihren Beitrag leistet“. Die Kanzlerin macht | |
| – egal ob es um Zölle, Klimaschutz oder die Lage der Forschung in | |
| Deutschland geht – was sie am besten kann: erst mal Fachkenntnis zeigen. | |
| Sie fordert „reziproke Handelsbeziehungen“ oder schildert die Subventionen | |
| „für außeruniversitäre Forschung“. Die typische Merkel-Performance beste… | |
| aus der Kombination von Detailwissen, wolkigen Formulierungen und | |
| Banalitäten. Japan, so ist zu erfahren, schätzt Merkel, als „konstruktiven | |
| Partner ein“. Nun ja. | |
| Aber: Es ist ein Schlagabtausch mit (fast) gleichen Waffen. Eine Minute | |
| Frage, eine Minute Antwort. Als Merkel mal dreißig Sekunden überzieht, | |
| protestiert die AfD prompt. Doch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, | |
| souveräner Schiedsrichter des Duells, erwidert kühl, der AfD-Frager habe | |
| auch überzogen und ergänzt knurrig: „Erst mal vor der eigenen Tür kehren.�… | |
| ## Kühl, ausweichend, sattelfest | |
| Um 13 Uhr fallen Sonnenstrahlen grell auf die AfD-Fraktion. Und ein | |
| AfD-Mann rattert im Stakkato die schrille AfD-Propaganda herunter. Merkel | |
| hat demnach die Türen für Migrantenfluten, Sozialbetrüger, Mörder, | |
| Vergewaltiger, islamistische Terroristen, Messerstecher geöffnet. „Wann | |
| treten Sie zurück?“, so die Frage. | |
| Merkel schaut sich diesen Frontalangriff betont gelassen an und gibt die | |
| Raute-Kanzlerin. Sie verweist auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs | |
| vom Juli 2017, demzufolge in der Flüchtlingskrise alles mit rechten Dingen | |
| zuging. Die Kanzlerin dankt den Bamf-Mitarbeitern und erwähnt, wie | |
| schwierig die Situation war. Sie lässt die hasstriefende AfD-Attacke ins | |
| Leere laufen wie ein Torero einen wilden Stier. | |
| Kühl, ausweichend, sattelfest in Sachfragen, so präsentiert Merkel sich. | |
| Richtig heftig wird sie nur einmal als es – was sonst – um das Bamf geht. | |
| Sie beteuert, dass sie sich nach dem Herbst 2015 „unzählige Male“ mit dem | |
| damaligen Bamf-Chef Frank-Jürgen Weise traf und ihn immer wieder | |
| aufforderte, alle Missstände zu melden. Das ist nicht die besonnene | |
| Rauten-Merkel – für ihre Verhältnisse ist das ein Gefühlsausbruch. Damit | |
| suggeriert sie, dass sie sich nach dem Herbst 2015 selbst kümmerte und | |
| nicht bloß Verantwortung nach unten delegierte. | |
| „Das waren dreißig Fragen, dreißig Antworten“, sagt Schäuble nach einer | |
| guten Stunde. Und: „So schade es ist, jetzt ist es vorbei.“ Merkel wirkt, | |
| als hätte sie eine nicht allzu komplizierte Prüfung erwartungsgemäß | |
| bestanden. „Ich komme ja wieder“, sagt sie heiter. | |
| Dann allerdings wäre es gut, wenn das Format noch etwas beweglicher, freier | |
| würde. Denn diese mit zu vielen Erwartungen überfrachtete Fragestunde ist | |
| mit den gegenwärtigen Regeln ein Spiel gegen eine Gummiwand. Grüne, FDP und | |
| Linkspartei sind sich einig, dass das Format vitaler werden muss. Vor allem | |
| sollen Nachfragen möglich sein, um echte Waffengleichheit zu haben. | |
| Die grüne Fraktionsgeschäftsführerin Britta Hasselmann findet, dass Merkel | |
| „wie erwartet“ war und fordert, dass alle Themen vom Parlament bestimmt | |
| werden. FDP-Fraktionschef Christian Lindner steht nach dem Spektakel vor | |
| dem Plenarsaal und sagt: „Es hat keinen sonderlichen Erkenntnisgewinn | |
| gegeben.“ | |
| Das sieht Jan Korte, Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion, | |
| etwas anders. „Das ist nicht Merkels Format. Sie narkotisiert sonst die | |
| Leute mit ihren Reden. Das funktioniert hier nicht.“ Nun gelte es, das | |
| Parlament weiter zu öffnen – etwa mit öffentlichen Übertragungen von | |
| Ausschusssitzungen. Mal sehen, ob die Union das wieder jahrelang blockiert. | |
| 6 Jun 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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