# taz.de -- Die Wahrheit: Ganoven im Arbeitskampf | |
> Es ist die jüngste Gewerkschaftsgründung Deutschlands: Die „IG | |
> Metalldiebe“ will mehr Ausbildung und Vorsorge. Besuch bei einer Branche | |
> im Abseits. | |
Kalkar am Niederrhein. Freitagnacht, 2.35 Uhr. Ein Kauz ruft, sonst | |
herrscht Stille. Dann durchschneidet ein hohes, metallisches Geräusch die | |
Nacht, kurz darauf ertönt ein lautes Fluchen: „Mensch, ich habe doch | |
gesagt: Nimm das WD-40 mit! Das Scheißdingen ist total festgerostet!“ Aus | |
dem Dunkel kommt es gereizt zurück: „Da kannst du doch nicht mit der | |
Wapu-Zange dran! Nimm verdammt noch mal einen Maulschlüssel! Du machst das | |
doch nicht zum ersten Mal!“ | |
Die Bilanz des nächtlichen Vorfalls: ein gestohlenes Symbol für die | |
Rheinschifffahrt in Form einer Schiffsschraube, satte 250 Kilo schwer; ein | |
Bandscheibenvorfall; drei gebrochene Finger und eine Gewerkschaftsgründung. | |
„Es war höchste Zeit, dass wir uns organisieren. Es gibt so viele wichtige | |
Themen: Arbeitsschutz, Altersvorsorge, aber auch die Sorge vor der | |
Digitalisierung!“ Hartmut Stiebler, 62 Jahre alt, aber noch schlank und | |
drahtig, ist Metalldieb und Initiator der jüngsten Gewerkschaftsgründung in | |
Deutschland. Die „IG Metalldiebe“ will sich endlich um die Belange der | |
Kupfer- und Kabel-, Schrott- und Wertstoffräuber kümmern. | |
Als Schlüsselerlebnis für die Gründung der weltweit in ihrem Sektor | |
einzigartigen Industriegewerkschaft nennt Stiebler den jüngsten Coup aus | |
der Szene – den Diebstahl der Schiffsschraube in Kalkar. „So eine Arbeit | |
können nur hochqualifizierte Fachkräfte erledigen. Wer hat schon einen | |
145-Millimeter-Maulschlüssel herumliegen, um so ein Monster abzumontieren? | |
Jörn musste den noch in der gleichen Nacht aus dem Fachhandel klauen!“ Doch | |
dann, beim anschließenden Abtransport, habe sich erneut gezeigt, wie | |
dramatisch die fehlende gesundheitliche Absicherung seiner Branche sei. | |
Beide beteiligten Kollegen seien bis auf Weiteres arbeitsunfähig. | |
„Wohlgemerkt ohne Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall!“, wie | |
IG-Metalldiebe-Vorsitzender Stiebler betont. „Jörn hat sich bei der | |
Schrauberei drei Finger gebrochen. Und Mahmut liegt jetzt mit einem | |
Bandscheibenvorfall flach. Sein zweiter dieses Jahr!“ | |
Hartmut Stiebler trug sich schon lange mit dem Gedanken, die Branchenkräfte | |
zu organisieren. Der Schiffsschrauben-Diebstahl war der finale Auslöser. | |
Die IG Metalldiebe fordert jetzt einen Fonds, um ihre Mitglieder bei | |
Arbeitsunfällen sozial abzusichern. Während der Arbeitsunfähigkeit sollen | |
sie so ein tägliches Krankengeld erhalten. Finanziert werden soll der Fonds | |
dadurch, dass sämtliche Schrotthändler deutschlandweit einen monatlichen | |
Beitrag einzahlen. Sie seien schließlich, wie Hartmut Stiebler sagt, | |
„unsere Arbeitgeber“. | |
## Arbeitskreis Digitalisierung als Weiterbildungsmaßnahme | |
Doch neben dem handfesten Geschäft dürfe man die Zukunft nicht ignorieren. | |
Deshalb habe man einen Arbeitskreis Digitalisierung gegründet. „Auch unser | |
Berufsstand kann nur durch Weiterbildung Schritt halten.“ Wenn | |
beispielsweise immer mehr hochwertige Datenkabel in den Meeren verlegt | |
würden, dann müssten Wertstoffganoven konsequenterweise im Tiefseetauchen | |
ausgebildet werden. | |
Doch neben diesen Zukunftsfragen geht es der IG Metalldiebe vor allem um | |
bessere Arbeitsbedingungen im Jetzt. Donnerstagnachmittag. Ein Bahngelände, | |
irgendwo in der Hauptstadt. Zwei Gestalten machen sich an den Gleisen zu | |
schaffen. Erst kommt kreischend eine Flex zum Einsatz, dann hebeln die | |
Männer mit einer Eisenstange eine Schiene hoch. Einer der beiden versucht, | |
sie mit Mühen abzutransportieren, da schreit gellend eine Frauenstimme: | |
„Stopp!“ Doch es ist nicht etwa die Polizei, sondern Rückentrainerin Ilka | |
di Mauro. | |
## Kostengünstige Präventivkurse statt teurer Umschulung | |
„Die machen alles aus dem Rücken! Kein Wunder, dass bei denen mit 35 die | |
ersten Wirbel platt sind! Die können dann nur noch Leichtmetalle klauen!“, | |
schimpft die ausgebildete Physiotherapeutin. Deshalb seien die | |
Präventivkurse, die die IG Metalldiebe seit Kurzem anbietet, so wichtig. | |
„Eine Umschulung kostet mehr!“, sagt di Mauro. Die resolute 45-jährige | |
Berlinerin zeigt den beiden Männern nun, wie eine Bahnschiene richtig | |
hochzustemmen ist. Immer schön aus den Knien, mit geradem Rücken. | |
Auch die Qualitätssicherung treibt die IG Metalldiebe um. Noch ist | |
Metalldieb kein anerkannter Ausbildungsberuf, das soll sich nach dem Willen | |
Stieblers möglichst bald ändern. Allerdings hätten die Handwerkskammern | |
bislang eher zurückhaltend auf den Vorstoß seiner Gewerkschaft reagiert. | |
Stiebler ist jedoch kein Mann, der sich schnell entmutigen lässt. Solange | |
die Verhandlungen mit den zuständigen Kammern anhielten, müsse in | |
Eigenregie nachgeschult werden. | |
Zurück zum Bahngelände. Ein junger Mann, ein Bär von einem Kerl, tapert mit | |
glasigen Augen über das weitläufige Areal. Zögerlich schaut er sich nach | |
allen Seiten um. Er fühlt sich unbeobachtet. Er stolpert über einen kleinen | |
Haufen mit Kupferrohren. Nimmt zwei davon in die Hand, lässt sie aber | |
wieder fallen. Das Scheppern lässt ihn kurz zusammenzucken. Dann wendet er | |
sich wieder seiner eigentlichen Beute zu, die er mühsam bis hierhin hinter | |
sich her geschleppt hat: die Viktoria, im Berliner Volksmund auch | |
„Goldelse“ genannt. | |
Normalerweise ist die Statue ein Berliner Wahrzeichen und steht geflügelt | |
und vergoldet auf der Siegessäule am Großen Stern im Tiergarten. Und wenn | |
man Jonas, so heißt der Metalldieb-Azubi mit der Goldelse im Schlepptau, | |
fragen würde, wie zur Hölle er die 8,30 Meter hohe und 35 Tonnen schwere | |
Bronzefigur von dem Monument herunterbekommen hat, würde er es vermutlich | |
selbst nicht wissen. | |
„Sofort aufhören! Falsch! Ganz falsch!“, tönt plötzlich eine Stimme | |
herüber. Jonas runzelt verständnislos die Stirn. „Aber das ist doch viel | |
mehr Metall als die paar Rohre!“, ruft er. Gewerkschaftsboss Stiebler | |
persönlich kommt hinter einem Verschlag hervor. Er ist sauer. „Erstens habe | |
ich dir schon ein paar Mal erklärt, dass Kupfer einen höheren Kilopreis als | |
Bronze erzielt! Da musst du eben mal einen einfachen Dreisatz rechnen. Und | |
zweitens: Du kannst doch nicht einfach die Goldelse klauen! Wo bleibt denn | |
da das Geschichtsbewusstsein?“ | |
Der junge Mann ist verwirrt. Er murmelt etwas von „Dafür haick keene Zeit“, | |
während der IG-Metalldiebe-Chef tief durchatmet. „Und vor der Arbeit wird | |
nicht gesoffen! Verdammt!“ Er weiß, dass er beim Nachwuchs oft bei null | |
anfangen muss. „Was heute von den Schulen abgeht, ist, um es mal deutlich | |
zu sagen, qualitativ unter aller Sau.“ Dann ruft er der Nachwuchskraft noch | |
ein zorniges „Die Jugend von heute!“ hinterher. | |
Der Jungganove aber kehrt grummelnd um und zieht die riesige Viktoria | |
hinter sich her, um sie wieder einigermaßen wohlbehalten an ihren Platz im | |
Tiergarten zurückzubringen. | |
28 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Nico Rau | |
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