| # taz.de -- Anwalt Erdem über junge IS-Kämpfer: „Von Eltern in den Dschihad… | |
| > Mit seinem „Elternkreis gegen IS“ half der Hamburger Rechtsanwalt Mahmut | |
| > Erdem den Angehörigen junger Dschihad-Kämpfer. Jetzt warnt er vor den | |
| > Rückkehrern. | |
| Bild: Moscheen reformieren – oder schließen: der Hamburger Rechtsanwalt Mahm… | |
| taz: Herr Erdem, warum ziehen junge Menschen in den Dschihad? | |
| Mahmut Erdem: Da gibt es viele Motive. Sie suchen nach Identität. Sie | |
| fühlen sich von der Gesellschaft nicht akzeptiert. Wenn sie über Religion | |
| reden wollen, heißt es: „Geh zur Moschee. Rede da mal. Lass uns in Ruhe.“ | |
| Ihre religiösen Bedürfnisse werden nicht ernst genommen. Oft haben die | |
| Eltern nichts am Hut mit dem Islam. Dieses Vakuum füllen islamistische | |
| Rattenfänger. Die Kinder kapseln sich ab. Essen nicht mehr, was die Mutter | |
| kocht, „nicht halal genug“, verbieten ihren Müttern, sie zu berühren, | |
| lassen ihre Schwestern nicht mehr ohne Kopftuch auf die Straße. Oft brechen | |
| sie die Schule ab, niemand fängt sie auf. Dann stoßen sie im Internet auf | |
| den Dschihad. Oder in der Moschee erzählt ihnen jemand davon. Und zack, | |
| sind sie drin in diesen Kreisen. | |
| So schnell geht das? | |
| Ja. So haben es mir die Eltern erzählt, die bei mir waren. Ein muslimischer | |
| Mann zieht für seinen Glauben in den Krieg. Das ist das A und O der | |
| islamischen Vorstellung. Wenn mein Glaube von Ungläubigen bekriegt wird, | |
| muss ich meinen Glauben schützen. Auf diese Idee kommen die Jugendlichen | |
| nicht selbst. Da braucht es Einflüsterer. | |
| Wo agieren diese Einflüsterer? | |
| Meist im Dunstkreis der Moscheen. Die Moscheen haben versagt. Sie waren die | |
| Katalysatoren für die Dschihadisten heute. Sie müssen reformiert werden – | |
| oder geschlossen. | |
| Welche Moscheen meinen Sie? | |
| Fast alle. Es gibt leider ganz, ganz wenige Moscheen, die hier in | |
| Deutschland ausgebildete Imame haben. Imame, die unsere Werte schätzen und | |
| ihrer Gemeinde vermitteln. Die kommen aus der Türkei oder aus arabischen | |
| Ländern und haben erzkonservative Vorstellungen. Unsere Universitäten | |
| müssen Imame ausbilden. Wir dürfen sie nicht dem Ausland importieren! Das | |
| ist gefährlich. Da kommt ein reaktionärer Geist zu uns. | |
| Und der kommt gut an? | |
| Unter vielen muslimischen Jugendlichen herrscht eine Abneigung gegen unsere | |
| offene Gesellschaft. Die Imame reden ja nicht über Demokratie. Die sagen: | |
| „Ihr lebt in einer ungläubigen Umwelt, ihr müsst euch schützen! Ihr müsst | |
| eure Identität beschützen! Ihr müsst eure Familie schützen!“ Die | |
| Jugendlichen sehen ihre Umwelt als feindlich an. Sie denken, sie müssen | |
| ihre Familie wirklich beschützen. Den Bruder, der in der Schule | |
| Schweinefleisch essen muss. So fängt es an. | |
| Was waren das für Menschen, die in den Krieg gezogen sind? | |
| Die Fälle aus unserem Arbeitskreis für Eltern, deren Kinder in den Dschihad | |
| gezogen sind: sechs Männer, drei Frauen – zwischen 18 und 27 Jahre alt. Das | |
| waren nicht die Ungebildeten. Ausbildung, Abitur, Studium. | |
| Ist es die Religion, die die Heranwachsenden in den Krieg treibt? Oder hat | |
| das mit dem Islam nichts zu tun? | |
| Doch. Das hat mit dem Islam zu tun. Der Dschihad ist ein Teil des Islam. | |
| Das darf man nicht beschönigen. | |
| Wie reagierten Eltern, deren Kinder in den Dschihad zogen? | |
| Ein Vater hat sich erhängt, als die Tochter ging. Er war ein | |
| fortschrittlicher Mann, ein Demokrat, der glaubte, seine Tochter auch so | |
| erzogen zu haben. In seinem Abschiedsbrief stand: „Ich habe doch alles | |
| gemacht. Wie konnte so etwas passieren?“ Die Schwester eines kurdischen | |
| Jungen, der auszog, ist beinah verrückt geworden. Die Gespräche mit den | |
| Angehörigen waren dramatisch. Das konnte man gar nicht aushalten. Es kam | |
| der Punkt, wo ich sagte: Ein Psychologe muss her. Man muss aber auch sagen: | |
| Es gab Eltern, wenn auch nicht bei uns im Arbeitskreis, die haben ihre | |
| Kinder in den Dschihad geschickt. | |
| Eltern haben ihre Söhne und Töchter zum IS geschickt? | |
| Ja. Es gibt im Islam die Vorstellung, dass ein Märtyrer das Paradies auch | |
| für seine Familie öffnet. Und diese Dschihadisten bereiten mir die größten | |
| Sorgen. Sie wurden nie erkennungsdienstlich erfasst, niemand hat sie | |
| vermisst gemeldet. Ich schätze, dass das rund 1.000 Menschen waren aus | |
| Deutschland. Die fliegen unter dem Radar. Wer weiß, wie viele von denen | |
| zurückgekommen sind? | |
| Wie konnten Sie den Eltern im Arbeitskreis helfen? | |
| Wir boten ihnen ein Gesprächsforum. Wie war das bei deiner Tochter? Wo ist | |
| dein Sohn? Da waren Eltern da, deren Kinder auf dem Absprung waren. Die | |
| wollten wissen: Was können wir tun? Natürlich wollten die Eltern, dass wir | |
| ihre Kinder zurückholen. Diese Hilfe konnten wir nicht bieten. | |
| War es Ihr Ziel, Ausreisen zu verhindern? | |
| Das Primärziel war es, die Eltern zu stärken. Erst dann kam das Ziel, die | |
| Heranwachsenden hierzubehalten. Die waren sehr gefestigt, man darf sie sich | |
| nicht labil vorstellen. Ich habe versucht, mit Jugendlichen zu reden, die | |
| kurz vor dem Absprung standen. Aber die waren wie hinter einer Mauer. Die | |
| haben sich angehört, was wir zu sagen hatten. Dann haben sie den Kontakt | |
| abgebrochen. Wir waren Kafir für sie, Ungläubige. | |
| Können Eltern verhindern, dass ihre Kinder zum IS gehen? | |
| Sie dürfen nicht gleich zur Polizei gehen. Die agiert repressiv, zieht | |
| sofort den Pass ein. Die jungen Menschen kapseln sich noch mehr ab, es | |
| bestärkt ihren Beschluss zu gehen. Außerdem zerstören die Eltern Vertrauen, | |
| wenn sie hinter dem Rücken ihrer Kinder zur Polizei gehen. Alle neun | |
| Familien waren zuerst bei der Polizei. Sie sollen sich lieber an | |
| Beratungsstellen wenden, die gibt es in jedem Bundesland. Sie müssen | |
| versuchen, sich zu stärken, Argumente suchen. Sozialpädagogische Betreuung | |
| holen. Sich religiöse Kenntnisse aneignen. Auch Eltern haben so diffuse | |
| Vorstellungen von Islam und Dschihad. | |
| Was ist mit den neun Heranwachsenden geschehen, die damals ausgezogen sind? | |
| Sie sind tot. Nur eine Frau hat überlebt, sie ist 23 Jahre alt. Sie hat | |
| drei Kinder von drei Kämpfern und sitzt in einem Camp in Syrien. Einer, | |
| Mutlu aus dem Altonaer Kreis, hat sich in Falludscha in die Luft gesprengt. | |
| Alfons wurde von einem Scharfschützen erschossen. Das haben Salafisten, die | |
| in Hamburg geblieben sind, den Eltern der Toten erzählt, an der Tür: „Euer | |
| Sohn ist Schaid, ein Märtyrer. Freut euch, er ist jetzt im Paradies.“ | |
| Was hat das bei den Familien ausgelöst? | |
| Die Familien waren zerstört. Zu wissen, dass der eigene Sohn mordet. Und | |
| dann zu erfahren, dass er tot ist. | |
| Haben Sie noch Kontakt zu den Eltern? | |
| Drei Familien treffe ich noch. Der Arbeitskreis hat sich Ende 2016 | |
| aufgelöst, nachdem fast täglich Todesnachrichten kamen. | |
| Der IS liegt in Syrien und im Irak am Boden. Ziehen immer noch junge | |
| Menschen in den Dschihad? | |
| Ja, aber nicht mehr so massiv wie 2014 bis 2016. Der IS hat an | |
| Anziehungskraft verloren. Syrien ist nicht mehr „in“ bei den muslimischen | |
| Jugendlichen. Sie träumen jetzt von einem anderen Land: Libyen. Sie sind | |
| der Meinung, da existiere ein großes Kalifat. | |
| Kennen Sie Rückkehrer? | |
| Ja, die kamen ziemlich desillusioniert zurück. Aber an die komme ich nicht | |
| ran. Von denen, die zurückkehren, sagen viele: „Wir hatten keine Waffe in | |
| den Händen. Wir waren Koch, Sanitäter, Buchhalter.“ Das ist gelogen. Keiner | |
| kann mir erzählen, dass er kein Blut an den Händen hat. Die haben alle | |
| getötet. Trotzdem dürfen wir diese Menschen nicht aufgeben. Sie müssen | |
| bestraft werden, klar. Wir müssen ihnen aber auch sagen: „Wir sperren dich | |
| weg, ja, aber wir werden dir ein entsprechendes Umfeld schaffen.“ Das | |
| heißt: In Deutschland ausgebildete Imame müssen die Gefangenen besuchen. | |
| Sie müssen sich weiterbilden können. Und sie müssen von salafistischen | |
| Kreisen ferngehalten werden. | |
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| 13 Apr 2018 | |
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