# taz.de -- Bürgermeisterwahl in Frankfurt/Oder: Aufbruch Ost | |
> Ein links-grüner 33-Jähriger wurde Oberbürgermeister von Frankfurt an der | |
> Oder. Was man daraus für den Umgang mit der AfD lernen kann. | |
Bild: Großer Leerstand, wenig Konkurrenz um Wohnungen: Der „Frankfurter Weg�… | |
Frankfurt/Oder taz | Eine Stunde nach Schließung der Wahllokale geht René | |
Wilke über den Marktplatz, neben ihm Kameras, Mikrofone, | |
Zeitungsreporter, sein Sprecher, sein Wahlkreismitarbeiter, Linksparteichef | |
Bernd Riexinger, hinter ihm eine Traube von dreißig Freunden, Fans, | |
Schaulustigen, und bleibt stehen, drei Meter vor dem Rathaus von Frankfurt | |
an der Oder. | |
„Wir sind zu viele“, sagt er und dreht sich um. „Das sieht aus wie ein | |
Siegesmarsch. Ich will kein Signal, dass wir hier mit Massen ins Rathaus | |
einfallen. Können ein paar von euch ins Café zurückgehen?“ Dann geht er | |
durch die Plexiglastüren ins Rathaus, die Kameraleute filmen von vorn, | |
zwanzig Leute hinter ihm her, nur ein paar kehren zurück ins Eiscafé | |
Bellini, wo am Sonntagabend die Wahlparty der Linken und Grünen läuft. | |
Vor einer Woche hat Frankfurt einen neuen Bürgermeister gewählt: René | |
Wilke, aufgestellt von Linkspartei und Grünen. Mit 33 ist er der jüngste | |
Oberbürgermeister Brandenburgs, und er ist der einzige der Linkspartei im | |
Land seit 1990. Der junge Wilke, oder René, wie ihn hier alle nennen, um | |
die beiden Kandidaten besser zu unterscheiden, besiegte den amtierenden | |
Bürgermeister Martin Wilke, den alten Wilke, Martin, einen parteilosen | |
Konservativ-Liberalen, in der Stichwahl. 62,5 Prozent. | |
Das alles passierte im Bundestagswahlkreis von Alexander Gauland, wo die | |
AfD bei der letzten Bundestagswahl 22 Prozent holte und schon 2014 bei der | |
Landtagswahl 19 Prozent. Während in diesen Wochen in Cottbus, anderthalb | |
Autostunden entfernt, Nazis und Rechte gegen Flüchtlinge auf die Straße | |
gehen, spielte das Thema im Bürgermeisterwahlkampf in Frankfurt kaum eine | |
Rolle. Der AfD-Kandidat, Wilko Möller, kam nicht in die Stichwahl. | |
Was ist da passiert? | |
Frankfurt, 80 Kilometer östlich von Berlin an der Grenze zu Polen, ist nett | |
und melancholisch. Frankfurt war mal Hansestadt, Kleiststadt, eine wichtige | |
Stadt in der DDR. Man findet alles davon: einen goldenen Hering am Rathaus, | |
die größte norddeutsche Backsteingotikkirche, das Kleistmuseum und die | |
breite Magistrale, auf der man gut demonstrieren, aber schlecht einkaufen | |
kann. Je weiter man nach Norden kommt, desto mehr Geschäfte stehen leer, | |
und dann steht da eine Karl-Marx-Büste. In Frankfurt ist viel Luft zwischen | |
den Gebäuden, als hätte man die Innenstadt auseinandergezogen wie | |
Pizzateig. | |
## Zum ersten Mal wurde Frankfurt wieder mehr | |
Die Stadt lieferte lange Zeit verlässlich Meldungen aus dem Bereich | |
„Achtung, wilder Osten“. Als nach der Wende Nazis einen Bus aus der | |
polnischen Partnerstadt Gorzow überfielen und der Bürgermeister sagte, man | |
könne ja nicht für jeden einzelnen Polen auf Besuch eine Hundertschaft | |
bereithalten. Oder als zehn Jahre später ein Jordanier nach dem | |
Silvesterfeiern in Berlin die Züge verwechselte und statt am Main an der | |
Oder landete, wo er noch am Bahnhof verprügelt wurde. | |
Aus dieser Zeit bekam Frankfurt einen Ruf weg: eine Nazihochburg, wo | |
Berliner maximal am Wochenende zum Polenmarkt hinfahren. | |
2016 aber geschah etwas Erstaunliches. Zum ersten Mal wurde die Stadt mehr | |
und nicht weniger. Nach 25 Jahren, in denen mehr gestorben als geboren, | |
mehr weggegangen als angekommen, mehr abgerissen als aufgebaut wurde, stand | |
im Oktober 2016 ein positiver Saldo von 53 Einwohnern. Es waren Flüchtlinge | |
in die Stadt gekommen. | |
Schon 2014 hatten sich die Spitzen von Verwaltung, Rathaus und kommunaler | |
Wohnungsunternehmen zusammengesetzt und beschlossen, Flüchtlinge in der | |
Stadt dezentral unterzubringen. In der Stadtverordnetenversammlung stimmten | |
alle Fraktionen für dieses Konzept, sogar die AfD, die damals noch dem | |
wirtschaftsliberalen Lucke-Flügel zuneigte. | |
Das Konzept wurde bald als „Frankfurter Weg“ bekannt. Mangel als Stärke: | |
großer Leerstand, wenig Konkurrenz um Wohnungen. Die Stadt und ein | |
Wohnungsunternehmen schlossen eine Kooperationsvereinbarung. Flüchtlinge | |
konnten so Mietverträge unterzeichnen, anstatt Wohnungen zugeteilt zu | |
bekommen. Bekamen sie einen Aufenthaltsstatus, konnten sie in den Wohnungen | |
bleiben. | |
Seitdem werden Hauswarte in interkultureller Kompetenz geschult. Eine | |
Infohotline wurde eingerichtet. Ein Mieterfonds. Es werden | |
Nachbarschaftsfeste gefeiert, Gartenprojekte gestartet und | |
Nachbarschaftslotsen ausgebildet, anerkannte Flüchtlinge, die | |
Neuankommenden mit der deutschen Bürokratie weiterhelfen sollten. | |
Flüchtlinge bekommen Nachbarschaftsschulungen. Quoten sollen die soziale | |
Mischung bewahren. | |
## Die Stadt hat sich geändert | |
1.300 Flüchtlinge leben gerade in Frankfurt. Das klingt nach wenig, ist | |
aber prozentual genau so viel wie in Cottbus, wo sich viele mit den | |
Flüchtlingen überfordert fühlen. Wäre jetzt Landtagswahl, bekäme die AfD | |
dort 29 Prozent. | |
Beim Spitzenduell der fünf Bürgermeisterkandidaten in der | |
Viadrina-Universität sagte Wilko Möller von der AfD, er wolle keine | |
„Cottbusser Verhältnisse“ in Frankfurt. Der Bürgermeister Martin Wilke | |
antwortete: „Frankfurt hat sich sehr solidarisch verhalten. Wir haben keine | |
großen Auffälligkeiten.“ Und: „Dass Frankfurt international ist, betrachte | |
ich als Bereicherung.“ Es gab großen Applaus. | |
Die letzten zwei Jahre haben gezeigt, wie sich eine Stadt ändern kann, wenn | |
man sich einer großen Aufgabe stellt. Und wie sich manche Leute ändern. | |
Neben einer verlassenen Grundschule, deren Uhr auf zehn nach zwölf stehen | |
geblieben ist, kramt Heidi Päch den Schlüssel zur alten Turnhalle heraus. | |
Als sie ihn Schloss stecken möchte, geht die Tür auf. „Schon wieder nicht | |
abgeschlossen!“, flucht sie. „Ich bring die um!“ | |
Im Oktober 2015 musste Heidi Päch, eine 60-Jährige mit dicker Brille, | |
goldenen Ohrringen und einem Hang zu klaren Worten, sechzig Sozialstunden | |
ableisten: „Hatte Scheiße gebaut.“ Päch ging zu einem | |
Nachbarschaftshilfeverein, doch dort hatte man genug Helfer und sagte ihr: | |
„Geh doch mal zum Brückenplatz, zu Kurzwelly.“ | |
Michael Kurzwelly, ein aus Bonn zugezogener Künstler, der in der | |
Vergangenheit bereits Projekte zur deutsch-polnischen Versöhnung | |
organisiert und nun für sein neues Projekt eine verlassene Turnhalle | |
angemietet hatte. „Der arbeitet mit Flüchtlingen.“ Flüchtlinge? „Na, Pr… | |
Mahlzeit!“, sagte Päch. | |
## Kommunikation mit „Händen und Beenen“ | |
Sie war nicht gut auf Flüchtlinge zu sprechen. Päch fühlte sich | |
zurückgestellt. Warum rennen die alle mit teuren Smartphones rum? Warum | |
fahren die dicke Autos? Warum schmeißt diese Familie gespendete Möbel nach | |
einem halben Jahr auf den Sperrmüll? Und warum, bitte schön, saniert man | |
zunächst den Block, in dem Flüchtlinge einquartiert werden sollen und erst | |
dann ihren eigenen, weshalb sie seit eineinhalb Jahre in einer | |
Übergangswohnung lebt? In Heidi Pächs Denken hatte sich im | |
Flüchtlingsherbst 2015 die Argumentationsformel der Wutbürger eingenistet: | |
Die kriegen alles, wir nichts. | |
Päch redet sich ein bisschen in Rage, wenn sie daran zurückdenkt, sie | |
kneift ihre Augen zusammen, sie gestikuliert mit ihrer rechten Hand, deren | |
Nägel viermal rot lackiert sind und einmal türkisblau. | |
Am nächsten Tag jedenfalls ging Heidi Päch zu Kurzwelly. Der fragte: „Wann | |
hast du Zeit?“ „Immer“, sagte sie. „Ich bin seit dem 17. Januar 1990 | |
arbeitslos.“ | |
Und dann lächelt Päch, als sie weitererzählt. Zum ersten Mal betrat sie die | |
alte Turnhalle, es war kalt, doch im Nebenraum war ein Café eingerichtet, | |
junge Syrer saßen im Kreis und stellten sich höflich vor. „Hab selber | |
gestaunt“, sagt Päch, reißt die Augen auf und hält sich den Unglauben mit | |
beiden Händen vom Leib. „Die waren das ganze Gegenteil von dem, was man | |
gehört hat.“ | |
Päch setzt sich zu den Flüchtlingen und kramt ein bisschen Englisch aus der | |
Schulzeit raus, ein bisschen Russisch, für die tschetschenischen Frauen, | |
ein bisschen Deutsch, „Hände und Beene“. Sie betreut Kinder. Sie lernt | |
Charlotte aus Kamerun kennen, „mein Charlöttchen“. Sie wird von syrischen | |
Familien zum Essen eingeladen und lernt, dass man den Teller nie leer | |
machen darf, sonst gibt es immer Nachschlag. Heidi Päch leistet alle | |
Sozialstunden in einem Monat ab. Und bleibt. Im Dezember basteln sie 1.500 | |
Weihnachtssterne. | |
## Das Gefühl, gehört zu werden | |
„Irgendwie war das schön“, sagt sie. „Ich habe gemerkt: Ich werde | |
gebraucht.“ Bis heute hat Päch den Schlüssel zur Turnhalle, schaut nach dem | |
Rechten, räumt Kurzwelly und den Flüchtlingen hinterher und macht den | |
Heizstrahler an, damit es der 80-jährige Anwalt, der zweimal in der Woche | |
Rechtsberatung macht, warm hat in der kalten Halle. | |
Heidi Päch hat sich aufgerappelt. 1989 starben ihr Vater und ihr Bruder, | |
innerhalb von einer Woche. Sie begann zu trinken. Dann fiel die Mauer. | |
Päch, ausgebildete Textilreinigungsfacharbeiterin, fand nie mehr einen Job. | |
Ihre vier Kinder zogen weg, die Enkel mit ihnen, alle in den Westen, sie | |
wollen keinen Kontakt. Drei Entzüge hat sie hinter sich, am 17. Juli 2000 | |
hörte sie auf zu trinken. Das fällt ihr schwer, aber jeder Tag ohne ist ein | |
gewonnener Tag. | |
Mit Parteien hat Heidi Päch abgeschlossen, sie mag den Konkurrenzkampf dort | |
nicht. Zu Bundes- oder Landtagswahlen verschenkt sie ihre Stimme an | |
Kleinparteien, zuletzt an die Tierschutzpartei, früher auch an die NPD, | |
aber das macht sie seit der Arbeit mit Flüchtlingen nicht mehr. Und die | |
AfD? „Ach, geh mir weg mit denen!“ | |
Die Leute wollen, dass die Bedeutung zurückkommt, sagt Heidi Päch, und | |
redet über sich und auch über Frankfurt. Das ist das Wichtigste, sagt sie. | |
Das Gefühl, gebraucht zu werden. Das Gefühl, gehört zu werden. | |
Frankfurt hatte mal fast 90.000 Einwohner, ein Halbleiterwerk, war | |
Bezirkshauptstadt in der DDR. Nach der Wende verlor die Stadt ein Drittel | |
ihrer Menschen. Plattenbauten, die die Leute mit ihren eigenen Händen | |
gebaut hatten, wurden abgerissen. Zweimal gab es große Hoffnung. Einmal | |
sollte eine Chipfabrik Arbeitsplätze schaffen, doch das wurde nichts, dann | |
wurden Hallen für die Solarbranche gebaut, irgendjemand erfand den Slogan | |
„Über Frankfurt geht die Sonne auf“, doch das hielt nicht lange. | |
## Wohnzimmergespräche mit René Wilke | |
Drei Tage vor der Stichwahl. René Wilke sitzt mit Ingo, Beate, Heinz und | |
Axel vor einer beigebraunen Schrankwand bei Kaffee und Plätzchen. Es ist | |
das zweiundvierzigste und letzte Wohnzimmergespräch, das der Kandidat | |
organisiert hat. Unterstützer luden ihre Nachbarn zu Kaffee und Kuchen ein, | |
der Kandidat kam dazu. Mal saßen da acht Leute, mal zwanzig, heute sind es | |
vier. | |
Neben Wilke sitzt ein Mann in rotem Pulli und Blaumann. Ingo Köcher | |
arbeitet als Klempner und macht Bestandsarbeiten. Er kommt viel rum. „Was | |
ich alles höre, wenn ich bei den Leuten bin“, sagt er. Köcher: „Wir haben | |
hier in der Stadt die Leute aus den Blocks geholt und die abgerissen. Und | |
dafür Flüchtlinge rein.“ Er zögert. „Darf ich das sagen?“ | |
Wilke: „Bitte.“ | |
Köcher: „Es gibt Ausländer, die verursachen mächtigen Schaden. Wir hatten | |
einen Kunden, da gab es Wasserschaden. Wir haben ewig versucht, die Quelle | |
zu finden. Und dann klingeln wir oben, und so ’ne Frau in bunten Tüchern | |
macht auf. Stellt sich raus: Die hat immer den ganzen Eimer Wasser auf’n | |
Boden geschüttet, und dann geputzt. Na, wer bezahlt’n den Schaden?“ | |
Wilke: „Da gibt es Pauschalen. Die bezahlt das Land.“ | |
Köcher: „Nee.“ | |
Wilke: „Doch.“ | |
Köcher: „Der Staat bin icke.“ | |
Wilke lacht: „Haben Sie recht. Haushälterisch meinte ich das.“ Dann holt | |
Wilke aus: Die Stadt hat seit der Wende 30.000 Einwohner verloren, | |
natürlich muss man da abreißen. Leider wurden auch die falschen Blöcke | |
abgerissen, die mit Fahrstühlen, die jetzt für alte Leute attraktiv werden. | |
In einigen Quartieren wird es deswegen knapp mit barrierefreiem Wohnraum. | |
Und dann kommen Flüchtlinge. | |
Aber: Es ist gut, Geflüchtete dezentral in Wohnungen unterzubringen. Und es | |
gibt Quoten dafür. Bei ihm im Mietshaus gibt es sechs Parteien. Er, zwei | |
Flüchtlingsfamilien, eine ältere Dame, ein deutsch-polnisches Pärchen, eine | |
Studenten-WG. Die Kinder helfen der Oma beim Tragen der Einkäufe. | |
Beate, Ingos Frau, sagt: „Ja, das sind die positiven Fälle. Gibt aber auch | |
negative Fälle.“ | |
## Dahinter liegende Bedürfnisse | |
Ja, es gibt Probleme, sagt Wilke. Traumatisierte Kinder mit hohem | |
Betreuungsbedarf. Probleme in Kitas. Dem muss der Staat Rechnung tragen. | |
Aber es ist keine Alternative, Geflüchtete in die Vorstadt abzuschieben, | |
dann bilden sich Parallelgesellschaften. Das Land Brandenburg hat neue | |
Stellen für die Betreuung geschaffen. Wir müssen aufpassen, bevor es | |
ernster wird. „Und wir müssen die Sorgen ernst nehmen.“ Es sind ja keine | |
Nazis, die sich beschweren. Zum Abschied lässt Wilke sein Wahlprogramm und | |
rote Äpfel da. | |
Wilke hätte viele Möglichkeiten gehabt: Er hätte den Leuten nach dem Mund | |
reden können. Er hätte Wut auf die da oben schüren können, auf den | |
Bürgermeister, auf das Land, das zu wenig Mittel bereit stellt, auf den | |
Bund, der die Kommunen allein lässt. Er hätte den Leuten erzählen können, | |
dass ja auch Deutsche Probleme machen oder Straftaten begehen oder dass das | |
doch alles viel zu pauschal ist. | |
Wenn ihm Wut begegnet oder Rassismus, sagt Wilke später, versucht er, ein | |
dahinter liegendes Bedürfnis zu spüren. Meist, sagt er, geht es gar nicht | |
um Flüchtlinge. In diesem Fall: Wohnraum ist knapp. Was tut die Stadt | |
dagegen? Und: Was tut die Stadt für Integration? Er sagt dann: „Hier, das | |
ist meine Position. Bei der Integration können auch Dinge schiefgehen. Aber | |
ich versuche, die Sorge zu nehmen, dass es ausufert.“ | |
Wilke sagt: „Man kann nicht Leuten immer mehr abverlangen an einem Ort, wo | |
es nicht leicht ist, und gleichzeitig nicht bereit sein, offen auf sie | |
zuzugehen und sie mitzunehmen in politische Entscheidungen.“ | |
René Wilke spricht das alles in einem sanften Hochdeutsch mit einem Hauch | |
Brandenburgerisch, das merkt man, wenn er „ebend“ sagt statt eben oder | |
„Ratt“ statt Rad – seine Sprache jedenfalls ist anschlussfähig in Richtu… | |
Rotary-Club und Plattenbauviertel. Wilke ist 33, er hat die DDR nur noch | |
frühkindlich miterlebt, dann Kulturwissenschaften an der Viadrina studiert | |
und eine Ausbildung zum Kaufmann und Mediator gemacht. Er ist gemeinsamer | |
Kandidat von Linken und Grünen, im Land Brandenburg ist das selten. Er | |
verkörpert einen neuen Typ Linke, jenseits von Bratwurst und | |
Prinz-Heinrich-Mütze. | |
In den Kommunen geht es um politische Kultur auf kleinstem Raum. Wenn man | |
Politiker hier wählt, muss man mit ihnen leben, sie sind nicht weit weg in | |
Berlin oder Potsdam, man begegnet ihnen auf der Straße. Wenn hier über | |
Politik geredet wird, dann meist konkret und nicht abstrakt. Hier geht es | |
um Nachbarn, die zu viel Wasser benutzen, wenn über Flüchtlingspolitik | |
diskutiert wird, und um Rentenerhöhungen von ein paar Euro im Monat, wenn | |
von Gerechtigkeit die Rede ist. Die ganz großen Themen werden hier kleiner, | |
zumal in Wohnzimmern. Meistens bringt das Leute eher näher zusammen als | |
weiter auseinander. | |
## Das Rathaus hat Sanierungsbedarf | |
Vier Tage vor der Stichwahl empfängt der amtierende Oberbürgermeister in | |
seinem Büro. Im Rathaus blättert Putz von den Wänden, es gibt gekachelten | |
Boden, römisch-sozialistische Säulen, Holzgeländer und Hallen mit | |
Spitzbögen. Am Empfang liegt eine Broschüre aus, sie beginnt mit dem Satz: | |
„Das Frankfurter Rathaus hat einen enormen Sanierungsbedarf und große | |
funktionale Mängel.“ Ein ehrlicher Ort in einer verschuldeten Stadt. | |
Der Bürgermeister, Martin Wilke, 60, der alte Wilke also, ist auf | |
Wahlplakaten mit Handy vor der Industrie- und Handelskammer zu sehen. Will | |
sagen: Dieser Mann versteht die Wirtschaft. Martin Wilke, studierter | |
Ingenieur, leitete mal die Fördergesellschaft, die einst die Solarfirmen | |
nach Frankfurt geholt hatte. | |
„Also“, sagt der Bürgermeister und hebt an zu einem zehnminütigen Monolog. | |
Er spricht in breitem Brandenburgerisch, zupackend, sein Gesicht spricht | |
mit. Seine Frisur sieht ein bisschen aus wie eine Mischung aus der von | |
Werner Lorant und Jogi Löw. | |
„Die Frage ist doch: Wie vollzieht sich gesellschaftliche Entwicklung?“ Da | |
gibt es zwei Strömungen. Die eine sagt: Wir müssen uns alle zusammensetzen | |
und schauen, was wir alle wollen. Oder man schafft eine vernünftige | |
wirtschaftliche Basis. Martin Wilke lässt wenig Zweifel daran, wofür sein | |
Konkurrent steht und was er bevorzugt. „Erst kommt Tiefbau, dann kommt | |
Hochbau“, sagt er. Und: „Die Welt ist kein Streichelzoo.“ | |
Nach der Pleite der Solarindustrie brachen die Gewerbesteuereinnahmen in | |
Frankfurt ein: Von 35 Millionen im Jahr auf 8 Millionen. Martin Wilke | |
bemühte sich, andere Unternehmen nach Frankfurt zu holen. Das gelang, Stück | |
für Stück. Die Gewerbesteuereinnahmen liegen jetzt wieder bei 15 Millionen. | |
Das Abschneiden der AfD erklärt der Bürgermeister so: Die Leute sind | |
verunsichert. Sie haben einiges erlebt. Die Unternehmen sind weg. Die | |
Jugend wandert ab. Die alten Leute müssen ihre Enkel in Nürnberg oder | |
Hamburg besuchen. Und dann taucht die Flüchtlingsthematik auf. Das Rezept | |
dagegen: „Wir brauchen wirtschaftliche Entwicklung.“ Als die Solarenergie | |
da war, gab es eine ganz andere Stimmung, erzählt Martin Wilke: „Es geht | |
aufwärts. Das muss man vermitteln. Aber den Aufwärtstrend kann man nicht | |
herbeireden. Da muss man was tun. Das ist mühselig.“ | |
## Neue Art von Stadtpolitik | |
Die Arbeitslosigkeit in Frankfurt liegt bei 9 Prozent, die Kinderarmut bei | |
30 Prozent. Die Schulden und die nötigen Investitionen belaufen sich auf | |
210 Millionen Euro. Die Stadt hat Probleme mit der Haushaltsführung, seit | |
2010 gibt es keine Jahresabschlüsse. Viel Spielraum hat ein neuer | |
Bürgermeister also nicht. Wie geht Aufschwung, wie geht Hoffnung und das | |
mit möglichst wenig Geld? | |
René Wilke hat seinen Wahlkampf unter ein Schlagwort gestellt: | |
„Kulturwandel“. Er möchte eine neue Art von Stadtpolitik machen. Sein | |
Wahlprogramm erarbeitete Wilke zusammen mit 180 Bürgern aus allen Teilen | |
der Stadt. Er nannte es „Zukunftswerkstatt“. Er setzt auf | |
Bürgerbeteiligung: „Vieles, was sich Menschen so ausdenken, kostet gar kein | |
Geld. Viele sind bereit, selber mit anzupacken.“ Viele hätten ihm bei | |
Wohnzimmergesprächen gesagt: Wenn es mal einen Aufruf gäbe, gemeinsamer | |
Putztag, dann packen wir mit an. „Wenn man bürgerschaftliches Engagement | |
ernst nimmt, kann man diese Ressource aktivieren, die momentan brachliegt.“ | |
Wilke hat in diesem Wahlkampf viel von Versöhnung gesprochen. Von Gräben, | |
die er zuschütten möchte. Gräben zwischen Opfern und Tätern in der | |
ehemaligen Bezirksleitungsstadt, wo die SED-Bezirksleitung ihren Sitz | |
hatte. Gräben zwischen oben und unten. „Es gibt kein Wirgefühl in der | |
Stadt“, sagt Wilke. | |
„Warum werden viele Leute nur noch von der AfD erreicht?“ | |
Wilke überlegt eine ganze Weile und zitiert dann ein Sprachbild, das von | |
Krzystof Wojciechowski stammt. Einem polnischen Soziologen, Direktor des | |
Collegium Polonicum, der Zweigstelle der Viadrina in Słubice, der | |
Schwesterstadt Frankfurts, gleich über der Oder. | |
„Gehen drei Leute spazieren. Einer ist langsamer und gerät aus der Puste | |
und fällt zurück. Die vorne halten nicht an. Er versucht sich ranzukämpfen. | |
Und man kennt das Gefühl aus seiner Kindheit, wenn man den Anschluss | |
verliert: Dann ist man bockig. Sauer auf die, die sich nicht einmal | |
umdrehen. Wojciechowski sagt: Ein Großteil derer, die Rechtspopulisten | |
wählen, sind der dritte Mann, in Polen wie in Deutschland. Ein anderer Teil | |
von denen hat Angst davor, der dritte Mann zu werden. Das ist das | |
Grundgefühl: Die da vorne, die da oben, die, denen es besser geht, denen | |
bin ich egal. Diese Leute holt die AfD ab, sagt: Ihr seid uns wichtig. Wir | |
drehen uns um, während die anderen weiterlaufen.“ | |
## Bei der AfD gab es nur einen Notfallkandidaten | |
Die Antwort der Politik, sagt René Wilke, muss sein: sich anzustrengen für | |
diese Leute. Sie ernstzunehmen. Aktiv auf sie zuzugehen. Sich zu sagen: | |
„Eure Bedürfnisse kann man nicht ignorieren.“ | |
17 Prozent bekam der Kandidat der AfD bei der Bürgermeisterwahl. Das ist | |
weniger als sonst bei Wahlen in Frankfurt und nur ein bisschen mehr als in | |
bundesweiten Umfragen. Aber Spitzenkandidat Wilko Möller war ein | |
Notfallkandidat, der erst Mitte Dezember antrat, nachdem zwei | |
Landtagsabgeordnete abgesagt hatten. Keine Parteigröße kam zum Wahlkampf | |
vorbei. Viele Frankfurter sagen hinter vorgehaltener Hand: Mit einem | |
anderen Kandidaten wäre die AfD in die Stichwahl gekommen. | |
Majeed Behzad ist Frankfurter. Der 29-Jährige kam vor drei Jahren nach | |
Frankfurt, vorher arbeitete er als Übersetzer für die Bundeswehr in | |
Afghanistan und floh vor den Taliban. Behzad kennt zwei Kategorien von | |
Rassismus: den direkten, harten, unverhohlenen. Das sind die Leute, die ihm | |
im Kaufland den Finger zeigen und „Scheiß Ausländer!“ rufen, einfach so. … | |
was in der Art passiert ungefähr einmal die Woche. | |
Und dann gibt es den Rassismus, der innen drin ist, der aber nicht | |
rauskommt. Viele dieser Leute haben Angst vor Fremden, viele geben sich | |
Mühe, sagt Behzad. Diese Leute können die Kategorien wechseln. Wenn sie | |
hören, dass in Flensburg ein Afghane ein Mädchen erstochen hat, wechseln | |
sie vielleicht in die erste Kategorie. Wenn sie Kontakt mit Flüchtlingen | |
haben, und gut miteinander auskommen, kommen sie vielleicht in eine andere | |
Kategorie oder verlernen den Rassismus. | |
Majeed Behzad, ein schmaler Mann, der seine Stirn oft in Falten legt, | |
wollte in Afghanistan stets Politiker werden. In Frankfurt ist er nun zu | |
einem inoffiziellen Ansprechpartner in Flüchtlingsfragen geworden. Er | |
bietet „Zugang in die Communitys“, wie das Sozialarbeiter in der Stadt | |
nennen. Er schlichtet, wenn es Streit gibt. Wenn auf Partys bei manchen | |
Flüchtlingen mit dem Alkohol böse Erinnerungen hochkommen, die Sehnsucht | |
nach der Familie, die Dinge, die während der Flucht geschehen sind, dann | |
nimmt er sie auf eine Zigarette mit nach draußen und gibt ihnen einen | |
positiven Gedanken mit. Er sagt ihnen: Es gibt gute Leute hier. Was sollen | |
die Deutschen von uns denken, wenn ihr euch untereinander schlagt? | |
## Die kleinen Dinge ändern | |
„Ist das eine gute Stadt?“ | |
„Ja, schon. Sie ist klein, man kann schnell jemanden treffen. Es gibt | |
Plätze in Integrationskursen. In Deutschkursen. Wohnungen sind billig.“ | |
Behzad kennt Flüchtlinge, die aus diesen Gründen von Berlin nach Frankfurt | |
gezogen sind. In Frankfurt ist es einfach, Leute zusammenzubringen, gerade | |
eben hat er einen Raum für einen Geburtstag in einem Mehrgenerationenhaus | |
organisiert. „Es ist nicht leicht, das Schlechte zu vergessen“, sagt | |
Behzad. „Aber es ist möglich, sich an das Gute zu erinnern.“ | |
Drei Tage vor der Wahl läuft Majeed Behzad über den Platz vor dem Oderturm, | |
einem der Wahrzeichen der Stadt, und guckt auf den Boden. „Wenn ich | |
Bürgermeister wäre …“, sagt er und sieht Zigarettenstummel, Kippen, | |
Mülleimer, dazwischen Zigaretten, wieder einen Mülleimer. „Ich weiß, ich | |
darf nicht mal wählen, aber wenn ich Bürgermeister von Frankfurt an der | |
Oder wäre – dann würde ich mit kleinen Dingen anfangen. Ich ruf die Medien | |
an, spread the word, wir gehen hier aufräumen und sagen den Leuten, sie | |
sollen ihre Zigarettenkippen nicht mehr neben den Mülleimer werfen.“ | |
Normalerweise, sagt Majeed Behzad, machen Bürgermeister die großen, die | |
wichtigen Sachen zuerst. „Aber wenn wir die kleinen Dinge nicht ändern | |
können, können wir auch nichts Großes ändern.“ | |
Er sagt, er wird René Wilke von seiner Idee erzählen. | |
26 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Philipp Daum | |
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