# taz.de -- Vor der Parlamentswahl: Eine linke Alternative für Italien | |
> „Potere al Popolo“ tritt bei der Wahl am Wochenende an. Die soziale | |
> Bewegung will gegen Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung vorgehen. | |
Bild: Viola Carofalo, Sprecherin von „Potere al Popolo“ | |
NEAPEL taz | Dass Neapel ein Paradies sei, allerdings von Teufeln bewohnt, | |
zieht sich seit dem 14. Jahrhundert durch die Reiseliteratur. Ein großer | |
Neapolitaner, der Philosoph Benedetto Croce, stellte dazu die schöne Maxime | |
auf, man solle an dieser Zuschreibung ruhig festhalten, sich gleichzeitig | |
selbst aber so verhalten, dass sie mit jedem Tag weniger wahr werde. | |
Verbringt man in diesen italienischen Wahlkampfzeiten ein paar Tage im | |
autonomen Zentrum „Ex OPG – Je so’ pazzo“ („Ich bin verrückt“) in … | |
Altstadtviertel Materdei, dann ist man versucht, dem alten Croce | |
nachzurufen: Jemand hat auf dich gehört! Denn mit überbordender Energie, | |
mit Ernsthaftigkeit, Schönheit, Fröhlichkeit und vielen selbst gedrehten | |
Zigaretten haben die jungen Betreiber vor drei Jahren das ehemalige | |
psychiatrische Gefängnis „Ex OPG“ (Ex Ospedale psichiatrico giudiziario) | |
besetzt und mischen von dort aus mit einer eigenen Liste den | |
[1][rassistisch vergifteten italienischen Wahlkampf] gehörig auf. | |
Das erst im vergangenen November ins Leben gerufenen linke Bündnis Potere | |
al Popolo (Alle Macht dem Volk) hat nach den letzten Umfragen eine reale | |
Chance, die Dreiprozenthürde zu nehmen und ins Parlament in Rom | |
einzuziehen. Und, wie der Name ihrer Zentrale „Je so’ pazzo“ es schon sag… | |
Sie sind ganz schön verrückt. | |
## Man nennt sich Genosse | |
So verrückt, dass sie als einzige politische Kraft sofort nach dem | |
[2][neofaschistischen Anschlag] in der [3][mittelitalienischen Stadt | |
Macerata] Anfang Februar die Opfer im Krankenhaus besuchte. | |
So verrückt, dass sie es geschafft haben, Jean-Luc Mélenchon, den Anführer | |
der linken französischen Bewegung La France insoumise, als | |
Wahlkampflokomotive nach Neapel zu lotsen. | |
Warum jetzt? Warum Neapel? Warum dieser Name? Potere al Popolo sei ein | |
italienweites Bündnis von linken Gruppen und autonomen Zentren (centri | |
sociali), sagt Viola Carofalo, die 37-jährige Sprecherin des Bündnisses, in | |
einem der eiskalten Räume des Ex OPG. Auch politische Parteien sind mit im | |
Bündnis organisiert, darunter Rifondazione Comunista. Man habe aber | |
bewusst auf die Bezeichnung „kommunistisch“ verzichtet, sagt Carofalo – | |
weil eben nicht jeder sich darin wiederfinde. Im Ex OPG sprechen sich alle | |
ganz selbstverständlich mit Genossin oder Genosse (compagna/o) an. | |
## Weiblich und prekär | |
Carofalo sagt, sie sei deswegen als Sprecherin des Bündnisses ausgewählt | |
geworden, weil sie älter sei als ihre zumeist unter Dreißigjährigen | |
compagne; weil sie eine Frau sei; und weil sie als nicht festangestellte | |
Philosophiedozentin an der Uni zum Prekariat gehöre. | |
Arbeit, wer sie hat und wer nicht, wie gearbeitet wird, für wen und unter | |
welchen Bedingungen – das ist der zentrale Programmpunkt, um den sich | |
Potere al Popolo aufgestellt hat. Kein Wunder für eine linke Bewegung in | |
einer mediterranen Metropole, in der Massenarbeitslosigkeit und prekäre | |
Beschäftigung die Existenz der meisten Menschen bestimmen. | |
Carofalo hat bei aller Entschiedenheit einen sehr angenehmen Zug: Sie weiß | |
es nicht beständig besser. Stolz sei sie nur auf eines: dass alle, die das | |
Ex OPG am Anfang besetzt hätten, noch immer dabei seien. Weil man nicht | |
streite, sondern die Konflikte diskutiere, bis alle mit einer Entscheidung | |
leben könnten. Was nicht zuletzt dadurch ermöglicht werde, dass niemand | |
Geld damit verdiene, wenn er im Zentrum und davon ausgehend Politik mache. | |
Und schließlich: „Wir sind sehr viele Frauen hier, das macht die Sache | |
erheblich einfacher.“ Gewählt hat sie, ganz in der Tradition der | |
italienischen außerparlamentarischen Linken, noch nie. | |
## Zeit für etwas Neues | |
Seine Wurzeln hat Potere al Popolo in der Basismobilisierung gegen das | |
Verfassungsreferendum im Dezember 2016, anberaumt vom damaligen | |
Ministerpräsidenten Matteo Renzi (Demokratische Partei, PD). [4][Nach der | |
Niederlage Renzis und seinem Rücktritt] konnten sich die ehemaligen | |
Bündnispartner jedoch nicht auf eine gemeinsame Liste für die anstehenden | |
Parlamentswahlen einigen. Die zumeist männlichen, von Renzi oft genug | |
erniedrigten Uraltgranden der PD gründeten schließlich eine eigene Partei | |
(Liberi e Uguali, Frei und Gleich), die Carofalo zufolge aber nur dazu | |
dient, nach der Wahl wieder mehr Einfluss in der Mutterpartei zu gewinnen. | |
„An diesem Punkt haben wir uns gesagt: Moment mal; wer nach zehn Jahren | |
Krise in Italien jetzt wählen geht, mit der unerträglichen Armut nicht nur | |
hier im Süden – der soll jetzt als ‚linkeste‘ Alternative die selben | |
Politiker haben, die zuvor alle Einschnitte ins Sozialsystem der Regierung | |
Renzi brav abgenickt haben? Wir wussten nicht, wie man so was macht, wir | |
hatten kein Geld, aber am Ende der Diskussion, am 12. November 2017 um drei | |
Uhr nachts, haben wir Potere al Popolo gegründet“, sagt Carofalo. | |
Es ist dann ein weiter, vor allem aber ein unglaublich schnell | |
zurückgelegter Weg gewesen, der von einer lokal verwurzelten Realität in | |
eine landesweite Bewegung mündete. Landesweit? Ach was – europaweit! | |
## Wahlkampfthema Migration | |
Vierundzwanzig Stunden nach dem Interview mit Viola Carofalo ist das Ex OPG | |
voll. Eine französische Delegation von La France insoumise lässt sich durch | |
die ehemalige Forensische Klinik führen, besichtigt die von Freiwilligen, | |
darunter vielen Studierenden der medizinischen Fakultät, betriebene | |
Ambulanz, die Turnhalle, das Theater. In dem findet dann auch die | |
Pressekonferenz statt. Jean-Luc Mélenchon funktioniert als Zugpferd | |
hervorragend, die Kamerateams drängeln sich. Mélenchon wirkt mit Sakko, | |
Jeans und roter Krawatte wie ein netter Sparkassendirektor. Er spricht sehr | |
gut und gut altsozialdemokratisch, aber auch die aussterbenden Bienen und | |
das gesunde Essen kommen vor. Auf die Frage nach der Unterscheidung | |
zwischen politischen und Wirtschaftsflüchtlingen sagt er, die | |
Wirtschaftsflüchtlinge seien politische Flüchtlinge, weil sie vor der | |
westlichen Politik in ihren Ländern flöhen. „Ihr würdet auch abhauen“, s… | |
er. Die einzig rationale Antwort sei die humane: Wer hierher komme, müssen | |
menschenwürdig aufgenommen werden. | |
Das kommt gut an im Ex OPG. Und am nächsten Tag in den Medien. Die Menschen | |
im Saal sind an diesem Nachmittag fast ausschließlich schwarz gekleidete | |
weiße Genossinnen und Genossen. Die Migranten, die mindestens ebenso viel | |
dazu beitragen, dass das Ex OPG voll ist, stehen derweil vor einem andern | |
Raum Schlange, dem „sportello migranti“, dem Schalter für Migranten, der | |
heute wie jeden Donnerstag kostenlose Beratung und konkrete Unterstützung | |
anbietet. | |
Die Migranten in Neapel, sagt am nächsten Tag in einer endlich warmen Sonne | |
sitzend die Arbeits- und Migrationssoziologin und gebürtige Napoletanerin | |
Giustina Orientale Caputo, sind bislang nicht im Mittelstand angekommen. | |
Sie kennt zumindest keine migrantischen Ärzte, Journalisten oder | |
Architekten, wie es sie in Norditalien durchaus gibt. Die Chinesen etwa, | |
die schon lange da seien, würden vor allem an ihr Business denken. Da es | |
kaum staatliche Betreuungseinrichtungen gebe, ließen sie ihre Kinder gegen | |
Bezahlung von alteingesessenen neapolitanischen Familien betreuen, bis sie | |
im Geschäft mithelfen könnten. | |
## Hauptsache verrückt | |
„Als die Einwanderung in den 1970er Jahren begann, hat mich mein Vater mit | |
zum Hafen genommen und mir in Dialekt melancholisch ein altes Sprichwort | |
gesagt: ‚Jetzt kommt zu unserer Armut auch noch eure Armut‘.“ Es überras… | |
sie insofern überhaupt nicht, dass Potere al Popolo in Neapel seinen | |
Ausgangspunkt genommen habe, wo das Problem Arbeit immer zentral gewesen | |
sei; wo Ende der 1970er Jahre aber auch die ersten Arbeitsloseninitiativen | |
entstanden seien. | |
Was prekäre Beschäftigung in Neapel bedeutet kann, erfährt man in der | |
Nacht, wenn die Flaschen und Rauchwaren kreisen. Celeste etwa, eine | |
Aktivistin, 27 Jahre alt, finanziert ihre politische Arbeit und ihr Studium | |
mit einem Job in einer vor allem von Touristen besuchten Pizzeria. Für die | |
Schicht von 11.30 bis 19.30 Uhr bekomme sie 30 Euro. So sei das hier, sagt | |
sie. „An Silvester habe ich 100 Euro verdient, das habe ich nicht | |
ausschlagen können – für zwölf Stunden.“ | |
„Was wir tun, wenn wir am 4. März nicht ins Parlament kommen? Dann | |
betrinken wir uns und machen weiter“, sagt Viola Carofalo. | |
Schon hat Neapels unabhängig-linker Bürgermeister, Luigi de Magistris, | |
Potere al Popolo umarmt: Er hat die unbezahlte Arbeit in der Ambulanz | |
gelobt und sich öffentlichkeitswirksam im Ex OPG mit Mélenchon getroffen. | |
De Magistris will nach den Wahlen selbst in der höchsten Liga mitspielen | |
und eine eigene Bewegung gründen, um zusammen mit Podemos und anderen | |
europäischen Linken bei der Europawahl 2019 anzutreten. Für Potere al | |
Popolo ist das alles noch kein Thema. Sie machen erst mal weiter. Und | |
bleiben hoffentlich verrückt. | |
26 Feb 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Vor-den-Parlamentswahlen/!5485555 | |
[2] /Kommentar-rassistischer-Amoklauf-Italien/!5479591 | |
[3] https://www.theguardian.com/commentisfree/2018/feb/11/fascism-is-back-in-it… | |
[4] /Kommentar-Neuwahl-in-Italien/!5473526 | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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