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# taz.de -- Was die 28-Stunden-Woche ändern könnte: Der Wert der Arbeit
> Von den guten Arbeitsverträgen der IG Metall werden viele Menschen nicht
> profitieren. Aber sie deuten ein gesamtgesellschaftliches Umdenken an.
Bild: Ist das nun Arbeit oder Freizeit?
„28-Stunden-Woche“ ist eine irreführende Formulierung. Denn auch für
Metallarbeiter hat die Woche ja 7 mal 24, also 168 Stunden. Wenn man davon
7 mal 8, also 56 Stunden fürs Schlafen abzieht, bleiben 112 Stunden übrig,
in denen man etwas tun kann. [1][Arbeiten zum Beispiel]. Oder leben. Oder
am Ende sogar beides gleichzeitig?
Die interessante Frage, die die IG-Metall [2][mit ihrem Arbeitskampf]
gestellt hat, ist nicht, wie viele Stunden wir arbeiten wollen. Sondern wie
viele Stunden wir bezahlt arbeiten müssen – und wie viele dann für andere
Tätigkeiten übrigbleiben. Ob 28 Stunden oder 38,5 Stunden bezahlte
Erwerbsarbeit zu viel oder zu wenig oder gerade richtig sind, lässt sich
nicht pauschal beantworten, denn es kommt ja darauf an, was man mit den
anderen 84 oder 77 Stunden in der Woche anfangen will. Oder muss.
Ist jemand Single und hat nur für sich selbst zu sorgen? Wohnt sie
vielleicht noch bei den Eltern, wo Mama kocht und Wäsche wäscht? Oder hat
er gar für andere zu sorgen, für Kinder, Eltern oder auch die kranke
Nachbarin? Es ist auch ein Unterschied, ob jemand Kinder hat, die gerade
ihr Studium begonnen haben und dafür einen monatlichen Zuschuss brauchen,
oder ein Kleinkind, das nicht nur Geld, sondern vor allem auch Arbeitskraft
braucht, weil es noch nicht selber kochen, putzen, wickeln und vorlesen
kann.
Obwohl: Ist es denn überhaupt Arbeit, Kindern etwas vorzulesen? Oder der
erblindeten Schwiegermutter? Wenn man die gängigen Pflegetarife zugrunde
legt, eher nicht, da gibt es nur Zeiträume für Tätigkeiten wie Zähneputzen
(4 Minuten) oder „Hilfe beim Wasserlassen inklusive Reinigung der Toilette“
(2 bis 3 Minuten). Ist das Vorlesen dann Freizeit? Und wenn ja: Wie
unterscheidet es sich von der Sorte Freizeit, die man in der Kneipe
verbringt oder im Fitness-Studio?
## Abseits aller Nebelkerzen
Wobei so ein Aufenthalt im Fitness-Studio möglicherweise dazu beiträgt, die
eigene „Employability“ zu erhöhen, also später mal pro Stunde mehr Geld
abrechnen zu können oder auch mit 70 noch weiter arbeiten zu können, wenn
andere schon ausfallen wegen der Bandscheibe oder dem Knie. Es ist also
eine Investition. Wobei man leider nie weiß, ob sie sich rentiert, ich
denke etwa an jenen Bekannten, der voriges Jahr einen Schlaganfall hatte,
trotz Fitness-Studio und Salat. Er braucht jetzt Menschen, die ihm
vorlesen.
Es ist also alles sehr kompliziert, seit der alte „Geschlechtervertrag“
nicht mehr gilt, ein Begriff, den die Politikwissenschaftlerin Carol
Pateman geprägt hat. Demnach war die Welt fein säuberlich in zwei Sphären
aufgeteilt: eine öffentliche und eine private, eine bezahlte und eine
unbezahlbare, eine marktförmige und eine uneigennützige, eine männliche und
eine weibliche. Doch jetzt geht alles drunter und drüber, und viele der
damals eingeführten Begriffe sind sinnlos geworden, sie erklären die Welt
nicht mehr. Für den Begriff der „Arbeit“ gilt das ganz besonders.
Schiebt man alle Nebelkerzen einmal beiseite, läuft es unterm Strich auf
Folgendes hinaus: Woher bekomme ich das Geld, das ich zum Leben brauche?
Und was tue ich mit meiner (Lebens-)Zeit? Am besten haben es die getroffen,
die ihre Tage gerne mit einer Tätigkeit verbringen, die gleichzeitig
lukrativ ist: Je mehr sie das tun, was sie gerne tun, umso reicher werden
sie – ein wahres Luxusleben. Wenn man solchen Leuten das Modell der
28-Stunden-Woche schmackhaft machen will, lachen sie sich natürlich kaputt.
Ebenfalls gut getroffen haben es in der Work-Life-Balance-Lotterie
diejenigen, die sich um Geld keine Sorgen machen müssen, weil sie zum
Beispiel geerbt haben oder reich geheiratet. Auch sie können ihre Zeit mit
Dingen verbringen, die sie wirklich gerne machen und für sinnvoll halten.
Das bedingungslose Grundeinkommen ist letztlich nichts anderes als der
Vorschlag, allen Menschen diese Art von gutem Leben zu ermöglichen.
## Das gute Leben gibt es nur für Wenige
Denn viele Menschen stehen ja genau am anderen Ende der Skala: Sie haben
nichts auf dem Konto, und gleichzeitig ist ihr Tauschwert auf dem
Arbeitsmarkt so gering, dass sie auch mit 40 oder 50 oder 60 Stunden nicht
genug Geld zusammenbekommen. Oder sie sind mit so vielen Notwendigkeiten
und Ansprüche konfrontiert, meist familiärer Art, dass sie weder Zeit noch
Kraft haben, sich die Frage zu stellen, was sie selbst denn gerne tun
würden. Gerade diese Menschen sind es, die gar nicht in den Genuss solch
„guter Arbeitsverträge“ kommen, wie die IG Metall sie jetzt für ihre
Mitglieder ausgehandelt hat.
Trotzdem bringt die sogenannte 28-Stunden-Woche immerhin ein bisschen mehr
Flexibilität in die Angelegenheit. Sie erkennt an, dass Menschen im Alltag
normalerweise auch noch anderes zu tun haben als das, was sie „auf der
Arbeit“ tun. Sie nimmt richtigerweise auch die Unternehmer in die Pflicht,
die schon immer davon profitiert haben, dass irgendjemand die von ihnen
benötigte Ware Arbeitskraft auch produziert und reproduziert, und zwar
unbezahlt und außerhalb aller Bilanzen.
Aber das Thema wird sich nicht auf der Ebene von Tarifverträgen lösen
lassen. Die Krise der Arbeit, die Krise der Pflege, die Krise der
Beziehungen und die Krise der sozialen Absicherung – das alles hängt
miteinander zusammen. Der große Anteil von unbezahlter Arbeit am
gesellschaftlichen Wohlstand muss endlich in volkswirtschaftliche
Berechnungen einfließen, und die soziale Absicherung der Menschen darf
nicht länger so eng an ihre Erwerbsarbeit gekoppelt sein.
Dass das Thema dank der IG Metall jetzt wieder einmal in der Diskussion
ist, ist also gut. Es sollte nur nicht der Eindruck entstehen, mit einer
28-Stunden-Woche für alle wäre alles paletti. Angesichts der Größe der
gesellschaftlichen Herausforderungen ist dieser Vorstoß nur ein winziger
Trippelschritt. Aber immerhin einer in die richtige Richtung.
6 Feb 2018
## LINKS
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## AUTOREN
Antje Schrupp
## TAGS
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