# taz.de -- Kostenloser Nahverkehr: Freie Bahnen für freie Bürger | |
> Der Vorschlag der Bundesregierung klingt nach einer Revolution für den | |
> öffentlichen Nahverkehr. Die Umsetzung wäre teuer, aber machbar. | |
Bild: Eine goldene Zukunft für den öffentlichen Nahverkehr? | |
Die Straßenbahn kommt und die Fahrgäste steigen ein. Einfach so. Niemand | |
muss Schlange stehen am Automaten. Kein Wirrwarr um Tarife. Zonen, Ringe, | |
Waben? Ach was, einfach einsteigen. Ein Ticket braucht doch keiner. Die | |
Idee vom kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr klingt attraktiv und | |
nach einer mittelgroßen Revolution im Verkehrswesen. | |
Die Bundesregierung hält einen solchen Vorschlag für machbar. Zumindest | |
temporär. Laut Regierungssprecher Steffen Seibert ist man bereit, in diese | |
Richtung „Schritte zu machen“. Man wolle gemeinsam mit Ländern und Kommunen | |
über Modelle beraten, sagte Seibert am Mittwoch. | |
Worüber in Deutschland derzeit noch nachgedacht wird, ist in Tallinn seit | |
rund fünf Jahren Alltag. Seit 2013 können Bürger der estnischen Hauptstadt | |
kostenlos öffentliche kommunale Verkehrsmittel benutzen. Der Zuspruch ist | |
enorm – und die Auslastung der Busse und Straßenbahnen wie erwartet | |
gestiegen. Der Gratisverkehr belastet die kommunalen Kassen und spült Geld | |
in den Haushalt. Da der kostenlose Nahverkehr nur für gemeldete Bürger | |
gilt, lockte das Angebot etliche neue Hauptstädter. | |
Estland ist damit nicht allein. Wer auf der Webseite | |
[1][freepublictransport.info] nachschaut, entdeckt mehr als hundert Städte | |
und Regionen weltweit, die für den öffentlichen Nahverkehr kein Geld | |
verlangen oder nur bestimmte Zielgruppen belangen. | |
## Drohung aus Brüssel | |
Hintergrund des Vorstoßes der Bundesregierung ist die drohende Klage der | |
EU-Kommission, wenn die Schadstoffbelastung in den Städten nicht reduziert | |
wird. Der kostenlose ÖPNV ist Teil eines Maßnahmenpakets, um die | |
Luftqualität zu verbessern und letztlich auch Diesel-Fahrverbote zu | |
verhindern. | |
Lars Wagner vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) freut sich | |
grundsätzlich über mehr Kundschaft für die Firmen seines Verbandes. Er | |
schätzt, dass in einen kostenlosen ÖPNV rund 30 Prozent mehr Fahrgäste | |
einsteigen würden. Auch wenn das vermutlich nicht die Autofahrer und | |
Pkw-Besitzer sind, sondern eher Fußgänger und Radfahrer, die bei Regen | |
schnell den Bus nehmen. Problem sind für ihn die Kosten. Städte und | |
Kommunen rechnen mit mindestens rund 12 Milliarden Euro, die zusätzlich | |
aufgebracht werden müssten. Aber: In einem kostenlosen ÖPNV würden etliche | |
Ausgaben wegfallen. Zum Beispiel für Kontrolleure oder für die Wartung der | |
Fahrscheinautomaten. | |
Doch mehr Fahrgäste brauchen auch mehr Straßenbahnen, Busse und Züge. Dafür | |
muss man Schaffner und Fahrer einstellen. Auch mehr Schienen und Wege wären | |
nicht schlecht. Alle Punkte kosten deutlich mehr, als eingespart werden | |
kann. Das sieht auch der Mobilitätsforscher Andreas Knie so. Es sei gut, | |
dass sich jemand um das Thema kümmere. Er hält eine Nahverkehrsabgabe, | |
ähnlich der Rundfunkgebühr, eher für tragfähig. | |
Ganz neu ist die Idee vom Gratis-Nahverkehr nicht. So gibt es für Menschen | |
mit Behinderung, für Senioren, für Schüler, für Menschen, die | |
Grundsicherung beziehen, vergünstigte Angebote. An vielen Hochschulen | |
steckt im Semesterbeitrag auch ein ÖPNV-Ticket. Fügt man all diese | |
Vergünstigungen zusammen, so kostet ein Fahrschein rund 1,20 Euro pro | |
Fahrt, rechnet Wagner vor. Ein Auto inklusive Steuern, Versicherung und | |
Benzin kostet im Vergleich deutlich mehr. | |
Den öffentlichen Personennahverkehr zum staatlich unterstützten | |
Grundversorgungsprinzip zu machen ist machbar, aber nicht zum Nulltarif. | |
14 Feb 2018 | |
## LINKS | |
[1] http://freepublictransport.info | |
## AUTOREN | |
Tanja Tricarico | |
## TAGS | |
ÖPNV | |
Öffentlicher Nahverkehr | |
Luftverschmutzung | |
Verkehr | |
ÖPNV | |
ÖPNV | |
Emissionen | |
ÖPNV | |
Barbara Hendricks | |
Autoverkehr | |
Schwarzfahren | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kolumne Wir retten die Welt: Nullnummer mit Nulltarif | |
Die Regierung tut so, als plane sie kostenlose Busse und Bahnen. Und alle | |
flippen aus. Vom Totalschaden der Verkehrspolitik redet niemand. | |
Diesel weg, Nahverkehr her: Die Wien-Idee | |
Bus und Tram umsonst in Deutschland? Ein Blick gen Österreich zeigt: Das | |
reicht nicht. So sieht das auch Heinrich Strößenreuther. | |
Debatte über kostenlosen ÖPNV: Nulltarif gibt’s nicht für umme | |
Kostenlos Bus oder U-Bahn fahren: Ein alter Hippietraum gerät plötzlich in | |
greifbare Nähe. Wäre ein solches Projekt in Berlin realistisch? | |
VCD-Chef über Nulltarif im Nahverkehr: „Die Idee klingt verlockend“ | |
So einfach geht es nicht, sagt Phillip Kosok vom Verkehrsclub VCD. Die | |
Städte brauchen Geld vom Bund, um Überfüllung in Bussen und Bahnen zu | |
vermeiden. | |
Kommentar kostenloser Nahverkehr: Eine systemsprengende Idee | |
Der Vorstoß der amtierenden Minister kann den Weg für eine echte | |
Verkehrswende bereiten. Es fehlt nur noch die Finanzierung und der Wille | |
der Regierung. | |
Regierung erwägt kostenlosen ÖPNV: Freier Verkehr, befreite Luft? | |
Die Bundesregierung überlegt, ob sie mit kostenlosem Nahverkehr die | |
Luftqualität verbessern könnte. Wer das bezahlen soll, ist offen. | |
Kommentar zu Parkgebühren in Berlin: Das Auto ist noch nicht teuer genug | |
Verkehrsexperten haben „flächendeckende Parkgebühren“ in Berlin gefordert. | |
Tatsächlich ist das Auto für Innenstadtbewohner ein viel zu billiger Luxus. | |
Der Berliner Wochenkommentar II: Gebt das Fahrn frei! | |
Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes fordert, dass Schwarzfahren | |
nicht mehr strafbar sein soll. |