# taz.de -- Bootsflüchtlinge aus Nordkorea: Kims Totenschiffe | |
> Fischerboote treiben an Japans Küste an: An Bord finden sich skelettierte | |
> Leichen, Überlebende sind selten. Die Schiffe machen vielen Angst. | |
Bild: Am Strand von Miyazawa: In diesem Boot fand die Polizei acht skelettierte… | |
Tokio/Seoul taz | Auf dem hölzernen Rumpf eines dreizehn Meter langen | |
Fischerbootes am Strand von Miyazawa prangt ein gelbes Schild mit der | |
japanischen Aufschrift „Gefahr! Betreten verboten!“ Eine Knoblauchknolle, | |
ein Keramikgefäß für Chilipaste und Zigarettenschachteln an Deck sind die | |
einzigen stummen Zeugen einer menschlichen Katastrophe, die sich auf dem | |
maroden Gefährt abgespielt haben muss. Denn als das Boot hier Ende November | |
an Land gespült wurde, lagen darin acht teilweise skelettierte Leichen. Die | |
primitive Bauweise und Schriftzeichen auf gefundenen Gegenständen ließen | |
wenig Zweifel daran, dass Boot und Tote aus Nordkorea stammen. | |
Von diesem Schicksalen ist kaum jemand mehr berührt als Ryosen Kojima. Der | |
Chefpriester des Tosen-Tempels kümmert sich seit Jahren um die sterblichen | |
Überreste der Fischer, die mit ihren maroden Booten auf der Halbinsel Oga | |
hoch im Norden Japans stranden. Wenn Kojima die buddhistischen Sutren für | |
die Verstorbenen rezitiert, dann sind ihm Herkunft und Nationalität egal. | |
Daher stehen die Urnen mit der Asche der acht Nordkoreaner gemeinsam mit | |
anderen Totengefäßen auf einem Tisch hinten im Tempel. Lediglich die | |
cremeweiße Stoffbespannung der Schachteln für die Urnen und der fehlende | |
Namensanhänger verraten, dass die eingeäscherten Toten nicht identifiziert | |
werden konnten. | |
Schon seit fünf Jahren landen solche Totenschiffe aus Nordkorea vor allem | |
im Herbst und Winter an der Küste im Norden Japans, die der koreanischen | |
Halbinsel zugewandt ist. Dabei ist das Japanische Meer zwischen beiden | |
Ländern über 1.000 Kilometer breit. „Wahrscheinlich fällt der Schiffsmotor | |
aus, dann treiben Westwind und Strömungen die Boote über mehrere Monate | |
nach Japan ab“, sagt ein Offizier der Küstenwache. Auch schlechtes Wetter | |
und schwerer Seegang könnten eine Rolle spielen. „Der Winterozean ist sehr | |
rau, daher finden wir jetzt mehr Wracks“, sagt der Offizier. Eine Obduktion | |
von zwei Leichen ergab, dass die Menschen ertrunken waren. | |
Aber im vergangenen Jahr ist die Zahl der angeschwemmten Geisterboote an | |
der westjapanischen Küste um knapp das Doppelte gegenüber dem Vorjahr | |
gestiegen. 104 Totenschiffe und 35 Leichen wurden gezählt, so viele wie | |
noch nie. Einige der Toten wurden aus dem Wasser gefischt oder am Strand | |
gefunden. Wie diese Menschen starben und warum sie in Seenot gerieten, war | |
schon immer rätselhaft. Doch diesmal sorgt die politische Krise um die | |
Atom- und Raketenrüstung von Nordkoreas Diktator Kim Jong Un dafür, dass | |
die Spekulationen über die Geisterschiffe ins Kraut schießen. „Niemals | |
zuvor hat es ein Jahr mit so vielen unbekannten Leichen gegeben“, stellte | |
Chefpriester Kojima vom Tosen-Tempel fest. „Ich frage mich, was da los | |
ist.“ | |
## Geisterschiffe sind im Japanischen Meer nichts Neues | |
Dabei sind Geisterschiffe entlang der koreanischen Ostküste beileibe kein | |
neues Phänomen. In den 1960er- und 70er-Jahren waren es allerdings | |
vornehmlich südkoreanische Kutter, die scheinbar spurlos vom Meer | |
verschluckt wurden. Insgesamt 3.500 Fischer verschwanden in jenen Jahren. | |
Für Südkoreas damalige Militärregierung war der Fall eindeutig: | |
Nordkoreanische Soldaten haben die Fischer auf offener See entführt. Dass | |
möglicherweise auch freiwillige Überläufer unter den Verschollenen waren, | |
passte nicht ins Kalte-Kriegs-Narrativ der damaligen Zeit. | |
Der 2012 übergelaufene Nordkoreaner Kim Hun war laut eigenen Angaben | |
während seiner zwanzigjährigen Militärlaufbahn an 160 Entführungsmissionen | |
beteiligt. Im Februar 2017 legte er ein Geständnis ab. Südkoreanische | |
Fischer seien bis in die 1980er-Jahre begehrte Ziele für Pjöngjang gewesen: | |
einerseits weil sie fernab auf hoher See besonders wehrlos sind. | |
Andererseits boten sie dem Regime wertvolle Informationen: „Fischer kennen | |
meist die lokale Topografie wie ihre Westentasche. | |
Für Nordkorea war es vor allem wichtig, möglichst viel über die genaue | |
Bodenbeschaffenheit des Meeresgrundes und der Küste in Erfahrung zu | |
bringen“, sagte Kim. Im Falle einer möglichen Invasion des Nordens sollte | |
die Information genutzt werden, um geeignete Anlegeplätze für die | |
Marineflotte zu bestimmen. | |
## Die Angst vor Entführungen kommt wieder hoch | |
Tatsächlich wurden fast 3.000 der zwischen 1965 und 1985 entführten | |
südkoreanischen Fischer wieder freigelassen – nachdem sie zuvor eine | |
Propagandatour durch das vermeintliche sozialistische Paradies erhalten | |
hatten. Das Kalkül von Staatsgründer Kim Il Sung: Die Fischer sollten nach | |
ihrer Rückkehr von der Überlegenheit des Nordens berichten – und so einen | |
Volksaufstand im Süden auslösen, dessen Ziel eine Wiedervereinigung unter | |
nordkoreanischer Fahne sein sollte. Daraus ist nichts geworden. Doch noch | |
immer gelten laut Angaben des UN-Büros für Nordkoreas | |
Menschenrechtsverletzungen in Seoul 516 entführte Südkoreaner als vermisst. | |
Auch für viele japanische Küstenbewohner steigt die Angst, dass Nordkorea | |
wieder Japaner übers Meer entführen wolle. Schon vor vier Jahrzehnten | |
verschwanden 17 japanische Staatsbürger, darunter die 13-jährige Megumi | |
Yokota. Geheimagenten des Kim-Regimes verschleppten sie nach Nordkorea. | |
Dort mussten sie Spionen die japanische Sprache und Lebensweise beibringen. | |
Besonders groß ist die Angst vor Entführungen in den Orten, in denen Boote | |
mit Überlebenden an Bord ankamen. Insgesamt wurden im Vorjahr 42 | |
Nordkoreaner lebend gefunden, auch ein Rekord. | |
Im Städtchen Yurihonjo in der Präfektur Akita zum Beispiel stoppte die | |
Küstenwache im November ein Boot mit acht Fischern. „Sind es Spione?“, | |
titelte die Lokalzeitung. „Wahrscheinlich wollten sie jemanden entführen“, | |
sagte die 66-jährige Anwohnerin Mariko Abe der New York Times. Auch Japans | |
Premierminister Shinzo Abe vermutete öffentlich, es seien Spione. Doch der | |
Nordkorea-Spezialist Satoru Miyamoto, ein Politologe von der Universität | |
Seigakuin in Saitama, hält dies für unwahrscheinlich: „Spione würden mit | |
besseren Schiffen kommen“, kommentierte er. Bei Befragungen berichteten | |
einige Überlebende, sie seien in schlechtes Wetter geraten und hätten | |
Motorprobleme gehabt. Dann seien sie nach Japan abgetrieben worden. | |
Aber viele Japaner bezweifeln diese Erklärung. „Der Gedanke, dass ich | |
diesen illegalen Eindringlichen über den Weg laufe, macht mir Angst“, sagt | |
eine Bewohnerin der Insel Awashima vor der Küste der Präfektur Niigata. Die | |
japanischen Insulaner sind es nicht gewohnt, dass ungebetene Besucher übers | |
Meer kommen. | |
Ihre Sorge wurde im November bestätigt, als die Küstenwache vor der | |
Nordinsel Hokkaido ein 14 Meter langes Fischerboot vollgestopft mit | |
Diebesgut stoppte. Auf einer Metallplakette stand: „Koreanische Volksarmee, | |
Militäreinheit Nr. 854“. Unter Deck waren ein Fernseher, eine | |
Waschmaschine, ein Motorrad, eine Klimaanlage und ein Generator versteckt. | |
Die zehn Männer an Bord gestanden im Verhör, sie hätten eine unbewohnte | |
Hütte auf einer vorgelagerten Insel geplündert. Dabei hatten sie selbst die | |
Klinken und Scharniere der Türen abgeschraubt und aufs Boot gebracht. | |
## Die Überlebenden wollen wieder nach Hause | |
Sie seien im September vom nordkoreanischen Hafen Chongjin aufgebrochen, um | |
Tintenfische zu fangen, erzählten die Männer, die nach eigenen Angaben | |
Soldaten waren. Die vielen Lampen auf dem Schiff, mit deren Licht sich die | |
Tiere nachts nach oben locken lassen, schienen diese Geschichte zu | |
bestätigen. Nach etwa einem Monat auf See sei das Ruder gebrochen und ihr | |
Boot nach Japan getrieben. Drei der zehn Männer wurden schließlich | |
festgenommen, als sie versuchten, mit ihrem Boot aufs offene Meer zu | |
fliehen. Andere Überlebende von Geisterschiffen wurden von den japanischen | |
Behörden eingesperrt, bis sie abgeschoben werden. Angeblich wollen alle | |
zurück in ihre Heimat. | |
Seit seiner Machtübernahme setzt der 34-jährige Kim Jong Un verstärkt | |
darauf, die Nahrungsmittelengpässe vor allem durch Fischereiprodukte zu | |
stabilisieren. Einerseits bietet das Meer für das von Dürren und | |
Überschwemmungen heimgesuchte Land eine wetterunabhängige Nahrungsquelle. | |
Andererseits bildet der Export von Tintenfischen und Königskrabben nach | |
China eine der wenigen Einnahmequellen für ausländische Devisen. In einem | |
Leitartikel der nordkoreanischen Parteizeitung Rodong Sinmun vom November | |
2017 heißt es: „Fischerboote sind wie Kriegsschiffe, sie schützen das Volk | |
und das Heimatland.“ | |
Die südkoreanische Handelskammer schätzt, dass Nordkorea im Jahr 2016 rund | |
196 Millionen Dollar durch Fischereiexporte verdient hat. Die US-Regierung | |
geht gar von bis zu 300 Millionen Dollar aus. Seit August 2017 jedoch | |
stehen diese Exporte auf der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrats. Der | |
Nordkorea-Experte Marcus Noland vom Peterson Institute for International | |
Economics glaubt, dass die nordkoreanischen Fischer seither versuchen | |
würden, auf offener See ihre Ladungen auf Boote unter ausländischer Flagge | |
umzuladen, um den Sanktionen zu entgehen. | |
## „Sie sind Menschen wie wir“ | |
In einem nordkoreanischen Fischereibetrieb hatte auch die heute 48-jährige | |
Choi Yeong Ok gearbeitet, bevor sie 1998 aus dem Land geflohen ist. | |
„Wahrscheinlich verunglücken viele Fischer bei Schlechtwetter“, vermutet | |
sie, die einst als Kapitänin eine Bootsmannschaft von sechs Seeleuten | |
führte. Damals seien sie fast bei jedem Wetter in See gestochen, und wenn | |
sie jetzt zurückblickt, erinnert sie sich an mehrere lebensbedrohliche | |
Situationen. Die nordkoreanischen Boote besitzen weder Navigationssysteme | |
noch leistungsstarke Motoren, zudem gilt es die strengen | |
Produktionsvorgaben der Vorgesetzten einzuhalten. Laut Choi Yeong Ok gibt | |
es jedoch noch einen weiteren Grund, warum manche nordkoreanische Seeleute | |
hohe Risiken in Kauf nehmen würden: um ihre politische Treue unter Beweis | |
zu stellen. | |
Die Stadtverwaltung im japanischen Oga fühlt sich jedenfalls verantwortlich | |
für das menschliche Strandgut aus Nordkorea. Sie hat die Toten einäschern | |
lassen, aber einige Finger- und Fußnägel aufgehoben, damit sie sich mit | |
Hilfe ihrer Erbsubstanz später identifizieren lassen. All dies in der | |
stillen Hoffnung, dass Nordkorea die Kosten dafür übernehmen wird. | |
Angeblich hat Nordkorea über einen Kommunikationskanal des Roten Kreuzes | |
bereits verlangt, die Asche der Fischer zurückzubekommen. | |
Chefpriester Kojima vom Tosen-Tempel hat damit schon Erfahrung. Vor fünf | |
Jahren hatte er die sterblichen Überreste an einen Vertreter einer | |
Organisation der Nordkoreaner in Japan übergeben. Falls Nordkorea die Asche | |
der neuen Toten nicht zurücknehmen sollte, kommen die Urnen in ein Grab für | |
namenlose Seelen. „Sie sind Menschen wie wir“, meint Priester Kojima. „Ab… | |
sie haben niemanden, der nach ihrer Asche schaut.“ Vom Friedhof aus ist der | |
endlose Pazifik zu sehen, dessen Strömung die Toten in ihren | |
Geisterschiffen an Japans Gestade getragen hat. | |
14 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
Martin Fritz | |
## TAGS | |
Nordkorea | |
Südkorea | |
Japan | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Flucht | |
Flüchtlinge | |
Moon Jae In | |
Flüchtlinge | |
Nordkorea | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nordkoreanischer Diktator Kim Jong Un: Einladung an Südkoreas Präsident | |
Sorgen die Winterspiele doch für ein Tauwetter? Moon Jae In soll zu einem | |
Gipfeltreffen in den Norden reisen. Die Einladung sprach Kim Jong Uns | |
Schwester in Seoul aus. | |
Von einem Korea ins andere und zurück: Die doppelte Überläuferin | |
Erst floh Lim Ji Hyun aus Nordkorea in den Süden. Und machte | |
Fernsehkarriere. Jetzt ist sie zurück in Pjöngjang – als Propagandawaffe | |
für Kim Jong Un. | |
Aus Le Monde diplomatique: Nordkoreas Realpolitik | |
Trumps aggressives Verhalten ist gefährlich. Die Atommacht Nordkorea strebt | |
nach Anerkennung, handelt rational und die Wirtschaft floriert. |