# taz.de -- Norddeutsches Winterbrauchtum: Eine Kohlfahrt, die ist lustig | |
> Im Winter gehen die Oldenburger gern gemeinsam spazieren. Sie trinken | |
> Schnaps gegen die Kälte, gespielt wird auch. Am Ende gibt es Grünkohl. | |
Bild: Fertig zum Verzehr: Grünkohl auf einem Feld im Südoldenburgischen | |
Der Himmel ist grau, die Tage sind kurz, die Mäntel lang. Winter in | |
Deutschland. Draußen ist es kalt und wenn wir können, bleiben wir lieber | |
drinnen. Nicht so in Niedersachsen: Wenn das gefrorene Gras die Schritte | |
knistern lässt und der Atem Spuren in die Winterluft malt, dann geht man | |
hier gemeinsam auf Wanderschaft. Mit Kind und Kegel, Bollerwagen und Korn | |
heißt es: auf zur Kohlfahrt! Ein norddeutscher Brauch rund um das süßlich | |
schmeckende Gemüse, das gerne mit deftiger Fleischbeilage gegessen wird. | |
Bereits um 1800 erkundete Peter Friedrich Ludwig, seinerzeit Herzog von | |
Oldenburg, die winterliche Landschaft mit Kutsche oder Schlitten. Schon | |
damals schaffte das ein oder andere Gläschen Korn Abhilfe gegen die Kälte. | |
Gegen den Hunger aber hilft Schnaps nicht, daher wurde anschließend in | |
einem Gasthof eingekehrt. Saisonales Menü der Wahl: natürlich Grünkohl! | |
Aber wieso wandern, wenn es doch „Kohlfahrt“ heißt? Zurück ins Städtchen | |
Oldenburg: Dem winterlichen Lagerkoller vorbeugend, unternahmen hier | |
Sportler des 1859 gegründeten Oldenburger Turnerbundes eine Wanderung. Wohl | |
von Kälte und Hunger getrieben, wurde ein Gasthof aufgesucht. Statt einer | |
wärmenden Suppe servierte der Gasthof der Wahl jedoch ein schmackhaftes | |
Kohlessen – der Beginn einer alljährlichen Tradition. Seitdem gilt der | |
Verein als Erfinder der zeitgenössischen Kohlfahrt. | |
Wie eine solche heute zu verlaufen hat, weiß Britta Kirsch. Seit zwanzig | |
Jahren ist sie bei Kohlfahrten rund um Oldenburg dabei. Und das gleich zwei | |
Mal pro Saison: Mit Freunden und im „Litteler Hähne und Hähnchen“ genannt… | |
Verein. „Das Planen einer Kohlfahrt erfordert schon etwas Zeit und | |
Vorlauf“, erklärt sie. | |
## Das Ziel der Kohlfahrt bleibt ein Geheimnis | |
Zuständig für die Organisation sei immer das amtierende „Kohlkönigspaar“, | |
das am Ende jeder Kohlfahrt neu gekrönt wird. Während der einjährigen | |
Regentschaft muss das Kohlkönigspaar einen gemeinsamen Termin finden, ein | |
Lokal organisieren und den Ablauf planen. Mit einer feierlichen Einladung | |
wird schließlich der Treffpunkt bekannt gegeben – das Ziel der Kohlfahrt | |
bleibt jedoch ein Geheimnis. | |
Da Grünkohl ein traditionelles Wintergemüse ist, beginnt die Saison bereits | |
Mitte Januar und endet erst mit dem Gründonnerstag. Die weit verbreitete | |
Annahme, dass das Pflänzchen erst nach dem ersten Frost erntereif ist, | |
stimmt so allerdings nicht ganz. „Diese Auffassung stammt aus der Zeit, als | |
die meisten Menschen noch Selbstversorger waren, mit dem Kohl im eigenen | |
Garten“, erklärt der Biologe Christoph Hahn. Er forscht an der Universität | |
Oldenburg rund um das beliebte Gemüse. | |
„Durch die kalten Temperaturen wird der Stoffwechsel der Pflanze | |
heruntergefahren, während diese aber weiter Fotosynthese betreibt. Es wird | |
also Zucker aufgebaut, der aber weniger verstoffwechselt wird und sich | |
somit stärker anreichert. Weil gleichzeitig Bitterstoffe abgebaut werden, | |
wird die Pflanze letztendlich süßer. Das Ganze passiert aber schon bei | |
sechs oder sieben Grad, Frost im eigentlichen Sinne ist nicht notwendig“, | |
erklärt Grünkohlforscher Hahn. | |
So kalt ist es im Oldenburger Januar mindestens. Britta Kirschs Gruppe | |
trifft sich meist am Nachmittag: „So um drei. Und dann macht man einen | |
schönen Spaziergang mit Kohlfahrtspielen und ein paar Getränken, Musik, | |
Bollerwagen – und allem, was so dazu gehört.“ | |
## Eierlaufen, Boßeln und Teebeutel-Weitwurf | |
Die Kohlfahrtspiele sind das eigentliche Herzstück der Veranstaltung. | |
Traditionell wird vielerorts „geboßelt“. Boßel bedeutet auf Plattdeutsch | |
„Kugel“ und das erklärt auch schon, worum es eigentlich geht. Zwei Teams | |
versuchen nämlich genau diese möglichst weit zu werfen. Wer die vorgegebene | |
Strecke mit den wenigsten Würfen meistert, hat gewonnen. Es gibt auch noch | |
andere Spiele. Seilziehen, Eierlaufen oder Sackhüpfen. | |
An Ideen mangelte es der Gruppe um Britta Kirsch bisher nicht: | |
Teebeutel-Weitwurf, das möglichst lange Halten eines gefüllten Bierkrugs | |
oder das Schätzen von Erbsen im Glas. „Ach, was haben wir schon alles | |
gemacht! Einmal hatten wir in einiger Entfernung eine Mausefalle | |
aufgestellt, scharf gemacht und du musstest dann mit einem Ping-Pong-Ball | |
treffen.“ Erhöhtes Anforderungsniveau nach einigen Runden Korn. | |
Kohlfahrt bei den „Hähnen und Hähnchen“ heißt jedoch mehr: „Unsere | |
Kohlfahrten sind immer All-Inclusive-Fahrten“, sagt Britta Kirsch, denn | |
unterwegs gibt es neben Spiel und Korn nach einiger Zeit auch Kaffee und | |
Kuchen. Die mobile Versorgung wird durch Verwandte oder Bekannte des | |
Kohlpaares gesichert. „Oft bringen sie noch Glühwein mit, nach einer Weile | |
ist’s ja doch etwas kühl. Und die Getränke vom Bollerwagen werden auch | |
ausgetauscht, man kann ja nicht so viel auf einmal mitnehmen.“ | |
## Grünkohl, Pinkel, Wein, Bier | |
Gegen sechs oder halb sieben ist dann meist das Ziel erreicht. Im Gasthof | |
gibt es das lang ersehnte Menü: Grünkohl mit Pinkel (eine geräucherte | |
Grützwurst) oder Kassler. Und dazu gerne Wein oder Bier. Dann, am Ende, | |
wird es wieder royal. Die Krönung des neuen Kohlkönigspaares steht an. | |
Ermittelt durch den Highscore der Kohlspiele, ein alles entscheidendes | |
Extraspiel oder reines Losglück in Form von präparierten | |
Überraschungseiern. | |
So oder so wird den Gewinnern die „Kohlkette“ verliehen, eine Metallkette, | |
die bis zum nächsten Jahr um eine Plakette mit eingraviertem Namen und | |
Jahreszahl länger gemacht wird. Auf die Frage, ob sie auch schon zur | |
Majestät gemacht wurde, muss Britta lachen: „Ja, schon mehrmals. Das bleibt | |
nicht aus.“ | |
Längst gehen nicht nur Oldenburger auf Kohlfahrt, viele Reiseveranstalter | |
bieten die Touren für Touristen an. Und da Oldenburg dank Fachhochschule | |
und Universität viele junge Menschen beheimatet, wird die Tradition | |
begeistert weitergegeben. | |
Lena B. zum Beispiel geht – neben der alljährlich durch die Fachschaft | |
organisierte Kohlfahrt – auch mehrmals pro Saison im Freundeskreis auf | |
Tour. Mit einem Augenzwinkern fasst sie die Motivation, eine Kohlfahrt | |
mitzumachen, zusammen: „Kurz gesagt: Was gibt es Besseres als | |
trinkenderweise mit den Freunden durch die Gegend zu gehen und dann | |
zusammen zu essen?“ | |
Man könnte stattdessen auch original Oldenburger „Kohlpralinen“ essen, oder | |
ernsthaft aus Grünkohl gebrautes „Oldenburger Palmbräu“ trinken. | |
Ob das wohl schmeckt? | |
2 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Stegemann | |
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