| # taz.de -- Friesensport-EM in Ostfriesland: Nach dem Wurf geht die Pilgerei los | |
| > Teams aus Irland, Italien, Deutschland und den Niederlanden treffen sich | |
| > und ein Wochenende geht es darum, wer die Kugeln am weitesten wirft. | |
| Bild: Fokus, Antritt, Kugel nach oben wegschleudern: So wird bei der Friesenspo… | |
| Neuharlingersiel taz | Auf einer Landstraße bei Neuharlingersiel in | |
| [1][Ostfriesland] holt sich die etwa zwei Meter große Holländerin Silke | |
| Tulk mit einem 250-Meter-Wurf erneut den EM-Titel. Sie springt herum und | |
| schreit immer wieder „Mannschaftsgold“ – eigentlich Nebensache, dass ihr | |
| niederländisches Team in der Gesamtwertung der | |
| Friesensport-Europameisterschaft der Frauen oben steht, knapp vor dem | |
| Friesischen Verband FKV. | |
| [2][Boßeln], das Norddeutsche gern mit Bollerwagen und Bier zelebrieren und | |
| in Ostfriesland ernst zu nehmender Teamsport ist, ist bei der EM nicht | |
| dabei. Hollandkugel, Eisenkugel (auch Irlandkugel genannt), Klootschießen: | |
| Die drei Wettbewerbe sind Einzelwettkämpfe. Alle Disziplinen werden mit | |
| zehn Würfen pro Athlet*in entschieden. Die Unterschiede: die Kugel und | |
| der Untergrund. | |
| [3][Fünf Teams sind bei der Friesensport-EM dabei]: Irland, Italien, die | |
| Niederlande und zwei aus Deutschland; der Friesische und der | |
| Schleswig-Holsteinische Verband. Das größte Spektakel ist die Eisenkugel, | |
| mit dem größten und schwersten Wurfgerät der drei Wettbewerbe. 800 Gramm | |
| massiver Stahl auf 5,8 Zentimeter werden am Samstag über die Straßen | |
| geschleudert. Der Wettkampf wird als einziger auf Asphalt ausgetragen – | |
| entsprechend doll springt die Kugel, entsprechend weit sind die Würfe. Tulk | |
| siegt mit fast 1.575 Metern. | |
| Sie hatte sich bereits am Freitag bei der Hollandkugel – ein ähnlicher | |
| Wettkampf, aber auf einem Feld – mit 838 Metern Gold gesichert, sechs Meter | |
| vor Femke Wilberts vom FKV. Auch Samstag steht mit Mareile Folkens eine | |
| FKV-Athletin hinter Tulk. Wilberts wird Vierte. Am Sonntag holt Wilberts | |
| dann aber auch ihr Gold, in der Disziplin Kloot. | |
| Gestartet waren die Frauen am Mittag, nach den Jugendlichen und vor den | |
| Männern. Doch der Wettkampf zieht sich, bis es den Teilnehmerinnen gelingt, | |
| sich durch die Massen zu schießen. „Clear the road“ und „Zur Seite“ | |
| schreien die Ordner*innen immer wieder. Die Zuschauermasse aber ist zäh, | |
| jede*r will den besten Blick erhaschen auf die nächste Werferin, tastet | |
| sich vom Straßenrand vor auf den Asphalt. | |
| ## Brötchenhälften und Streuselkuchen | |
| Durch die Verzögerungen muss auch Wilberts zwischendurch auf ihren nächsten | |
| Wurf warten. Sie setzt sich in eine Einfahrt, in der es Brötchenhälften und | |
| Streuselkuchen für 1,50 Euro gibt, dehnt sich, beißt von einem Apfel ab, | |
| wiederholt ihre Wurfbewegung. Dann, für diesen einen kurzen Moment, zieht | |
| sie ihre Trainingsjacke aus und legt ihre Sachen beiseite. | |
| Wer dran ist, markiert den Absprung, schafft sich Platz für den Anlauf. Die | |
| Trainer*innen stellen sich mit etwas Distanz auf die Strecke und | |
| kommunizieren mit ihren Schützlingen über die Art des Wurfes, die | |
| Platzierung auf der Straße: Fokus, Antritt, ein letztes Zulegen, bevor die | |
| Kugel nach oben weggeschleudert wird und das Menschenmeer teilt. Wie bei | |
| einem Autorennen verfolgen alle Gesichter die Kugel, wenn sie vorbeirollt. | |
| Das Gejole wirkt wie Vorwarnung an die Fans weiter weg. Einige springen der | |
| Kugel in letzter Sekunde aus dem Weg. | |
| ## Gräben zwischen Straße und Feldern | |
| Über den Gräben zwischen Straße und Feldern liegen einige Holzbrücken. Nach | |
| jedem Wurf geht die Pilgerei los, auf der Straße oder auf dem | |
| plattgetrampelten Feldrand, bevor sich wieder alle am Rand drängen. Die | |
| Fans tragen Jacken und Shirts von diversen Vereinen: Berumerfehn, Ardorf, | |
| Neuwesteel. Sie trinken Jever aus Plastikbechern, essen Pommes, schwenken | |
| Fahnen, fachsimpeln. Das Gefühl ist Dorf – mit ein bisschen Multikulti. | |
| Oke Goldenstein gewinnt am Samstag Bronze beim Jugendwettbewerb. Er ist mit | |
| dem Boßel-Sport groß geworden, kommt aus Stedesdorf. „Klootschießen haben | |
| wir auf dem Sportplatz mit der ganzen Gemeinde gemacht.“ Fußball hat er | |
| auch schon immer gespielt – „aber wenn Boßeln war, konnte ich nicht zum | |
| Fußball“. | |
| „Hast du das Publikum gesehen?“, ist Silke Tulks Antwort auf die Frage, | |
| warum sie den Sport so liebt. „Hier zu werfen mit so vielen Leuten und | |
| unseren Freunden als Deutschland, Irland und Italien: Das ist, warum wir | |
| Boßeln.“ Sie trainiert täglich, je drei Mal die Woche Straße und Feld, | |
| einmal Kraft, neben der Arbeit als Lehrerin. | |
| ## Friesensport-EM alle vier Jahre | |
| Die EM wird alle vier Jahre ausgetragen – nur alle 20 Jahre findet sie also | |
| vor der eigenen Haustür statt, sagt Holger Wilken, aktiver Vereinsboßler | |
| und Sprecher des Friesischen Klootschießerverbandes FKV, der Dachverband | |
| der Oldenburger und Ostfriesischen Boßler*innen. Die Sportler*innen sind | |
| im Jugendherbergs-Resort in Neuharlingersiel untergebracht in einer Art | |
| „olympischem Dorf“. | |
| Dass alle teilnehmenden Länder Küsten haben, sei kein Zufall, erklärt | |
| Wilken. Früher als Kriegswaffe benutzt, entwickelte sich das Werfen der | |
| verschiedenen Kugeln zum regionalen Sport, in Friesland eben zum | |
| Klootschießen. „Das Wort Kloot ist Plattdeutsch und heißt Klumpen. | |
| Ostfriesen und Holländer haben Erdklumpen aus dem schweren Kleiboden | |
| trocknen lassen und damit einen Wettbewerb veranstaltet.“ | |
| Beim Klootschießen, bei der EM in Neuharlingersiel am Sonntag ausgetragen, | |
| wird eine 375 Gramm schwere Holzkugel mit Bleikern von der gleichen | |
| Startposition immer wieder über ein Feld geschleudert. | |
| ## Werfen ist nicht langweilig | |
| Stefan Siebolds wäre Samstag fast dabei gewesen, hat die Qualifikation aber | |
| dann doch nicht geschafft. Dabei ist er dennoch gern. „Boßler sind eine | |
| Familie, den Sport muss man lieben.“ Die Konkurrenz sitze nach dem | |
| Wettkampf zusammen, auch den Meister feiere man gemeinsam. | |
| „Es gibt viele, die übers Boßeln geschimpft haben – bis sie dann selbst | |
| mitgemacht haben.“ Langweilig findet er das Werfen nicht. „Jede Strecke ist | |
| anders, auch die Würfe sind anders. Je nachdem, ob du 50 oder 100 Meter vor | |
| der Kurve bist, musst du die Kugel anders anschneiden.“ | |
| 12 May 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alina Götz | |
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