Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Grünkohl im Meer der Ruhe
> „Vielleicht waren die Leute in unserer Stadt nicht so naiv … Ich zog von
> Tür zu Tür, ohne auch nur einen einzigen Quadratmeter Mond loszuschlagen
> …“
Bild: Fertig zum Verzehr: Grünkohl auf einem Feld im Südoldenburgischen
Um ein Haar hätte ich damals eine Laufbahn als Hochstapler eingeschlagen.
„Guck dir das an!“, hatte mein Kumpel Schwarte gerufen und mir einen
Zeitungsartikel hingehalten. Wir waren jung und wussten, dass wir in der
Stadt, in der wir aufwuchsen, keine Zukunft hatten. Der Artikel erzählte
die Geschichte von Victor Lustig, dem Mann, der 1925 den Eiffelturm
verkaufte und 50.000 Francs von einem Schrotthändler ergaunerte. Der
schämte sich anschließend für seine Leichtgläubigkeit so derart, dass er
den Betrug nicht anzeigte und Lustig für seinen Coup nicht mal belangt
wurde. „Verstehst du?“, sagte Schwarte: „Wir werden Millionen machen!“
Leider verstand ich ihn nicht so ganz, denn in unserer Stadt gab es keinen
Eiffelturm, sondern nur stillgelegte Werften und rostende Kräne. „Was
willst du den Leuten verkaufen?“, murmelte ich: „Die alte Amerikakaje, von
der seit zehn Jahren kein Überseedampfer mehr abgelegt hat?“ – „Viel
besser“, rief Schwarte, „wir verkaufen ihnen die Zukunft, wir verkaufen
ihnen den Mond!“, erklärte er vollkommen von sich überzeugt. „Und du
meinst, das klappt?“ – „So wahr ich der Ururenkel des Strandräubers
Schwarte Schwartensen bin: Das klappt!“
Es klappte nicht. Vielleicht waren die Leute in unserer Stadt nicht so naiv
wie die Pariser oder nicht so liquide. Ich zog von Tür zu Tür, ohne auch
nur einen einzigen Quadratmeter Mond loszuschlagen. „Ach, Jungchen, ich bin
schon froh, wenn ich mir alle zwei Tage ’ne Schachtel Lord Extra leisten
kann“, war noch das freundlichste, was ich zu hören bekam. Meist knallte
man mir kommentarlos die Tür vor die Nase.
Erstaunlicherweise hatte Schwarte mehr Erfolg. „Du musst sie bei ihren
Träumen packen!“, raunte er mir zu. Er hatte dem alten Piepenbrink, der auf
seinem winzigen Balkon Jahr für Jahr kiloweise Kartoffeln, Zucchini und
Blumenkohl zog, einen fußballfeldgroßen Schrebergarten im Meer der Ruhe
angedreht. „Dort scheint immer die Sonne, Herr Piepenbrink, denn es gibt
keine Wolken, trotzdem ist es knackig kalt – ideale Bedingungen für
Grünkohl!“, hatte Schwarte gesagt. Und Piepenbrink hatte gezahlt.
So begann ich, über die Träume der Leute in unserem Viertel nachzudenken.
Doch niemand, den ich kannte, suchte nach etwas, das der Mond ihm hätte
geben können. Die Menschen träumten von Lottomillionen, Märchenprinzen und
Freibier – und ich fragte mich, ob Schwartes Verkaufserfolg womöglich
darauf beruhte, dass Piepenbrink schon ziemlich tüddelig war.
Tags drauf sah das halbe Viertel zu, wie Piepenbrink junior Schwarte im
Schwitzkasten abschleppte, und weil mir schwante, dass das was mit der
Parzelle im Meer der Ruhe zu tun hatte, beschloss ich, Schwarte nur
flüchtig zu kennen und vielleicht doch eine bürgerliche Existenz als
Matjesfiletierer in einer der letzten hiesigen Fischfabriken anzustreben.
Auch daraus ist aber nichts geworden.
13 Feb 2018
## AUTOREN
Joachim Schulz
## TAGS
Betrug
Jugend
Paris
Senioren
Kinder
Oldenburg
Männer
Frankfurt/Main
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Huck und Tom auf großer Fahrt
Nicht alle Menschen warten darauf, in dieser Welt gerettet zu werden. Schon
gar nicht, wenn sie sich zu Tode langeweilen.
Die Wahrheit: Der Duft der Gitarrenlehrerin
„So habe ich bis heute nichts anderes gelernt als Improvisation auf dem
Eierschneider…“: Nicht jedes Kind lernt gerne ein Instrument.
Norddeutsches Winterbrauchtum: Eine Kohlfahrt, die ist lustig
Im Winter gehen die Oldenburger gern gemeinsam spazieren. Sie trinken
Schnaps gegen die Kälte, gespielt wird auch. Am Ende gibt es Grünkohl.
Die Wahrheit: König der Arktis
Die Schneeballschlacht – ist das nicht die letzte Domäne des großen weißen
Affen namens Mann? Nicht, wenn man ein vaterloser Gesell ist …
Die Wahrheit: Die unrasierte Braut
Vorsicht Kamera, verstehen Sie Spaß und Augen auf beim Schuhkauf: In
Einkaufszonen ist alles möglich.
Die Wahrheit: Auf Durchreise
In die große, weite Welt hinaus trampen – ein Traum! Der manchmal wahr
wird. Hinterm Autobahnkreuz. Ausgestattet mit dem Duft des Desperados.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.