| # taz.de -- SPD-Parteitag in Bonn: Ein müder Applaus | |
| > Vor der Abstimmung ringt die SPD um eine Haltung zu | |
| > Koalitionsverhandlungen mit der Union. Die Parteispitze muss Kritik | |
| > einstecken. | |
| Bild: Der Parteivorsitzende kämpft für die Aufnahme von Koalitionsverhandlung… | |
| Bonn taz | Die Ouvertüre ist klug geplant. Malu Dreyer, die beliebte | |
| Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, eröffnet den SPD-Parteitag. Dreyer | |
| war lange eine erklärte Skeptikerin gegenüber Groko, sie warb für eine | |
| Minderheitsregierung der Union. Jetzt darf sie ausführlich ihren | |
| Sinnenswandel begründen, und sie zeigt den 600 Delegierten – mit | |
| freundlicher Miene – das Folterbesteck. | |
| Man dürfe sich keine Illusionen machen, ruft Dreyer. „Wir entscheiden heute | |
| darüber, ob wir in Verhandlungen oder in Neuwahlen gehen.“ Sie wischt die | |
| Minderheitsregierung weg, dazu sei die mutlose Union nicht in der Lage. | |
| Neuwahlen also. Das ist die handfeste Drohung, die über allem schwebt. | |
| Neuwahlen könnten für die SPD – ohne Strategie, ohne Machtoption – im | |
| Desaster enden. Dreyer spielt die Rolle, die 2013 Hannelore Kraft hatte – | |
| vom Nein zum Ja. | |
| In Bonn hat die SPD schon große Beschlüsse gefasst. 1959 votierten die | |
| Sozialdemokraten im Stadtbezirk Bad Godesberg für ein Grundsatzprogramm, | |
| dass sie von der sozialistischen Arbeiterpartei zur Volkspartei machte. | |
| Dieses Mal geht es um das Regieren: Die Delegierten, die im World | |
| Conference Center hinter langen Tischreihen sitzen, entscheiden, ob die SPD | |
| in Koalitionsverhandlungen mit der Union eintritt. | |
| Es geht um viel: Ein Nein würde wohl Martin Schulz, den Vorsitzenden, aus | |
| dem Amt kegeln. Auch die übrige SPD-Spitze, die sich geschlossen hinter das | |
| Sondierungspapier gestellt hat, wäre beschädigt. Doch nicht nur in der SPD | |
| gäbe es ein Beben. Die letzte Koalitionsoption wäre tot, wahrscheinlich | |
| gäbe es Neuwahlen. Schließlich hat Kanzlerin Merkel klar ausgeschlossen, | |
| eine Minderheitsregierung anzuführen. | |
| ## Die Seele streicheln | |
| Die SPD-Spitze tut alles, um zweifelnde Delegierte zu überzeugen. Sie | |
| ändert ihren Leitantrag und nimmt Bedingungen auf. Es müsse „konkret | |
| wirksame Verbesserungen“ gegenüber dem Sondierungsergebnis geben, heißt die | |
| Kompromissformel – und zwar bei der Eindämmung befristeter Jobs, der | |
| Zwei-Klassen-Medizin und bei einer Härtefallregelung beim Familiennachzug | |
| für Flüchtlinge. Darauf hatten die wichtigen Landesverbände | |
| Nordrhein-Westfalen und Hessen gedrungen. | |
| Dreyer blättert den Delegierten auf, was alles erreicht wurde. Die Parität | |
| bei den Krankenkassenbeiträgen. Die Grundrente. Den Einstieg in den | |
| sozialen Arbeitsmarkt für Langzeitarbeitslose. Sie zählt vor allem die | |
| sozialpolitischen Erfolge auf – und streichelt die Seele der Delegierten. | |
| „Wo ist unser Selbstbewusstsein? Ich lasse mir nicht die Butter vom Brot | |
| nehmen von Menschen wie Herrn Dobrindt.“ Dreyer trifft den Ton, sie bekommt | |
| viel Applaus. | |
| Um kurz vor zwölf Uhr kündigt die Versammlungsleiterin die Rede von Martin | |
| Schulz an. Kurz wird es heimelig und etwas kitschig. Ein großes Gewicht, | |
| sagt sie, liege auf seinen Schultern – und sie alle könnten es ein wenig | |
| spüren. Schulz beginnt ruhig. Versöhnlich. Keiner soll denken, dass er sich | |
| in einer Konfrontation befindet, bei der es um seine Zukunft geht. | |
| ## Geänderte Umstände, andere Botschaft | |
| Er lobt seine innerparteilichen Gegner. Den Jusos gehe es nicht um sich | |
| selbst. Ihnen gehe es – wie allen im Saal – um die Würde und Stärke der | |
| SPD. Schulz verteidigt nochmal die Entscheidung am Wahlabend, auf | |
| Opposition zu setzen. Nicht die Argumente damals waren falsch, so die | |
| Botschaft, die Umstände haben sich geändert. Schließlich ist Jamaika | |
| erledigt – und für Schulz steht fest: „Jamaika hätte Deutschland zu | |
| konservativ, zu neoliberal, zu wenig sozial regiert.“ | |
| Dann gibt er den No-Groko-Fans doch eine Spitze mit. Wer kategorisch sage, | |
| egal was die SPD erreiche, sie dürfe auf keinen Fall in die Regierung | |
| gehen, dem antworte er: „Das ist nicht meine Haltung. Dafür bin ich nicht | |
| in die Politik gegangen.“ Parteien seien kein Selbstzweck sondern dafür da, | |
| das Leben der Menschen zu verbessern. | |
| Schulz zählt ebenfalls Erfolge auf, etwa den Einstieg in einen öffentlich | |
| geförderten Arbeitsmarkt. Er erzählt von dem jungen Langzeitarbeitslosen, | |
| der in der Kantine eines Essener Berufsbildungszentrums aushelfen darf – | |
| und stolz darauf ist. Geschickt streut er immer wieder Lob der | |
| Spitzengenossen ein, die die Themen mit CDU und CSU verhandelt haben. | |
| Nahles. Klingbeil. Schäfer-Gümbel. So verschafft er sich Rückhalt. Schulz' | |
| Autorität erodiert, aber in dieser Frage steht die gesamte SPD-Spitze | |
| hinter ihm. | |
| ## Gedämpfte Stimmung | |
| Während Schulz spricht, bleibt es oft minutenlang totenstill in der Halle. | |
| Die Stimmung ist gedämpft. Allen ist klar, dass die SPD die Wahl zwischen | |
| „schlimm“ und „fürchterlich“ hat. Schulz muss eine erstaunliche Kehrtw… | |
| rechtfertigen. Das Absurde an der verfahrenen Situation ist ja, dass | |
| Schulz‘ Gegner vor allem die Argumente vortragen, die er selbst am | |
| Wahlabend brachte. Etwa: Die SPD dürfe den Rechtspopulisten von der AfD | |
| nicht die Oppositionsführerschaft überlassen. | |
| Als Leuchtturm hebt er die ausgehandelte Bildungsoffensive hervor. Und, | |
| natürlich, die Europapolitik, die er persönlich mit Merkel verhandelt hat. | |
| Bei diesen Passagen spricht Schulz leidenschaftlicher, der Funke springt | |
| über. Er verspricht nicht weniger als das Ende der brutalen Sparpolitik von | |
| Merkel und Schäuble. Einen „Paradigmenwechsel“. Der Geist des | |
| Neoliberalismus in Europa müsse endlich ein Ende haben, ruft Schulz. | |
| „Dieses Europa wird ein sozialdemokratischeres Europa sein als heute!“ | |
| Als Schulz nebenbei einflicht, dass ihn Emmanuel Macron gestern angerufen | |
| habe, rufen ein paar Delegierte ironisch: „Hey!“ Schulz redet frei, geht | |
| weg vom Manuskript. „Durch Europa schwappt eine rechte Welle.“ Polen. | |
| Tschechien. Ungarn. Diese Welle könne gebrochen werden durch eine deutsche | |
| Regierung, die sich zu Menschenrechten bekennt. Mit der SPD, | |
| selbstverständlich. | |
| ## Tricks und Versprechen | |
| Das ist seine Story, die Schulz-Story. Ein solidarisches Europa gibt es nur | |
| mit der SPD. Und mit ihm. Schulz, der im Wahlkampf betonte, nicht in ein | |
| Kabinett unter Merkel einzutreten, umschifft Fragen nach seiner Zukunft | |
| inzwischen. Dafür, dass der überzeugte Europäer gerne Außenminister würde, | |
| spricht viel. | |
| Schulz verspricht, für zusätzliche Verbesserungen zu kämpfen, die nun im | |
| Leitantrag stehen. Den Punkt der sachgrundlosen Befristungen werde man in | |
| Verhandlungen wieder aufrufen. Man werde konkrete Verbesserungen beim Abbau | |
| der Zwei-Klassen-Medizin erreichen. Und er legt sich in einem Punkt fest: | |
| Die Härtefallregelung beim Familiennachzug für Flüchtlinge „wird kommen“. | |
| Das ist eine harte Formulierung, an ihr wird Schulz sich messen lassen | |
| müssen. Wenn die Union hier mauert, hat er ein Problem. | |
| Schulz arbeitet mit einem Trick, der unseriös anmutet. Obwohl Merkel früh | |
| signalisiert hat, dass mit ihr die Tolerierung einer Minderheitsregierung | |
| nicht zu machen sei, jazzte die SPD-Spitze diese Option wochenlang hoch. | |
| Der SPD-Parteitag im Dezember beschloss, dass das Sondierungsteam | |
| ergebnisoffen alle Varianten verhandeln solle. Die Union, ruft Schulz, habe | |
| die Minderheitsregierung oder eine Kooperations-Koalition am Vorabend des | |
| letzten Sondierungstages in aller Klarheit abgelehnt. | |
| Das klingt, als habe die SPD-Spitze bis zum Schluss geglaubt, eine solche | |
| Variante erreichen zu können. Hier bastelt sich Schulz eine eigene Realität | |
| zurecht – die Minderheitsregierung, das wussten auch führende | |
| Sozialdemokraten, lag von Anfang an nie wirklich auf dem Tisch. | |
| ## Tsipras als Zeuge | |
| An einer anderen Stelle verspricht er den Delegierten das Blaue vom Himmel | |
| herunter. Nicht die Partei habe sich an Regierungsinteressen zu | |
| orientieren, ruft er. „Die Regierung setzt um, was Partei und Fraktion | |
| vorgeben.“ Das wäre das Gegenteil von der Basta-Politik, unter der die SPD | |
| unter Schröder und Müntefering gelitten hat. Aber ist das realistisch? | |
| Merkel wird müde lächeln. Dass sie ihren Kurs künftig an | |
| SPD-Parteitagsbeschlüssen ausrichtet, ist eher unwahrscheinlich. | |
| Zum Schluss kommt Schulz nochmal auf Europa zurück. Griechenlands | |
| Ministerpräsident Alexis Tsipras habe ihm geschrieben: Wenn das | |
| Europapapier Wirklichkeit werde, könne die junge Generation in Griechenland | |
| Hoffnung auf Beschäftigung und Arbeit schöpfen. Es gebe die Chance, mehr | |
| soziale Gerechtigkeit in Land und Kontinent herzustellen. Schulz ruft: „In | |
| meinen Augen wäre es fahrlässig, diese Chance nicht zu ergreifen.“ | |
| Der SPD-Chef hebt die Stimme, will die Delegierten mit den letzten Sätzen | |
| mitzureißen. Der Applaus ist fast peinlich dünn, nach einer Minute tröpfelt | |
| er ganz aus. Falls die Delegierten Schulz folgen, dann nicht aus | |
| Begeisterung. Sondern aus der Einsicht, dass alles andere schlimmer wäre. | |
| 21 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
| ## TAGS | |
| SPD | |
| Schwarz-rote Koalition | |
| Martin Schulz | |
| Kevin Kühnert | |
| Malu Dreyer | |
| Schwarz-rote Koalition | |
| SPD | |
| SPD | |
| SPD | |
| SPD | |
| Martin Schulz | |
| SPD-Parteitag | |
| SPD-Parteitag | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Beginn der Koalitionsverhandlungen: Groko in zehn Tagen | |
| Union und SPD haben die Koalitionsverhandlungen begonnen. Der vereinbarte | |
| Zeitplan ist ambitioniert. | |
| Mitgliederanstieg bei der SPD: Bitte keine Sozen auf Zeit | |
| Seit dem Bonner Bundesparteitag verzeichnet die SPD eine Eintrittswelle. | |
| Die Parteiführung fürchtet, dass die neuen GenossInnen die Groko | |
| sabotieren. | |
| Kommentar SPD-Abstimmung in Bonn: Hundert Jahre Kompromiss | |
| Die SPD wird an einer erneuten Großen Koalition nicht sterben. Sie dürfte | |
| aber weiter abmagern – zu einem Strich in der politischen Landschaft. | |
| SPD-Parteitag in Bonn: Knappe Mehrheit für Verhandlungen | |
| Der SPD-Parteitag stimmt nach langer Diskussion mit gut 56 Prozent für | |
| Koalitionsverhandlungen mit der Union. | |
| Kommentar Tragödie der SPD: Die Irgendwie-Partei | |
| Werden die Sozialdemokraten wieder zum Stützrad der Union? Fürs Land wäre | |
| es nicht das Schlechteste – für die Partei schon. Längst herrscht | |
| Melancholie. | |
| SPD vor der Abstimmung zur GroKo: Im Kern gespalten | |
| Juso-Chef Kühnert kämpft gegen SPD-Chef Schulz für die GroKo. Doch der Riss | |
| geht viel tiefer als „links gegen rechts“. | |
| SPD-Sonderparteitag in Bonn: Wer? Wie? Was? | |
| Wer fährt zum SPD-Parteitag nach Bonn? Wer darf abstimmen? Ein Überblick | |
| vor dem Votum, das über die künftige Bundesregierung entscheiden dürfte. | |
| Delegierter Schuster über Groko-Nein: „Kein Untergang bei Neuwahlen“ | |
| Der Bremer Delegierte Joachim Schuster will beim SPD Bundesparteitag gegen | |
| eine erneute Große Koalition stimmen. Das Sondierungsergebnis genügt ihm | |
| nicht. |