| # taz.de -- Forscher über jüdische Manuskripte: „Voltaire nutzte brisante P… | |
| > Hamburgs Stabi zeigt erstmals jüdisch-sefardische Handschriften des 17. | |
| > Jahrhunderts. Aufklärer um Voltaire nutzten sie später, um das | |
| > Christentum zu demontieren. | |
| Bild: Bunt illustriert: Jakobsszene von 1753 aus dem Livro dos Minhagim | |
| taz: Herr Studemund-Halévy, was sind sefardische Handschriften? | |
| Michael Studemund-Halévy: Es sind Manuskripte sefardischer Juden, die – | |
| anders als die aus Osteuropa stammenden aschkenasischen Juden – im 17. | |
| Jahrhundert vor der Inquisition aus Spanien und Portugal in die Hafenstädte | |
| des Nordens flohen. Zum Beispiel nach Antwerpen, Amsterdam oder Hamburg. | |
| Die 35 Handschriften im Besitz der Hamburger Staats- und | |
| Universitätsbibliothek, die wir jetzt erstmals in einer Ausstellung zeigen, | |
| haben portugiesische Gelehrte, Ärzte und Rabbiner Mitte des 17. | |
| Jahrhunderts in Amsterdam verfasst. Zu nennen wären vor allem Isaak Orobio | |
| de Castro, Elias Montalto, Saul Levy Morteira, Menasseh ben Israel und | |
| Rafael d’Aguliar. | |
| Wovon handeln diese Texte? | |
| Es sind – und da ist der Hamburger Bestand einzigartig – ausschließlich | |
| antichristliche Polemiken. | |
| Wie ist das zu erklären? | |
| Das hängt mit dem historisch-religiösen Hintergrund zusammen. Die Juden in | |
| Spanien waren 1492 aus Spanien ausgewiesen worden. Wer nicht gehen wollte, | |
| konvertierte zum Christentum. Die portugiesischen Juden wurden 1497 | |
| zwangsgetauft. Als Portugal 1580 durch Erbfolge spanisch wurde und eine | |
| Auswanderung oder Flucht leichter wurde, ließen sie sich in Amsterdam und | |
| Hamburg nieder, später auch in der Karibik. In den Städten des Exils trafen | |
| sie zwar nicht auf Katholiken, aber auf Protestanten, Calvinisten, | |
| Reformierte. Konfessionsübergreifend verbreitet war damals der Messianismus | |
| – der unter Juden wie Christen verbreitete Glaube, dass der Messias bald | |
| komme beziehungsweise wiederkehre. | |
| Und worum geht es in den Hamburger Handschriften? | |
| Die sefardischen Rabbiner widerlegen darin etliche christliche Dogmen: Dem | |
| Christentum zufolge herrscht zum Beispiel mit der Ankunft des Messias | |
| schlagartig Frieden auf Erden. Da das nicht eintrat – so die Argumentation | |
| –, kann Jesus Christus nicht der Messias gewesen sein. Das wurde anhand | |
| verschiedener Passagen der hebräischen Bibel diskutiert. | |
| Wie kamen diese Texte an? | |
| Nicht gut. Die jüdischen Gemeinden fürchteten, durch die Veröffentlichung | |
| antichristlicher Schriften den Zorn der Christen auf sich zu ziehen und die | |
| Sicherheit ihrer Gemeinde zu gefährden. Auch innerhalb der jüdischen | |
| Gemeinden erzeugten diese Schriften Konflikte. Einige ließen die gedruckten | |
| Exemplare beschlagnahmen oder verbrennen, andere verbannten den Autor aus | |
| ihrer Mitte oder zeigten ihn bei den Behörden an. | |
| Hätten die Autoren nicht anonym veröffentlichen können? | |
| Doch, und das geschah auch. Unter der Hand wurden oft „klandestine | |
| Handschriften“ an Interessierte weitergegeben – Geheimdrucke, die unter | |
| verändertem Autoren- und Ortsnamen erschienen. Außerdem wurden die Skripte | |
| fleißig kopiert und ins Englische und Französische übersetzt. Ende des 17. | |
| Jahrhunderts kamen dann viele Manuskripte in Auktionen und wurden auch der | |
| christlichen Mehrheitsgesellschaft zugänglich. | |
| Interessierte die sich dafür? | |
| Sehr. Die Abschriften der Manuskripte wurden von Anfang an übersetzt und | |
| von englischen und französischen Freidenkern wie Voltaire gelesen. Diese | |
| Philosophen stellten dann – mit Hilfe der jüdischen Argumentation – nicht | |
| nur die Dogmen der christlichen Kirche infrage, sondern das ganze | |
| Christentum. Die sefardischen Handschriften spielten also eine wichtige | |
| Rolle bei der radikalen Aufklärung, die ja zunächst von Frankreich ausging. | |
| Dabei hatten die jüdischen Verfasser das gar nicht beabsichtigt. Sie | |
| wollten eigentlich eine innerjüdische Debatte darüber führen, ob die | |
| christlichen Lehren schlüssig seien. | |
| Und wer waren Moses Maimonides und Uriel da Costa, die der Hamburger | |
| Ausstellungstitel nennt? | |
| Der Arzt, Philosoph und Gelehrte Moses Maimonides wird noch heute als | |
| großer jüdischer Gelehrter des Mittelalters verehrt. Weniger geschätzt | |
| wurde der religionskritische Autor Uriel da Costa, der sich 1604 das Leben | |
| nahm, nachdem seine Schriften verboten, eingezogen oder verbrannt worden | |
| waren. Mit den beiden Namen schlagen wir den Bogen vom orthodoxen Judentum | |
| des Mittelalters zu den religionskritischen Debatten des 17. Jahrhunderts. | |
| Und wie nahmen christliche Theologen die jüdische | |
| Anti-Messias-Argumentation auf? | |
| Interessiert. Schon im 17. Jahrhundert hatte der Hamburger Hauptpastor | |
| Johannes Müller gute Kenntnisse der sefardischen Bücher und Handschriften, | |
| die er für seine – allerdings antijüdischen – Bücher nutzte. Das beweist, | |
| wie aufmerksam und argwöhnisch etwa Hamburger Protestanten die Literatur | |
| der Sefarden beobachteten. Auch Hamburgs Hauptpastor Abraham Hinckelmann | |
| besaß sefardische Handschriften, die später der renommierte Hamburger | |
| Pastor und Theologe Johann Christoph Wolf aufkaufte. Wolf hat die | |
| Gefährlichkeit der jüdischen Argumentation für das Christentum sehr klar | |
| gesehen, das geht aus seinen Briefen hervor. | |
| Zeigen Sie auch Skripte aus Wolfs Sammlung? | |
| Ja, zwei. Die meisten stammen allerdings aus der Sammlung des 1675 | |
| verstorbenen Sefarden Benjamin Mussafia Fidalgo aus Altona – dessen Grab | |
| übrigens auf dem fürs Weltkulturerbe angemeldeten jüdischen Friedhof Altona | |
| liegt. Fidalgo war ein gut situierter, aufgeklärter Kaufmann, der Lessing | |
| finanziell unterstützte und Französisch wie auch Plattdeutsch sprach. Er | |
| wollte Hamburger sein, sich integrieren. Das fiel den weltoffenen | |
| sefardischen Juden ohnehin leichter als den orthodoxen Aschkenasen. Die | |
| Sefarden waren die ersten modernen Juden, die Religion als Privatsache | |
| betrachteten. Ob Fidalgo die antichristlichen Schriften selbst gekauft oder | |
| geerbt hat, wissen wir allerdings nicht. Fest steht nur, dass sein Enkel | |
| die Skripte 1859 der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek | |
| verkaufte, wo sie bis heute lagern. | |
| 19 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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