# taz.de -- Michael Studemund-Halévy über Judenspanisch: "Eine sagenhafte Wel… | |
> Michael Studemund-Halévy lernt und lehrt Judenspanisch. Entdeckt hat er | |
> die alte Sprache der spanischen und orientalischen Juden durch Zufall in | |
> Rumänien. | |
Bild: Will am liebsten alles im Original lesen können: Michael Studemund-Halé… | |
taz: Herr Studemund-Halévy, warum lehren Sie ausgerechnet Judenspanisch: | |
die alte Sprache der spanischen und orientalischen Juden? | |
Michael Studemund-Halévy: Das war eher Zufall: Da ich mich schon immer für | |
Sprachen interessierte, habe ich als Linguistik-Student drei Jahre in | |
Bukarest verbracht. Das war noch zu Zeiten von Ceausescu - und im | |
Nachhinein ziemlich blauäugig. Aber die Qualität der Lehre war vorzüglich, | |
und es gab dort wunderbare Bibliotheken. Und eine judenspanische Gemeinde. | |
Wie groß war sie? | |
Sie war winzig und bestand aus rund 250 Menschen, von denen die Hälfte noch | |
Judenspanisch sprach. Da ich Spanisch und Portugiesisch schon konnte, fand | |
ich es nicht schwer, Judenspanisch zu lernen. | |
Was ist das für eine Sprache? | |
Es ist die Exil-Sprache der sephardischen Juden: eine Mischung aus dem | |
Spanischen des 15. Jahrhunderts sowie Hebräisch und den Sprachen der | |
Länder, in die die spanischen Juden nach ihrer Vertreibung 1492 emigrierten | |
- auf den Balkan, ins Osmanische Reich, in den Maghreb und den Vorderen | |
Orient. | |
Wer spricht heute noch Judenspanisch? | |
Weltweit rund 25.000 Menschen. In der Türkei gibt es 22.000 Sepharden, von | |
denen aber nur 600 bis 800 Judenspanisch sprechen. In Bulgarien leben 3.000 | |
Sepharden mit 250 bis 300 Sprechern des Judenspanischen. In Serbien zwei | |
Sprecher, in Slowenien, Bosnien, Herzegowina, Makedonien und Griechenland | |
nur noch wenige. Dafür aber in Paris, London, den USA - und in Israel. | |
Sind sie alle Muttersprachler? | |
Nein, niemand spricht Judenspanisch mehr als Muttersprache. Und in der | |
nächsten Generation wird das Judenspanische nur noch Erinnerung sein. | |
Was hat Sie eigentlich am Judenspanischen gereizt? | |
Einerseits, dass es eine interessante Mischsprache ist. Andererseits, dass | |
sie nicht in lateinischen Buchstaben geschrieben wird. Sie wird in einer | |
besonderen hebräischen Schrift, der Raschi-Schrift gedruckt und in der | |
Solitreo-Schrift geschrieben. | |
Wie das Jiddische, das Äquivalent der osteuropäischen Juden - der | |
Aschkenasen. | |
Nicht ganz, aber das Verfahren ist sehr ähnlich. Jiddisch ist quasi | |
Mittelhochdeutsch in hebräischen Lettern. Und wie Judenspanisch ist | |
Jiddisch eine heimatlose Sprache mit Worten aus dem Hebräischen und aus den | |
Ländern, in denen diese Menschen leben. | |
Dann gibt es noch das Ladino. | |
Ja, die sakrale Sprache des Judenspanischen: Es ist eine schriftliche | |
Wort-für-Wort-Übersetzung alter hebräischer Bibeltexte. | |
Konkurrieren sephardische und aschkenasische Juden miteinander? | |
Ja, und das hat historische Gründe. Die Aschkenasen waren bis zur | |
Aufklärung verarmte deutsche, polnische, ukrainische und weißrussische | |
Juden. Die Sepharden dagegen waren vom 13. bis zum 15. Jahrhundert in | |
Spanien, Portugal und der arabischen Welt gut verankert. Sie saßen an | |
Königshöfen, waren Minister oder hatten einflussreiche Funktionen. Sie | |
erlebten eine kulturelle Blütezeit und blickten - nicht immer zu Recht - | |
herab auf die ungebildeten aschkenasischen Kaftan-Juden aus dem armen | |
Schtetl. Dies war jedenfalls das Selbstbild. Aber da ist sicher auch viel | |
Mythos. Denn so scharf verliefen die Grenzen zwischen den beiden Gruppen | |
natürlich nicht. Später ist das umgekippt. | |
Warum? | |
Einerseits, weil die spanischen Juden nach Pogromen und Alhambra-Edikt 1492 | |
vor die Wahl gestellt wurden, zu konvertieren oder auszuwandern. Etliche | |
gingen daraufhin nach Nordafrika, in den Vorderen Orient oder in den Balkan | |
oder in das damalige Osmanische Reich. Dort brachen aber ab 1860 Kriege | |
aus, und die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich. Deshalb wanderten | |
die Sepharden erneut aus, diesmal in westliche Metropolen. Im Laufe der | |
Zeit verarmten sie, während die einst gering geschätzten Aschkenasen | |
wirtschaftlich und kulturell aufholten. | |
Und das Judenspanische verfiel. | |
Jedenfalls auf dem Balkan. Denn infolge der Auswanderung sank die Zahl der | |
Sprecher schnell. Und wer dort blieb, lernte die neuen Nationalsprachen wie | |
zum Beispiel Serbisch, Griechisch oder Türkisch, sodass das Judenspanische | |
bald nur noch Familiensprache war. Den entscheidenden demografischen | |
Niedergang löste allerdings der Holocaust aus. Die Nazis haben fast alle | |
griechischen und serbischen Juden ermordet. | |
Definieren Sie selbst sich als jüdisch? | |
Sehr viel, was ich tue, hat mit dem jüdischen Erbe zu tun. Insofern gibt es | |
schon eine starke Bindung. Die jüdische Religion allerdings hat für mich | |
keine praktische Bedeutung. Ich weiß auch nicht besonders viel darüber. Und | |
das Wenige weiß ich durch Lektüre, aber nicht durch gelebte Traditionen. | |
Nicht durch gelebtes Leben. Leider! | |
Ist Ihr Jüdischsein für Ihren Alltag von Bedeutung? | |
Nein. Das klingt jetzt etwas dramatisch, aber man ist durch die Geschichte | |
ja auch etwas davon abgehalten worden. Es gibt für ein jüdisches Leben | |
einfach keine Strukturen mehr. Früher gab es hier in Hamburg zum Beispiel | |
das Grindelviertel mit einer dezidiert jüdischen Infrastruktur von der | |
jüdischen Schule bis zu koscheren Lokalen. Heute lebt man hier in einem | |
vollkommen nichtjüdischen Milieu. Das heißt, man ist um diese Erfahrung | |
betrogen worden. | |
Sie haben Französisch, Portugiesisch, Spanisch, Rumänisch und Hebräisch | |
gelernt. Warum? | |
Weil ich frei sein will, alles im Original zu lesen, was ich will. Schon | |
als Kind wollte ich nicht ausgeschlossen sein und finde es unangenehm, wenn | |
es ein Buch gibt, das wichtig ist, und ich steh davor wie der berühmte Ochs | |
vorm Berg. | |
Aber Sie sprechen auch gern. | |
Inzwischen ja, aber früher war das ein Problem. Wie Sie hören, habe ich | |
einen kleinen Sprachfehler. Der war früher noch stärker, und deshalb wollte | |
ich als Jugendlicher nicht sprechen, zumindest nicht öffentlich. Irgendwann | |
habe ich bemerkt, dass ich sehr wohl sprechen kann: Sobald ich nämlich vor | |
Publikum stehe, werde ich immer ruhiger. Dann tue ich alles, um die Leute | |
nicht zu langweilen. Ich darf allerdings nicht ablesen. Das geht dann | |
häufig schief. | |
Welche Sprache sprechen Sie denn am liebsten? | |
Am stärksten emotional besetzt ist wohl das Portugiesische. Obwohl ich | |
Französische objektiv besser spreche. Aber das ist eine andere Ebene. | |
Sie erforschen speziell die sephardischen Juden, die ja die ersten Juden | |
Hamburgs waren. Warum tun Sie das? | |
Es ist interessant. Wenn man über die sephardische Welt gelesen und | |
gearbeitet hat, gerät man ein bisschen hinein in diese sagenhafte, maßlos | |
überhöhte sephardische Welt des Spätmittelalters, als die Sepharden an den | |
Königshöfen von Madrid und Lissabon ein- und ausgingen. | |
Wie standen die Aschkenasen dazu? | |
Etliche legten sich - besonders im 19. Jahrhundert - eine sephardische | |
Vergangenheit zurecht - wie Heinrich Heine. Der wollte unbedingt Sepharde | |
sein. | |
Waren Ihre Vorfahren Sepharden? | |
Nein, Aschkenasen. | |
12 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
Petra Schellen | |
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