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# taz.de -- Debatte Ganztagsschule: Nichts für Familienfundis
> Die Politik will den schulischen Ganztag garantieren – bis 16 Uhr. Doch
> eine angemessene Betreuung am Nachmittag ist nicht in Sicht.
Bild: Statt die Schüler im Regen stehen zu lassen, sollte die Betreuung besser…
Vor ein paar Jahren berichtete die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
(FAS) aus dem nordbadischen Walldorf. In der Kleinstadt bei Heidelberg hat
die Softwarefirma SAP ihren Sitz. Hier wohnen viele junge Familien, in
denen beide Eltern beim größten Arbeitgeber des Ortes beschäftigt sind. Oft
sind sie zugezogen, die Großeltern leben weit entfernt – sie brauchen eine
zuverlässige Kinderbetreuung den ganzen Tag über. Dank hoher
Steuereinnahmen konnte die Kommune auf diese Wünsche reagieren. Mit großem
finanziellen Aufwand richtete sie „gebundene“ Ganztagsschulen ein. Im
Gegensatz zum Offenen Ganztag (Ogata), wo der Besuch nach dem Mittagessen
freiwillig ist, gilt eine Schulpflicht. Immerhin bis 17.30 Uhr (auch wenn
dann längst nicht alle SAP-Angestellten mit der Arbeit fertig sind) werden
die Kinder durch städtisches Personal versorgt.
Solche Angebote sind immer noch die Ausnahme – und der Frankfurter
Allgemeinen Anlass zu grundsätzlicher Kritik. „Bis die Sonne untergeht“
titelte das Hausblatt der deutschen Konservativen. „Manche Kinder werden
schon um sieben Uhr früh gebracht – die kommunalen Betreuer stehen eine
Stunde vor Unterrichtsbeginn bereit. Die Schüler kommen im Dunkeln und
gehen in der Dämmerung. Betreuung bis zu zehneinhalb Stunden am Tag, 50
Stunden in der Woche. Für manche Berufstätige mag das ein Traum sein. Und
für die Kinder?“
CDU-Bürgermeisterin Christiane Staab ist Mutter von vier Kindern und trägt
den Spitznamen „Die von der Leyen von Walldorf“. Sie schwärmt von der
Schule als „Lebensraum“, der Ganztag könne „ein Stück weit Familie
ersetzen“. In der Schiller-Grundschule etwa hat jede Klasse zwei Räume:
einen für den Unterricht und einen für das „Differenzieren“, das gezielte
Weiterlernen nach persönlichem Bedarf. Es gibt eine Mensa, spannende
Arbeitsgemeinschaften und einen Wasserspielplatz. Bildung in Vielfalt und
durchaus entspannt – aber ein Horrorszenario für Familienfundamentalisten.
In dem FAS-Bericht hat ein Junge am ersten Schultag „um zwei Uhr Heimweh“
und überhaupt: „Immer mehr Kinder sind verhaltensauffällig.“ Denn im
Ganztagssystem sei die „Basisstation“ nicht mehr die „elterliche Wohnung,
sondern die Institution“.
Die Zeitung zitiert Psychologen und Kinderärzte, die betonen, wie wichtig
Nichtstun für die menschliche Entwicklung sei: „Toben ohne Trainer, Ruhe
ohne Zeitfenster, Rückzug ohne Rückzugsecke. Viele Kinder können das schon
gar nicht mehr: sich ausklinken.“ Und, als Wink an die Eltern: „Manche
vergessen, dass dieses durchgetaktete Leben nicht eine Zusammenballung von
Umständen ist, an denen sich nichts ändern lässt, sondern die Summe von
Entscheidungen, die sie selbst getroffen haben.“
## Ökonomische Zwänge ignoriert
Doch das ist der springende Punkt: selbst getroffene Entscheidungen? Wer
über zu viel „Programm“ und das Verplanen der Kindheit klagt, ignoriert die
ökonomischen Zwänge, die familienfeindlichen Strukturen der Erwerbswelt.
Das Software-Projekt von SAP muss eben unbedingt fertig werden! Und wo gibt
es reduzierte Arbeitszeiten für Eltern, die nicht gleich zum Karriereknick
führen? Kinder, die durch Schnee und Regen stapfen, noch bevor die Sonne
aufgeht – das ist in der Tat kein schöner Gedanke. Warum aber fängt die
deutsche Schule um acht Uhr an, teilweise sogar früher? Wieso nicht um
neun, wie in Großbritannien, oder für Jugendliche noch später, wie
Chronobiologen empfehlen?
Hier beißt sich die konservative Kulturkritik in den Schwanz. Denn der
zeitige Beginn ist notwendige Voraussetzung des von ihr betrauerten
Halbtagssystems, anders ist das Lernpensum nicht zu schaffen. Mit der
Entzerrung des Unterrichts dagegen ergeben sich, ganz im Sinne der
Entwicklungspsychologie, neue Möglichkeiten. Warum werden sie nicht
genutzt? Der frühe Start ist ein Relikt der Industrialisierung, er soll
disziplinieren für künftige Anforderungen wie Pünktlichkeit und Anpassung.
Der „frühe Vogel“ frisst, so das gern bemühte Bonmot, den Wurm. Ein
(ökonomisch nicht besonders erfolgreiches) ostdeutsches Bundesland warb
einst mit dem Slogan „Willkommen im Land der Frühaufsteher“.
Das Halbtagssystem ist ein (west-)deutscher Sonderweg, in fast allen
europäischen Ländern ist Nachmittagsunterricht selbstverständlich.
Ideologische Grundlage ist die Ablehnung von Erziehung als öffentlicher
Aufgabe. „Verwahranstalten“, „Rabenmütter“ oder „Schlüsselkinder“…
deutsche Begriffe, die es in anderen Sprachen nicht gibt. So ist in
Frankreich der Staat als pädagogische Instanz seit der Aufklärung positiv
besetzt – während man in der Tradition deutscher Innerlichkeit und nach dem
Nationalsozialismus totalitäre Indoktrination wittert. Deshalb soll Schule
ihre „Einmischung“ auf wenige Stunden beschränken.
Weil das nicht mehr zur selbstverständlichen Berufstätigkeit der Mütter
passt, debattieren Politiker jetzt über das Recht auf den Ganztag. Der Mut
zum großen Wurf aber fehlt, man betreibt Flickschusterei und improvisiert
mit Billigvarianten. Der Offene Ganztag bedeutet in der Regel Unterricht am
Vormittag mit anschließender Beaufsichtigung durch schlecht bezahlte
Hilfskräfte. An vielen Schulen gibt es keine richtige Küche, nicht einmal
eigene Räume für die Mittagspause. Lehrer und Lehrerinnen sind zwischen 13
und 14 Uhr verschwunden, die Versorgung der Kinder übernehmen freie Träger
oder Ehrenamtliche aus Vereinen. In den Ferien, rund einem Viertel des
Jahres, läuft meist gar nichts.
Künftig soll es einen Anspruch auf Betreuung in der Grundschule bis 16 Uhr
geben – so diskutieren es die potenziellen Koalitionäre einer neuen
Bundesregierung. Notwendig aber wäre ein selbstverständlicher
Ganztagsunterricht, in dem sich Lernen und Freizeit abwechseln. Nur so
würde das zermürbende Jonglieren der Eltern zwischen Stunden- und
Schichtplänen beendet.
25 Jan 2018
## AUTOREN
Thomas Gesterkamp
## TAGS
Ganztagsschule
Bildungspolitik
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