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# taz.de -- Psychotherapie für Geflüchtete: „Es geht um Menschenrechte“
> Nicht jedes Trauma macht krank, sagt der Psychologe Dietrich Koch. Vor
> dreißig Jahren gründete er Xenion, ein Beratungs- und Therapiezentrum für
> Geflüchtete.
Bild: 30 bis 50 Prozent aller Geflüchteten kommen hierher mit einer Traumatisi…
taz: Herr Koch, was war 1987 los, dass Sie und ein paar Mitstreiter
meinten, Berlin brauche ein Beratungs- und Therapiezentrum für
traumatisierte Geflüchtete und Folteropfer?
Dietrich Koch: Es gab damals immer mehr Wohnheime für Flüchtlinge – und die
entwickelten sich mit der Zeit zu sozialen Brennpunkten mit Kriminalität,
Drogen, Gewalt und so weiter. Die Träger waren aber auf diese Probleme in
keiner Weise vorbereitet. Also haben Mitarbeiter aus den Wohnheimen und
niedergelassene Therapeuten eine Initiativgruppe gegründet. Es gab auch
Vorläufer für so ein Zentrum in anderen europäischen Ländern. Da haben wir
uns Ideen geholt.
Es gab damals schon so große Heime wie heute?
Bis Ende der 70er Jahre war es üblich, Flüchtlinge dezentral in Wohnungen
unterzubringen. Dann fing man an, das zu „zentralisieren“, die erste
Kaserne für Flüchtlinge wurde in NRW eröffnet, das gab einen
Riesenaufschrei in der Öffentlichkeit. Es hieß damals beschwichtigend, das
sei nur vorübergehend, aber dieser Zustand ist ja leider Dauerzustand
geworden!
Und Sie haben damals schon festgestellt, dass diese Wohnsituationen
Probleme schaffen?
Ja, es gab damals zum Beispiel eine Studie von einem Kollegen, (Jean Claude
Diallo: Die psychischen Folgen von Sammellagern), der hat Menschen in
dieser Kaserne untersucht mit dem Ergebnis: Nach einem halben Jahr ist dort
selbst ein Gesunder krank! Wir haben daher gesagt, das müssen wir anders
organisieren, Menschen mit Traumata müssen entsprechend erkannt und
behandelt werden.
Woher kamen damals die Flüchtlinge hauptsächlich?
Als ich anfing, kamen noch viele Flüchtlinge aus Lateinamerika,
Argentinien, Chile, aber das hörte Ende der 80er langsam auf. Die Iraner
waren die Ersten, mit denen ich zu tun hatte. Dann kamen die Kurden aus der
Türkei. Die waren schon länger in der Stadt, haben sich aber mit uns zuerst
schwergetan.
Warum?
Kurden gehen nicht zum Psychiater, man ist nicht verrückt. Wir mussten
ihnen daher erst eine Brücke zu uns zu bauen. Eine Anekdote: Ein Klient kam
zu mir, ein Drehtürpatient aus der Psychiatrie, er war also schon mehrmals
in Behandlung gewesen. Niemand wusste mehr etwas mit ihm anzufangen. Meine
erste Frage war: Warum sind Sie in Deutschland? Wir haben über seine
Verfolgung geredet, dass er gefoltert wurde im Gefängnis in der Türkei. Er
wollte damals aus dieser Foltersituation entkommen und hat verrückt
gespielt, hat seinen Folterer umarmt und geküsst und mit „Bruder“
angeredet. Da haben sie ihn in die Psychiatrie gebracht.
Das war sein Ausweg?
Ja, aber in der Psychiatrie ist er weiter behandelt worden mit
Elektroschocks und Medikamenten. Das hat ihn wirklich zusammenbrechen
lassen. Ich habe dann angeboten, dass wir seine Erlebnisse als Bericht
verfassen und er ihn seinem Anwalt gibt, damit das ins Asylverfahren
Eingang findet. Das hat sich bei den Kurden rumgesprochen. Fortan war ich
für sie nicht mehr Psychotherapeut, sondern ein „Doktor der
Menschenrechte“. Ich dachte, wunderbar, wenn das die Brücke ist, dann mache
ich meine Psychotherapie halt nebenbei. Es stimmt ja auch: Jeder Mensch
wird nach derart extremen Erfahrungen aus dem psychischen Gleichgewicht
geworfen und zeigt pathologische Reaktionen. Man muss also über diese
unmenschlichen Verhältnisse reden.
Aber Sie sind Therapeut, kein Politiker, Sie können die Umstände nicht
ändern.
Ja, aber wir haben ein gemeinsames Interesse mit unseren Klient*innen: die
Durchsetzung der Menschenrechte. Was in einem sozialen und politischen
Kontext zerstört wurde, kann nur in und mit diesem Kontext heilen. Wir
gehen hier in der Therapie nicht ausschließlich auf psychische Symptome
los.
Sondern?
Ein Trauma macht nicht zwangsläufig krank und heilt eigentlich auch. Man
hat eine epidemologische Studie gemacht und herausgefunden, dass „nur“ 30
bis 50 Prozent der Menschen, die ein schweres Trauma erlebt haben, krank
werden auf längere Sicht, also nach einem halben Jahr noch Symptome zeigen.
Die andere Hälfte nicht?
Genau. Sie haben eine Möglichkeit, das Trauma zu verarbeiten. Traumatisiert
heißt ja nicht gleich krank. Es gibt Menschen, die aufgrund ihrer
persönlichen Voraussetzungen mit einem Trauma besser umgehen können als
andere. Punkt zwei: Von denen, die tatsächlich krank und behandelt wurden,
wurden 50 Prozent nach drei Jahren gesund. Von denen, die krank und nicht
behandelt wurden, wurden 50 Prozent nach vier Jahren gesund.
Heißt das, Traumatisierte brauchen eine Therapie nicht unbedingt?
(lacht) Nun mal langsam. Man hat herausgefunden: Wenn Menschen ein
funktionierendes soziales Netz haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie
sich von einem Trauma erholen, selbst wenn sie krank sind, relativ hoch.
Ein solches Netz haben Flüchtlinge eher nicht.
Das ist das Problem. Darum haben wir 1997 angefangen bei Xenion,
Ehrenamtlichen-Netzwerke einzuführen, zuerst für Jugendliche, dann für
Erwachsene. Seither arbeiten wir mit ehrenamtlichen Mentoren.
Wenn 30 bis 50 Prozent von allen Geflüchteten, die kommen, ein Trauma
haben, bleiben zwangsläufig die meisten unbearbeitet. Was bedeutet das?
Laut der erwähnten Studie werden 10 Prozent der Erkrankten langfristige
Probleme haben. Ohne Therapie werden sie zum Beispiel oft wegen
„Schlafproblemen“ oder „Depressionen“ behandelt – eine gängige
Fehldiagnose. Das ist misslich, kann man aber nicht so schnell ändern. Weil
es gar nicht genug Therapeuten gibt.
Wieso nicht?
Für niedergelassene Therapeuten sind Flüchtlinge als Klienten schwierig
wegen der interkulturellen Barrieren, weil wir mit Dolmetschern arbeiten
müssen – aber auch abrechnungstechnisch. Bislang wird daher die
Psychotherapie solcher Fälle hauptsächlich von uns und dem
Behandlungszentrum für Folteropfer/Stiftung Überleben übernommen. Immerhin:
Im neuen Haushaltsplan für 2018/19 will uns Rot-Rot-Grün 200.000 Euro mehr
zukommen lassen, das ist eine Erhöhung unseres bisherigen Etats um 39
Prozent.
Wie viele Leute können Sie versorgen?
Im Augenblick behandeln wir über 1.000 Menschen im Jahr, mehr geht nicht,
wir haben einen Aufnahmestopp. Das heißt, Krisenfälle, etwa bei
Suizidgefahr, müssen wir schon aufnehmen. Aber wir müssen aktuell rund
zwanzig Anfragen in der Woche abweisen.
Wie kommen die Leute eigentlich zu Ihnen?
Ich denke, etwa 80 Prozent sind vermittelt über Ärzt*innen,
Rechtsanwält*innen, Beratungsstellen, Unterkünfte etc. 20 Prozent über
Mund-zu-Mund-Propaganda. Das lustigste Beispiel: Jemand kam mit unserer
Visitenkarte her. Die habe er in einem Flüchtlingslager im Irak bekommen,
erzählte der Mann.
Machen Sie auch Gutachten für Flüchtlinge, die abgeschoben werden sollen?
Ja, das haben wir sogar mit angeschoben. Wir hatten schon früh Fälle, wo
Traumatisierte aufgrund ihrer Symptomatik im Asylverfahren negativ
beurteilt wurden. Weil sie ihre Geschichte nicht erzählen konnten, zum
Beispiel weil sie bei der Anhörung ein Flashback-Erlebnis hatten.
Und wenn Sie das dem Bamf erklären?
Tatsächlich haben wir im Jahr 2000 erreicht, dass die Berichte von
Sachverständigen ins Asylverfahren aufgenommen werden konnten. Eine Zeit
lang haben wir sogar Bamf-Mitarbeiter geschult. Ein guter Entscheider kann
ja mit einfühlsamen Fragen auch vieles herausarbeiten. Aber vor zwei
Jahren, als die vielen Flüchtlinge kamen, hat sich die politische
Großwetterlage wieder geändert.
Und das hieß?
Das Bundesamt stellte hunderte neue Mitarbeiter ein, die kaum geschult
waren. Außerdem machte das Amt schon seit 2005 Schulungen, wie seine
Mitarbeiter die psychiatrischen Gutachten wieder aus dem Feld stechen
können. Weil man befürchtete, dass über Traumagutachten eine Tür
aufgerissen wird. Das ist zwar unsinnig, weil es so viele Gutachten
überhaupt nicht gibt. Aber man weiß jetzt eben, dass theoretisch 30 bis 50
Prozent der Flüchtlinge mit einer traumabedingten Erkrankung ankommen
könnten. Und das wären Anerkennungsquoten, die keiner will. Hinzu kommen
jetzt noch diese Schnellverfahren, die man ja offiziell lieber
Direktverfahren nennt.
Was ist damit?
Die Leute bekommen heute oft binnen wenigen Tagen ihr Interview und eine
Entscheidung des Amtes. Da bekommen wir gar kein Bein mehr in die Tür. Nur
in den wenigen Fällen, wo die Leute zu uns kommen, bevor sie ins Verfahren
gehen. Wenn wir da eine Stellungnahme abgeben – wir sind ja inzwischen
zusammen mit dem Behandlungszentrum für Folteropfer die „Fachstelle für die
Früherkennung von Überlebenden extremer Gewalt“ – können wir im
Asylverfahren noch Weichen stellen. Aber da stehen wir noch sehr am Anfang,
wir nehmen gerade erst Kontakt auf mit den neuen Stellen beim Bamf für
Direktverfahren.
Wenn der Mensch abgelehnt wird: Hilft dann wenigstens ein Gutachten von
Ihnen, dass er nicht abgeschoben werden darf wegen psychischer Probleme?
Wenn der Betreffende rechtskräftig abgeschoben werden soll und damit die
Ausländerbehörde zuständig wird, nicht mehr. Denn seit dem
Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz von 2015 werden bei der Abklärung von
Abschiebungen nur noch fachärztliche Atteste anerkannt werden – nicht mehr
die von psychologischen Psychotherapeuten. Es wäre uns ein großes Anliegen,
das wieder politisch zu ändern. Andererseits: Wir arbeiten 30 Jahre mit der
Ausländerbehörde zusammen. Und sobald es um die Gefahr von Suizidalität
geht, kann man unsere Bedenken nicht einfach vom Tisch wischen. Die Behörde
hat eine Verantwortung und darf da keinen Fehler machen.
10 Jan 2018
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
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