# taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Gabriels antiliberale Avancen | |
> Freiheit, Gleichstellung, Gleichberechtigung. Liest man Sigmar Gabriels | |
> Essay, ist das alles nur Gedöns der Postmoderne. | |
Bild: „Kleiner Mann – was nun?“, fragt sich Gabriel | |
Die SPD hat einen bemerkenswert illusionistischen Bundestagswahlkampf | |
hingelegt, einen neuen Tiefpunkt von 20 Prozent erreicht und dann ein | |
weitgehend inhaltsfreies Erneuerungsgerede begonnen, das nun auf die Frage | |
reduziert wird, ob man wieder mitregiert oder nicht. Wobei unklar ist, was | |
davon aus Sicht von Frau Nahles mehr „bätschi“ wäre. | |
Damit verglichen, hat der jüngste Spiegel-Essay des früheren Vorsitzenden | |
Sigmar Gabriel eine hohe analytische und intellektuelle Qualität. Während | |
die einen die „Atomisierung von Arbeits- und Lebenswelten“ im | |
demokratischen Kapitalismus feierten – er nennt Grüne und Liberale –, sei | |
es für einen nicht geringen Teil der Leute ein „traumatischer Abschied“. | |
Zusammengefasst: Die Moderne war sozialdemokratisch geordnet und super für | |
alle, die Postmoderne ist zu liberal und zu grün, und deshalb revoltieren | |
immer mehr. | |
Bernd Ulrich hat in der Zeit bereits auf Gabriels „Denkfehler“ hingewiesen, | |
progressive Identitätspolitik und Ökologie als „postmoderne liberale | |
Debatten“ für eine Elite zu bezeichnen. Als gebe es in Arbeiterfamilien | |
keine Schwulen, die heute dank der liberalen Entwicklung besser und weniger | |
verdruckst leben. Vollends krude wird es, die Verhinderung einer imminenten | |
Klimakatastrophe als Schnupsi-Thema anzusehen. Man kann nicht Partei einer | |
gerechteren Zukunft sein wollen und den größten Ungerechtigkeitsfaktor | |
ausblenden und die ganze Zukunft gleich mit. | |
Und dennoch greift es viel zu kurz, Gabriel in der üblichen Antidenkvolte | |
aufschreiend nach „rechts“ zu schieben, weil er die Ehe für alle nicht für | |
so wichtig hält. Es greift aber auch zu kurz, ihn umgehend jubelnd nach | |
„links“ zu schieben, weil er sich gegen die Postmoderne wendet und damit | |
wieder den einfachen Menschen vom Schlage seines leider in diesem Jahr | |
verstorbenen Namensvetters Gunter zuwendet („Hey Boss, ich brauch mehr | |
Geld“). | |
## Die Sehnsucht der vielen nach Geregeltem | |
Die neue europäische und US-amerikanische Protestbewegung ist ja nicht | |
zufällig im Kern antiliberal. Sie richtet sich gegen den globalen | |
Wirtschaftsliberalismus der letzten Jahrzehnte, der die politisch | |
regulierbaren Industriegesellschaften abgelöst hat. Aber eben auch gegen | |
die emanzipatorische Freiheitserweiterung des Einzelnen, die von 1968 | |
ausging – gegen die als restaurativ, patriarchalisch, rassistisch, | |
autoritär und nationalistisch wahrgenommene Johnson-, De-Gaulle- und | |
Adenauer-Industriegesellschaft. | |
Heute läuft die Attacke andersherum: Was die Angreifer „linksgrün versifft�… | |
nennen, ist nichts anderes als der normative Kulturkanon der | |
Mehrheitsgesellschaft. Wobei „Mehrheit“ sich eben auch auf die | |
Hegemonialkraft derjenigen beziehen könnte, die den Lebensstil der | |
Postmoderne überzeugt pflegen – nicht auf die Zahl. | |
Gegen die Entfaltung des Einzelnen steht jetzt die Sehnsucht der vielen | |
nach einem Geregelten. Das betrifft längst nicht nur AfD- oder | |
Linksparteiwähler, sondern eben auch relevante Teile der SPD und der Union. | |
Und die Übergänge zwischen einem ökonomisch und einem kulturell gespeisten | |
Gefühl des Abgehängtseins können fließend sein. | |
Im Grunde wirft Gabriel im Angesicht des Zerbröselns sozialdemokratischer | |
Parteien in Frankreich, den Niederlanden und anderswo also die berechtigte | |
Frage auf, ob sich die SPD nicht zurückziehen sollte aus dem Drittel der | |
Gesellschaft, das der Kultursoziologe Andreas Reckwitz die „neue | |
Mittelklasse“ nennt, und sich auf die alte Mittelklasse der Angestellten | |
ohne Hochschulabschluss und die neue Unterklasse der prekären Dienstleister | |
konzentrieren. Das Problem ist, dass es bei ihm klingt wie ein weiteres | |
antiliberales Projekt. Und dann wird es gefährlich. | |
24 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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