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# taz.de -- Die Wahrheit: Geduldet in der 1. Klasse
> Wie von Geisterhand verschwindet der Eisenbahnwagen mit dem reservierten
> Sitzplatz. Und nun? Da hilft nur die Flucht in ein Abteil mit noblen
> Insassen.
Huch, ist denn schon wieder Zeit für eine Jahresendflügelkolumne? Ist es!
Höchste Eisenbahn also für meine jährliche Eisenbahnkolumne! Vielleicht
überlebt diese Ausgabe sogar den Wechsel ins neue Jahr und liegt 2018 noch
irgendwo herum? Dann hätte ich hiermit mein Bahnkolumnensoll für gleich
zwei Jahre erfüllt. Nun gut, Türen schließen selbsttätig …
Zwischen Koblenz und Köln also fährt ein gemütlicher IC ohne E. Muffige
Luft, schön weiche Polster und Fenster, die man theoretisch noch aufmachen
kann. Bei Bonn irrte ich noch immer auf der Suche nach meinem reservierten
Sitzplatz (Wagen 9, Platz 93) durch den Zug. Ich hatte ihn, um genau zu
sein, bereits zweimal in seiner kompletten Länge durchmessen, ohne Wagen 9
finden zu können. Wagen 9 war offenbar in einem temporären Wurmloch
verschwunden.
Hilfesuchend wendete ich mich an den Schaffner, der wegen des
verschwundenen Wagens bereits von anderen Hilfesuchern bestürmt wurde, und
erntete auf meine Frage ein gereiztes „Sie sehen doch! Ich habe zu tun!“
Wäre mir eine pfiffige und fahrgastrechtlich abgesicherte Erwiderung
eingefallen, ich würde sie hier hinschreiben. War aber nicht so. Ich sah
doch. Er hatte zu tun.
Nun war der Zug wirklich sehr voll. Und zu den Dingen, die ich in meinem
Alter neben dem Tragen von „Iron Maiden“-T-Shirts nicht mehr zu tun pflege,
zählt das Auf-dem-Boden-Hocken in übervollen Zügen. Daher die Reservierung.
Also verfügte ich mich in die 1. Klasse, für die ich eigentlich noch nicht
alt genug bin, öffnete die Tür zu einem älteren und, wie sich herausstellen
sollte, ziemlich coolen Ehepaar.
„Ist hier noch frei?“ – „Aber gewiss!“, sagte leutselig der Herr: „…
gewähren Ihnen Asyl!“ Oha, das könnte interessant werden. „Subsidiärer
Schutz?“, fragte ich und nahm Platz. Die Frau lächelte eisig: „Kommt auf
Ihre Qualifikation an. Sie könnten uns aus DB mobil vorlesen …“ Okay,
Gegenangriff: „Jetzt, wo ich hier sitze, könnte ich auch meine Frau, meine
vier Brüder und meine vierzehn Kinder nachholen!“ Der Mann runzelte
skeptisch die Stirn: „Warum räumen Sie nicht erst mal in dem Wagen auf, aus
dem Sie kommen?“ – „Wagen 9 hat aufgehört zu existieren. Ich bin
heimatlos.“ – „Sind Sie wenigstens Christ?“, erkundigte sich die Frau.
„Atheist“, sagte ich und fügte rasch hinzu: „Sie dürfen aber beten, wenn
Sie wollen. Das stört mich nicht.“
Da schaute der Schaffner ins Abteil. Ich erklärte ihm, dass ich keine Karte
für die 1. Klasse hatte. „Wir dulden ihn aber“, rief die Dame. Der
Schaffner schüttelte den Kopf: „Das geht nicht, ich muss Sie …“ –
„Abschieben?“, warf der Herr ganz ungläubig ein. „… bitten, anderswo P…
zu nehmen, vielleicht im Bistro?“ Da rollten wir aber auch schon über die
Hohenzollernbrücke. Ich schnappte mein Bündel und drückte mich am Schaffner
vorbei: „Adieu, ich tauche jetzt unter!“
Jetzt hocke ich in Köln und warte auf Silvester. Dann schreite ich aus.
29 Dec 2017
## AUTOREN
Arno Frank
## TAGS
Bahn
Asyl
Waffenrecht
Sexualität
Empörung
Bahn
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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