| # taz.de -- Die Wahrheit: Zuhörends global | |
| > Man hört ja so allerhand: Die Fahrt mit dem Bummelzug von Schwerin nach | |
| > Berlin erlaubt erstaunliche Einblicke in Zeit und Raum. | |
| Wie ich mich kenne, hätte ich 1971 vermutlich abends auf dem Sofa gelegen, | |
| aus der Bong ein wenig Gras geraucht, gegen die Lust auf Süßes literweise | |
| Cola gekippt und, mit vernebeltem Blick auf das Gewühle in der Lavalampe, | |
| die komplette „Dark Side Of The Moon“ von Pink Floyd gehört. | |
| Nun haben wir 2017, Herbst, und ich liege auf dem Sofa, dampfe ein wenig | |
| Gras aus dem Vaporisator, kippe zuckerfreie Cola gegen die Lust auf Süßes | |
| und lausche, mit vernebeltem Blick auf das Lichterspiel der LED-Birne, | |
| „Dark Side Of The Moon“ in einer Interpretation der Flaming Lips. So sieht | |
| also die Zukunft auf, sinniere ich mit Wohlgefallen, alles wie früher, nur | |
| besser. Zeitreisen können sehr einfach und lehrreich sein. Manchmal lohnt | |
| es sogar, sich vom Sofa zu erheben. | |
| Erst neulich fuhr ich mit dem Regionalexpress von Schwerin nach Berlin. Zu | |
| meiner Schande muss ich gestehen, dass ich als geborener Westdeutscher mit | |
| Wurzeln in Westdeutschland und der weltanschaulich gefestigten Absicht, | |
| auch künftig in Westdeutschland zu bleiben, den ostdeutschen Norden bisher | |
| nur flüchtig zur Kenntnis genommen habe. Aber man hört ja so allerhand. | |
| Dünn besiedelt sei der Landstrich, ungefähr wie Sibirien. Bevölkert von | |
| Mücken, Wölfen sowie fremdenfeindlichen „Kartoffeln“, wie Deutsche | |
| neuerdings von Menschen mit Reis-, Fladenbrot- oder Nudelhintergrund höchst | |
| liebevoll genannt werden. | |
| Der Express benahm sich keineswegs expresshaft. Schon zwei Minuten nach | |
| Beginn der Reise hielt die Bahn in „Schwerin Mitte“, nach weiteren fünf | |
| Minuten kam es in „Schwerin Süd“ zum nächsten fahrplanmäßigen Halt – … | |
| diesem atemberaubend dampflokomotiven Tempo ging es weiter. Holthusen. | |
| Sülsdorf. Rastow. Lüblow, immer tiefer in die Vergangenheit mit ihren | |
| Hühnern in Freilandhaltung, lustlos in die Landschaft gewuchteten | |
| Plattenbauten, ausgeweideten Autowracks und struppigen Verkehrsinseln mit | |
| den Skulpturen lokaler Bildhauer in der Mitte. Kaum hatte der Zug Fahrt | |
| aufgenommen, machte er auch schon wieder Rast in Weilern wie Karstädt, | |
| Glöwen oder Breddin. | |
| Bemerkenswert waren, neben den geisterhaft leeren Straßen, die Bahnhöfe. | |
| Mal waren es historistische Paläste, mal wilhelminische Ziegelfestungen mit | |
| Giebeln und Erkern, mal klassizistische Tempel – und alle waren sie | |
| vergammelt und verrammelt. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie, vom | |
| Fahrtwind erfasst, nach hinten weggekippt wären wie Kulissen für einen | |
| Historienfilm. Und doch stieg mit jedem Halt der Ausländeranteil im | |
| Großraumabteil, fühlte ich mich sicherer. | |
| Wurde am Anfang vor allem auf Deutsch geschwiegen, belebte sich die | |
| Szenerie mit fröhlichem Geplapper in vielen Zungen, Arabisch, Türkisch, | |
| Englisch, Spanisch, internationalisierte sich der Regional- zuhörends zum | |
| Globalexpress. Es war, Station für Station, eine Bimmelbahn in die Zukunft. | |
| Am Ende der Reise kam der Reichstag in den Blick. Die Gegenwart, | |
| ernüchternd wie immer. | |
| 27 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Arno Frank | |
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