| # taz.de -- Die Wahrheit: Sprechen mit Schleifchen | |
| > Es ist ein defensives Sprechen, das mit der eigenen Kapitulation | |
| > kokettiert. Es kann einen zum Revolver greifen lassen – hätte man einen. | |
| Bild: Jürgen Knagge vor seinem „Schauspieler“ | |
| In jüngster Zeit häufen sich bei mir die Zeichen des Alterns, unübersehbar | |
| wie Verkehrsschilder bei der Annäherung an eine komplizierte Kreuzung. | |
| Kleingedrucktes ist nicht mehr lesbar. Jazz klingt erträglich. Noch Tage | |
| nach dem Boxtraining spüre ich Knochen, die ich gar nicht habe. Und haltlos | |
| breche ich in Tränen der Rührung aus, wenn etwa Heidi auf den Kirchturm | |
| steigt oder Mio, mein Mio, seinem Vater begegnet. | |
| Zugleich überkommt mich eine präsenile oder auch prototattrige | |
| Gleichgültigkeit bei wirklich wichtigen Dingen, vom Fernen bis zum Nahen. | |
| Die USA steigen aus allen Abkommen aus, die den blauen Planeten retten | |
| könnten? Tja, dann ist er eben nicht mehr zu retten. Das Finanzamt fordert | |
| all mein Geld, dazu meine rechte Niere und mein erstgeborenes Kind? Sei’s | |
| drum. | |
| Nun könnte ich seufzend den Rückzug ins Private antreten und tun, was ich | |
| schon immer tun wollte, beispielsweise ein maritimes Epos von 1.300 Seiten | |
| schreiben. Arbeitstitel: „Moby Dünn – der Weiße Aal“. Leider reizen mich | |
| aber immer häufiger winzigste Alltagsdetails bis aufs Blut, namentlich | |
| verbale Marotten. | |
| Die Top drei der Scheußlichkeiten, die mich neuerdings sofort zum Revolver | |
| greifen ließen, wenn ich denn einen hätte, lautet wie folgt. Platz 3: Das | |
| bäuerchenhaft dahergeblökte „Mahlzeit!“ als Gruß zu jeder Tageszeit. Pla… | |
| 2: Die Unsitte, selbst nichtigste persönliche Bekenntnisse mit der Wendung | |
| „Ich bin ja ein Mensch, der …“ einzuleiten, also: „Ich bin ja ein Mensc… | |
| der Jazz erträglich findet“, als wäre man Teil einer größeren Gruppe | |
| geistesverwandter Menschen und damit erst autorisiert, Jazz erträglich zu | |
| finden. | |
| Platz 1 allerdings gebührt unangefochten einer wahren Sprachpest. Erst | |
| neulich begegnete ich ihr wieder, als im Deutschlandradio ein Jazzpianist | |
| aus Osnabrück oder Olpe oder so über seine Kunst sprach. Gefragt, was ihn | |
| denn an seinem Genre so reize, antwortete er nachdenklich: „Mir gefällt, | |
| dass ich mit Musik (– Pause –) kommunizieren kann?“ Ich erstarrte. Er | |
| redete weiter: „Ich kenne das aus (– Pause –) Amerika? Wo ich lange (– | |
| Pause –) gearbeitet habe?“ | |
| Ein Erhöhen der Tonlage kurz vor Ende eines Satzes ist in Ordnung, sofern | |
| es sich um eine Frage handelt. Verbunden mit einer Zögerlichkeit nur | |
| vortäuschenden Pause allerdings wird aus jeder hundsgewöhnlichen Aussage (– | |
| Pause –) eine Frage? Linguisten nennen diesen Fimmel „High Rising Terminal�… | |
| oder „Upward Inflection“ oder schlicht „Uptalk“. Zu übersetzen wäre e… | |
| „Zaudersprech“ oder „Fragespoiler“. | |
| Die Leute trauen sich nicht mehr, eine x-beliebige Aussage zu machen. | |
| Lieber überlassen sie es den Zuhörern, den Satz für bare Münze zu nehmen. | |
| Es ist ein defensives Sprechen, das permanent mit der eigenen Kapitulation | |
| kokettiert, seine Inhalte in rosafarbene Watte packt und mit Schleifchen | |
| aus Fragezeichen dekoriert. Was eben am Altern liegen mag. Ich bin ja ein | |
| Mensch, der solche Sachen unerträglich findet. Mahlzeit? | |
| 28 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Arno Frank | |
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