# taz.de -- Innerparteiliche Konflikte der Grünen: Grünes Flügelschlagen | |
> Linksgrün oder Realo? Flügelkämpfe gehören zur DNA der Grünen. Mit | |
> Annalena Baerbock und Robert Habeck soll sich das nun ändern. | |
Bild: Wildgänse sind intelligent. Sie benutzen ihre Flügel, um schnell voranz… | |
Flügeldenken ist out. Bei den Grünen ist es gerade sehr in Mode, die | |
traditionelle Aufteilung in linke Grüne und Realos für überholt zu halten. | |
Vorneweg Robert Habeck, der charismatische Schleswig-Holsteiner. Habeck, | |
Vizeregierungschef und Umweltminister in Kiel, möchte im Januar | |
Parteivorsitzender werden, und er verbindet seine Bewerbung mit einem | |
Angriff auf ein ungeschriebenes Gesetz, das bei den Grünen seit Jahrzehnten | |
gilt. | |
Er wünsche sich, in einem Bundesvorstand zu arbeiten, der sich von der | |
starren, lähmenden Logik „Eins rechts, eins links, eins fallen lassen“ | |
freimache, schreibt Habeck in seinem Blog. „Denn es ist Zeit, das aus | |
Misstrauen geborene Austarieren der Macht zwischen den Flügeln zu beenden.“ | |
Habeck will deshalb seine Kandidatur als flügelunabhängig verstanden | |
wissen. | |
Das wäre nichts weniger als eine kleine Revolution. Gibt es bald keine | |
Linksgrünen und Realos mehr, sondern nur noch Grüne? Sortieren sich die | |
Leute der Ökopartei künftig nicht mehr in Strömungen ein? Es wäre das Ende | |
einer Story voll Eifersüchteleien und Machtkämpfe, aber auch voll | |
produktiver inhaltlicher Auseinandersetzungen. Die neue Parteispitze könnte | |
diesen Umbruch verkörpern. | |
Denn neben Habeck bewirbt sich auch Annalena Baerbock um einen Chefposten. | |
Die resolute Klimaschutzexpertin aus Brandenburg lobt die Einigkeit in dem | |
vierzehnköpfigen Jamaika-Sondierungsteam, das linke und realpolitische | |
Promis versammelte. Dieses habe sich einig in Vielfalt präsentiert – „mit | |
unglaublicher fachlicher Substanz fern von einem reinen Schielen auf | |
Strömungslogiken“, sagt Baerbock. Weg von der Strömungslogik. Auch Baerbock | |
hält nicht viel von sturem Flügeldenken. | |
## Der grüne Sonnenkönig | |
Beide Politiker, auch wenn sie sich unabhängig präsentieren, sind | |
allerdings Realos. Eigentlich wäre ein solches Duo ein No-Go, weil das | |
Austarieren von Realos und Linken zur grünen DNA gehört. Gerade bei der | |
Postenvergabe wird sehr auf die Balance geachtet. Aber Habeck und Baerbock | |
haben gute Chancen, weil den Linksgrünen überzeugende GegenkandidatInnen | |
fehlen. Die linksgrüne Noch-Chefin Simone Peter will wieder antreten, hat | |
aber selbst bei ihren eigenen Leuten ein schlechtes Standing. | |
Das Team Habeck/Baerbock bedeutete einen Schritt weg von der | |
Flügelarithmetik. Unbestritten ist, dass die Flügelkämpfe in der | |
Vergangenheit viel Energie vernichteten. Man hasste, disste und bekämpfte | |
sich. Eine Führungscrew aus Claudia Roth, Reinhard Bütikofer, Fritz Kuhn, | |
Renate Künast und Jürgen Trittin firmierte 2007 wegen ausgiebiger | |
Ränkespiele unter dem Spitznamen das „Pentagramm des Grauens“. Auch das | |
aktuelle Duo aus Peter und ihrem Co-Chef Cem Özdemir gilt als Duo | |
infernale. | |
Flügelkämpfe sind eine ernste Sache, weil es immer auch um Macht geht. Aber | |
manchmal wirkte der Versuch der Grünen, allen Ansprüchen gerecht zu werden, | |
sehr komisch. Als die Ökopartei 2002 mit Joschka Fischer an der Spitze in | |
den Wahlkampf zog, stellte sie ihm gleich sechs PolitikerInnen an die | |
Seite, die auch alle irgendwie SpitzenkandidatIn sein sollten. Weder Frauen | |
noch Linke sollten sich neben dem grünen Sonnenkönig zurückgesetzt fühlen. | |
„Wissen Sie, wie Wildgänse ihr fernes Ziel erreichen? Im Formationsflug.“ | |
So erklärte Renate Künast damals die Aufstellung, die kein normaler Mensch | |
verstehen konnte. Wildgänse sind übrigens sehr intelligente Vögel, und sie | |
wissen ihre Flügel perfekt einzusetzen, um schnell vorwärtszukommen. Von | |
den Grünen kann man das nicht immer sagen. | |
## Die Selbstzerfleischung schritt voran | |
Der Flügelzwist gehört zur Geschichte der Grünen, die in den 80ern als | |
Haufen unterschiedlicher Splittergruppen begannen. Es gab die linken | |
Radikalökologinnen um Jutta Ditfurth, Friedensbewegte und Feministinnen, es | |
gab Kommunisten aus K-Gruppen, konservative Umweltschützer und sogar | |
ökoaffine Rechte, die im Verdacht standen, völkischen Ideen anzuhängen. | |
Ab 1983, als die Grünen in den Bundestag einzogen, prägten chaotische | |
Kämpfe zwischen Fundis und Realos die Partei. Schon die Begriffe zeigen, | |
wie hart es dabei zuging. Die Realos beanspruchten allein durch ihren Namen | |
die vernünftige Realpolitik für sich. Ihre innergrünen Gegner diffamierten | |
sie absichtlich als Fundis, als Fundamentalisten. Die Medien übernahmen den | |
Kampfbegriff gerne. Inhaltlich ging es um die Trennung von Amt und Mandat, | |
die Friedenspolitik oder darum, ob man Strommasten umsägen darf als | |
radikale Protestform. Aber die wichtigste Frage lautete: Sollen die Grünen | |
regieren – oder sich auf Opposition festlegen? | |
Die Selbstzerfleischung ging so weit, dass sich die Grünen in manchen | |
Bundesländern spalteten und mit zwei Parteien zu Wahlen antraten. Lieber | |
getrennt chancenlos, als gemeinsam erfolgreich. Ditfurth kämpfte gegen den | |
machtbewussten Realo Fischer und den krawattentragenden Otto Schily, der | |
später zur SPD wechselte – und verlor. Fischer trat 1985 in weißen | |
Turnschuhen als Umweltminister in Hessen an, die Grünen drängten in | |
rot-grüne Regierungen. Ditfurth verließ die Grünen 1991 unter großem Tamtam | |
und begründete das mit der „Rechtsentwicklung“ der Partei. | |
Natürlich ist es ein Märchen, das Realos pragmatischer zu Werke gingen als | |
Linke. Ein berühmtes Beispiel lieferte Christian Ströbele, Galionsfigur der | |
Linksgrünen. Bei der Afghanistan-Abstimmung Ende 2001 waren acht grüne | |
Bundestagsabgeordnete gegen den Bundeswehreinsatz. Die rot-grüne Mehrheit | |
im Parlament war gefährdet, Kanzler Gerhard Schröder stellte die | |
Vertrauensfrage. Am Ende stimmten nur vier Grüne dagegen, darunter Ströbele | |
– die eigene Mehrheit stand. Ströbeles Rebellennimbus strahlte danach | |
heller denn je. | |
## Bis heute lebendige Flügel | |
Doch hinter den Kulissen hatte er den Grünen-internen Kompromiss | |
mitorganisiert, der ihm das Nein ermöglichte. Nein hin oder her – so sieht | |
Realpolitik aus. Auch Jürgen Trittin, bis heute ein Wortführer der Linken, | |
mutete seiner Partei stets schmerzhafte Kompromisse zu. Er sorgte zum | |
Beispiel dafür, dass die Grünen-Fraktion 2011 Merkels Atomausstieg | |
zustimmte, weil er den Erfolg nicht der Kanzlerin überlassen wollte. | |
Die Flügel sind bis heute sehr lebendig. Realos und Linke halten vor jedem | |
Parteitag Geheimtreffen ab, um Strategien abzusprechen. Sie haben | |
Koordinatoren, die Absprachen organisieren. Und sie bespielen Plattformen | |
wie Grün.links.denken oder gruenereformer.de. Reformer deshalb, weil die | |
Realos vor einiger Zeit mit der Idee spielten, sich umzubenennen. Das | |
Rebranding setzte sich aber nicht durch. | |
Am ehesten sind Unterschiede zwischen den Flügeln der Grünen in der Sozial- | |
und der Finanzpolitik sichtbar. Linke Grüne haben zum Beispiel die | |
Vermögensteuer und die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen ins Programm | |
gekämpft. Realos werben dafür, weniger auf klassische Sozialleistungen zu | |
setzen und stärker auf Bildungspolitik. Außerdem sind sie gegen allzu böse | |
Steuererhöhungen für Reiche, weil sie wissen, wie schlecht so etwas bei | |
mächtigen Wirtschaftsverbänden ankommt. | |
## Innerparteiliche Demokratie | |
Allerdings sind die Kämpfe längst nicht mehr so brutal wie zu Ditfurths | |
Zeiten. Bei vielen Themen, etwa dem Klimaschutz, gibt es zwischen Realos | |
und Linken kaum noch Unterschiede. Realo-Koordinator Dieter Janecek ist ein | |
radikalerer Öko als mancher Linker. Auch die jahrelang umstrittene Frage, | |
ob Koalitionen mit der Union machtpolitisch sinnvoll oder des Teufels | |
seien, erregt kaum noch die Gemüter. In Hessen und Baden-Württemberg | |
regieren die Grünen geräuschlos mit der CDU, durch die Jamaika-Sondierungen | |
spross auch im Bund zartes Vertrauen. Selbst linke Grüne trauern heute dem | |
Jamaika-Projekt hinterher. | |
Sind die Flügel also überflüssig? Vor allem linke Grüne sehen das anders | |
als Robert Habeck. Parteiflügel seien wichtig für die Strukturierung von | |
Parteiarbeit, sagt etwa Michael Kellner, der Politische | |
Bundesgeschäftsführer. „Sie binden Menschen mit unterschiedlichen Meinungen | |
ein, befeuern Debatten und schärfen die inhaltlichen Auseinandersetzungen.“ | |
Kellner sieht die Flügel auch als Ausdruck innerparteilicher Demokratie. Im | |
Moment seien Parteien und Bewegungen in Mode, in denen alles auf eine | |
charismatische Figur zugeschnitten sei – so wie die ÖVP unter Sebastian | |
Kurz in Österreich. „Solche Entwicklungen sind tendenziell autoritär, | |
deshalb finde ich sie schrecklich.“ | |
Auf dem Parteitag Ende Januar in Hannover werden die Grünen entscheiden, | |
wen sie an ihre Spitze setzen. Gänseflugformationen sind immer in | |
Bewegung. Vielleicht findet der linke Flügel ja doch noch jemanden, der es | |
mit Baerbock oder Habeck aufnimmt. | |
16 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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