# taz.de -- Hans-Christian Ströbele über die Zukunft: „Ich geh jetzt in die… | |
> Berlins berühmtester Grüner ist kein Abgeordneter mehr, aber noch nicht | |
> in den Ruhestand gegangen. Er warnt seine Partei, den linken Flügel | |
> abzuschieben. | |
Bild: Wo geht's hier zum Fitnessstudio? | |
Vor einem Jahr hat Christian Ströbele seine Parteibasis darüber informiert, | |
dass er nicht mehr kandidieren wird. „Ich möchte mir den Stress nicht | |
weiter antun“, hatte der 78-Jährige den Verzicht auf weitere vier | |
Parlamentsjahre am 24. Februar 2017 in der taz berlin begründet. Fast 20 | |
Jahre lang gehörte der Jurist dem Bundestag an. In seinem Wahlkreis | |
Friedrichshain-Kreuzberg holte er viermal in Folge das Direktmandat – als | |
einziger Grüner bundesweit. | |
taz: Herr Ströbele, im Herbst 2017 sind Sie aus dem Bundestag | |
ausgeschieden. Womit verbringen Sie jetzt Ihre Zeit? | |
Christian Ströbele: Mit Interviews (lacht) und dem Nacharbeiten meiner | |
Bundestagstätigkeit. Außerdem sitze ich immer noch im Parlamentarischen | |
Kontrollgremium. | |
Sie sind kein Abgeordneter mehr, kontrollieren aber dennoch die deutschen | |
Geheimdienste – wie geht das denn? | |
Da es noch keine neue Regierung gibt, gibt es auch noch keine Ausschüsse – | |
und demzufolge auch noch kein neues parlamentarisches Kontrollgremium. Ich | |
bin in dem Gremium übrigens nicht der Einzige ohne Mandat. Drei der | |
insgesamt neun Mitglieder, der Vorsitzende inklusive, gehören nicht mehr | |
dem Bundestag an. | |
Anders als die Ausschüsse existiert das parlamentarische Kontrollgremium | |
nach den Wahlen zunächst in alter Zusammensetzung weiter. Warum ist das so? | |
Es soll keine Kontrolllücke entstehen, bis sich die Bundesregierung | |
gebildet hat. So war das zumindest gedacht. Dass sich das über Monate | |
hinzieht, war sicher nicht im Sinn des Gesetzgebers. | |
Sie haben einmal gesagt, die Nachrichtendienste machen ohnehin, was sie | |
wollen. | |
Das stimmt ja auch (lacht). Aber es gibt eine Reihe von Maßnahmen, die die | |
Geheimdienste nicht anordnen dürfen, wenn sie vom Kontrollgremium nicht | |
genehmigt wurden. | |
Ist der Fall des Attentäters Anis Amri im Kontrollgremium noch ein Thema? | |
Formal ist der Fall nicht abgeschlossen. Vor der Sommerpause haben wir dazu | |
einen Bericht verabschiedet, der auch einen Minderheitenbericht von mir | |
enthält. | |
Was steht darin? | |
Es gibt einige unerklärliche Vorgänge im Zusammenhang mit dem Fall Amri. | |
Zum Beispiel hatte die Bundesregierung nach diesem schrecklichen Anschlag, | |
der am 19. Dezember 2016 auf dem Breitscheidplatz stattfand, versprochen, | |
alle Erkenntnisse offenzulegen. Man hat dann auch eine Chronologie | |
vorgelegt, in der viele Einzelheiten genau aufgelistet sind. Wann Amri wo | |
aufgefallen ist, was die Polizei gemacht hat, was besprochen worden ist im | |
GTAZ … | |
… im Gemeinsamen Terrorabwehr-Zentrum von Bund und Ländern. | |
Alles wurde genau dargestellt. Nur das wichtigste Verdachtsmoment fehlt | |
seltsamerweise. | |
Und das wäre? | |
Dass die Polizei in NRW das Handy von Amri abgehört hat. Dabei wurde ein | |
Chatverkehr mit libyschen Telefonnummern aufgenommen. In den Chats hat sich | |
Amri meiner Meinung nach ganz klar als IS-Mitglied geoutet. Er bat darum, | |
ihn bei einem Dougma – den Begriff steht beim IS für Selbstmordanschlag – | |
in Deutschland zu unterstützen. Am Ende dieses Chatverkehrs haben sich die | |
„Brüder“ mit der Formel verabschiedet: Wir sehen uns wieder im Paradies. | |
Das ist vielsagend. In der Chronologie findet sich dazu keine einzige | |
Silbe. | |
Welche Schlussfolgerung ziehen Sie daraus? | |
Ich suche nach wie vor nach einer Begründung für das Versagen der deutschen | |
Sicherheitsbehörden. Das geht ja bis weit in den Herbst 2015 zurück. Mir | |
ist zum Beispiel auch aufgefallen, dass die USA im Januar 2017 – einen | |
Monat nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz – in Libyen einen großen | |
Militärschlag durchgeführt haben. | |
Der Angriff soll sich gegen ein IS-Wüstencamp in Libyen gerichtet haben, in | |
dem die Hintermänner des Attentats vom Weihnachtsmarkt vermutet wurden. | |
So ist es. Weit über einhundert Dschihadisten sollen dabei getötet worden | |
sein. Der damalige US-Verteidigungsminister Ashton Carter hatte seinerzeit | |
erklärt, die Militäraktion stehe im Zusammenhang mit einem Anschlag in | |
Europa. Meine Vermutung ist: Wenn Amri 2016 inhaftiert worden wäre, wären | |
seine Chatpartner gewarnt und über alle Berge gewesen. Wie gesagt, viele | |
Fragen sind offen. Solange das so ist, werde ich weiterhin intensiv Suche | |
betreiben. | |
In welcher Funktion machen Sie das? | |
Ich tue das als politischer Mensch, der sich in dem Bereich gut auskennt | |
und sich deshalb leichter Informationsquellen erschließen kann. | |
Was treibt Sie an? | |
Es geht darum, Klarheit zu schaffen für die Opfer, deren Angehörige und die | |
Öffentlichkeit. Ich empfinde das als meine Verpflichtung. Die Frage, wie | |
das passieren konnte, beschäftigt viele Menschen ja weiterhin. Dafür muss | |
es eine Erklärung geben. | |
Herr Ströbele, Ihr Bundestagsbüro haben Sie bereits geräumt. Wo arbeiten | |
Sie denn jetzt überhaupt? | |
In meinem Anwaltsbüro in Tiergarten. Das habe ich seit 1984. | |
Werden Sie auch wieder als Anwalt tätig sein? | |
Das habe ich noch nicht entschieden. Auf alle Fälle werde ich mich | |
weiterhin politisch einmischen. Ich bin ja Mitglied in einem grünen | |
Kreisverband, der zu den größten in Deutschland gehört. | |
Das ist der Grünen Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg und Prenzlauer | |
Berg Ost. | |
Bei interessanten Themen gehe ich zur Bezirksgruppensitzung, die alle 14 | |
Tage stattfindet. Auch auf dem letzten Grünen-Parteitag im November war | |
ich. Ich mische mich ein, ich diskutiere, ich telefoniere, ich rege mich | |
auf. Bei den Grünen gibt es ja interessante Entwicklungen. Auf den nächsten | |
Parteitag im Januar in Hannover freue ich mich schon. | |
Annalena Baerbock und Robert Habeck wollen dort für den Parteivorsitz | |
kandidieren. Dem Duo werden gute Chancen eingeräumt, obwohl beide dem | |
Realoflügel der Grünen angehören. Wie sehen Sie das? | |
Ich gehe davon aus, dass es weitere Bewerbungen geben wird. Ich warne | |
davor, den linken Flügel abzuhängen. Die Grünen wurden bisher immer auch | |
als linke Partei gewählt. | |
Das klingt so, als habe sich Ihr Leben überhaupt nicht verändert. | |
Das wird noch kommen. Die ganzen Pflichttermine, die man hat, wenn der | |
Bundestag und die Ausschüsse voll funktionieren, fallen weg. Das war ja | |
auch der Grund, warum ich nicht noch mal kandidiert habe. Es war mir | |
einfach zu stressig. Auch körperlich bin ich angeschlagen. Ich habe | |
Laufschwierigkeiten und gehe am Stock. Für vieles brauche ich doppelt so | |
lange wie früher. Dazu kommt, dass ich meine Bürosachen jetzt alleine | |
regeln muss. In meinem bisherigen Berufsleben habe ich meinen | |
Terminkalender nie selbst geführt. Da geht schnell was schief, wenn man | |
einen Termin falsch oder gar nicht einträgt. | |
Warum stellen Sie nicht jemanden ein? | |
Das hängt davon ab, wie stark ich mich auf den Anwaltsberuf einlasse. | |
Allein, um die Technik zu bewältigen, werde ich aber Mitarbeiter brauchen. | |
Wenn mein WLAN mal wieder nicht klappt oder mein Computer streikt. Meine | |
Telefonanlage ist im Moment völlig durcheinander. Mein technisches Wissen | |
ist nicht up to date. Da brauche ich Unterstützung. | |
Stehen die Mandanten schon Schlange? | |
Es melden sich viele – vor allem Leute, die mit ganz dicken Akten kommen | |
und meistens schon durch viele Instanzen der Gerichte gegangen sind. | |
Eher hoffnungslose Fälle also? | |
Auf jeden Fall sehr schwierige Fälle. Manchmal mache ich eine Beratung. In | |
der Regel lehne ich aber ab. | |
Langweilig ist Ihnen auf alle Fälle nicht? | |
Im Gegenteil. | |
Was sagt Ihre Familie dazu? | |
Die sagen: Du hast ja immer noch nicht mehr Zeit. Und Freunde sagen: Na, du | |
Rentner, lass uns jetzt endlich mal verabreden. Ich vertröste sie dann auf | |
ein halbes Jahr später. | |
Wie sieht Ihre weitere Planung aus? | |
Ich werde mich weiter um die Themen kümmern, mit denen ich mich auch im | |
Bundestag beschäftigt habe. Das ist nicht nur der Fall Amri. Zu nennen wäre | |
da zum Beispiel noch die Gefahrenabwehr von Eingriffen des Staates in | |
unsere Informationsfreiheit und den privaten Bereich. Auch an dem großen | |
Treffen des Chaos Computer Clubs, das gleich nach Weihnachten in Leipzig | |
stattfinden wird, werde ich teilnehmen. Außerdem gibt es da ja noch die | |
Klagen gegen die Vorratsdatenspeicherung und das neue | |
Bundesnachrichtendienstgesetz. Das legitimiert ja weiterhin, Freunde | |
auszuspähen. Und nicht zuletzt plane ich auch, selbst mal etwas zu | |
schreiben. | |
Ihre Biografie? | |
Eine richtige Biografie wird das nicht werden. Persönlich lese ich auch | |
nicht so gerne Biografien. | |
Was wird es dann? | |
Mich ärgern viele Berichte über die APO-Zeit, über die RAF-Zeit und die | |
Gründungsphase der Grünen. Häufig hat die Darstellung nicht viel mit der | |
Realität zu tun. Deshalb will ich aufschreiben, wie es wirklich war – wie | |
ich es erlebt habe. Ich war ja dabei. | |
Wollen Sie das alles 2018 realisieren? | |
Das wird wohl ein paar Jahre dauern. | |
Herr Ströbele, gibt es irgendetwas in Ihrem Leben, das sich wirklich | |
verändert hat? | |
Ich kann mir den Tag jetzt selbst einteilen. Ich muss nicht mehr von | |
morgens um 9 Uhr bis manchmal Mitternacht im Bundestag sein, um an | |
Ausschuss- und Fraktionssitzungen teilzunehmen. Nach zwei, drei Stunden | |
Sitzung habe ich mich früher häufig gefragt: Warum tust du dir das | |
eigentlich an? | |
Gehen Sie jetzt öfter spazieren? | |
Das mache ich auch. Ich versuche mich auch körperlich zu ertüchtigen. | |
Fahren Sie noch Fahrrad? | |
Bei Regen und wenn es glatt ist nicht mehr. Früher bin ich auch bei Eis und | |
Schnee gefahren. Auf dringenden ärztlichen Rat traue ich mir das jetzt | |
nicht mehr zu. Dafür mache ich jetzt zum ersten Mal in meinem Leben etwas, | |
was ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, was ich immer abgelehnt habe | |
und fürchterlich fand: Ich gehe jetzt in die Muckibude, um meine Muskeln zu | |
regenerieren. (lacht). Die Leute sind da alle sehr nett. | |
Selbst im Fitnessstudie sind Sie also bekannt wie in bunter Hund? | |
Nicht bei allen. Ich mache das auch nicht, weil ich die Atmosphäre so toll | |
finde, sondern um körperlich nicht völlig abzuschlaffen. | |
Im letzten taz-Interview im Juni hatten Sie gesagt, Sie würden gern noch | |
mal in die USA fahren, um Bernie Sanders die Hand zu schütteln. Ist das | |
inzwischen passiert? | |
Ich bin in Mail-Kontakt mit Sanders Büro. Aber so richtig auf Gegenliebe | |
scheint mein Ansinnen dort noch nicht gestoßen zu sein. | |
26 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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Lesestück Interview | |
Anis Amri | |
Hans-Christian Ströbele | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
Schwerpunkt Christian Ströbele | |
Hans-Christian Ströbele | |
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Schwerpunkt Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt | |
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