# taz.de -- 1. Jahrestag Breitscheidplatz-Anschlag: Und dann waren sie alleine | |
> Vor einem Jahr tötete Anis Amri zwölf Menschen und verletzte über 70. | |
> Kanzlerin Angela Merkel traf nun erstmals die Betroffenen. | |
Bild: René Köchel arbeitet dieses Jahr wieder auf dem Weihnachtsmarkt. Seit d… | |
Berlin/Dresden/Premnitz taz | Viel hatte Sigrid Rheinsberg von der | |
Kanzlerin nicht erwartet. Ein paar Worte auf einer Gedenkfeier mit allen | |
zwölf Särgen. Ein Kondolenzschreiben an die Familien. Und ein Brief, dass | |
die Kosten der Beerdigung vom Staat übernommen werden. | |
Doch all das gab es nicht. Fast genau vor einem Jahr wurde Dorit Krebs, die | |
Tochter der Rheinsbergs, bei dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz | |
getötet. Erst wenige Tage zuvor hatte die 53-Jährige eine neue Stelle in | |
einer Bank am Kurfürstendamm angetreten. Viel deutet darauf hin, dass Krebs | |
die erste war, die von dem schweren Sattelschlepper erfasst wurde, den der | |
Islamist Anis Amri am 19. Dezember um 20.02 Uhr auf den Weihnachtsmarkt | |
steuerte, um im Namen des „Islamischen Staates“ möglichst viele Menschen zu | |
töten. Zwölf kamen ums Leben, mehr als 70 wurden verletzt. Die Polizei | |
hatte den Täter zuvor im Blick: Er war als „islamistischer Gefährder“ | |
eingestuft. | |
Sigrid Rheinsberg sitzt am Nikolaustag mit ihrem Mann im heimischen | |
Wohnzimmer im Havelland, auf dem Tisch stehen Plätzchen, draußen pfeift ein | |
kalter Wind um das Haus. Anfangs erzählt die 75-jährige Rentnerin ruhig, | |
was seit dem Anschlag geschehen ist. Doch je länger sie spricht, desto mehr | |
hört man die Wut, die in ihr arbeitet. „Frau Merkel hat Büros, sie hat | |
Mitarbeiter. Warum hat sie nicht reagiert?“, fragt sich Rheinsberg. | |
Es ist eine Frage, die alle Opfer und Hinterbliebenen teilen. Und hinter | |
der eine noch größere Frage steht: Warum tut sich dieses Land so schwer mit | |
den Opfern eines Terroranschlags? Wie sieht ein angemessenes Gedenken aus? | |
## „Der Staat hat Mitschuld“ | |
Am Montag konnte Sigrid Rheinsberg ihre Frage der Bundeskanzlerin selbst | |
stellen. Am Tag, bevor sich der Anschlag jährt, hat Angela Merkel die | |
Angehörigen der Verstorbenen [1][zum Gespräch ins Kanzleramt geladen], auch | |
der [2][Opferbeauftragte Kurt Beck] war dabei. Die Kanzlerin wolle wissen, | |
wie es den Hinterbliebenen heute geht, heißt es in der Einladung. | |
Es dürfte ein Gespräch in angespannter Atmosphäre gewesen sein. Denn Sigrid | |
Rheinsberg und ihr Mann sind nicht nur enttäuscht vom fehlenden Engagement | |
der Kanzlerin. „Der Staat hat Mitschuld an dem Anschlag“, ist die Rentnerin | |
überzeugt. Und sie ist mit ihrer Meinung nicht alleine. In einem offenen | |
Brief haben jüngst Angehörige aller zwölf Todesopfer der Regierung Versagen | |
vorgeworfen. Von „eklatanten Missständen“ in der deutschen Antiterrorarbeit | |
ist dort die Rede. Von „politischer Untätigkeit“ der Regierung, die mit f�… | |
den Anschlag verantwortlich sei. „Wir sind der Auffassung, dass Sie Ihrem | |
Amt nicht gerecht werden“, heißt es an Merkels Adresse. | |
Es sind scharfe Worte. Geschrieben von Menschen, die sich gleich mehrfach | |
getroffen fühlen. Von einem Anschlag, der einen Angehörigen aus dem Leben | |
riss, und doch eigentlich dieser Gesellschaft galt. Von einem Staat, der im | |
Umgang mit dem späteren Täter schwere Fehler beging und es nicht vermochte, | |
die Opfer zu schützen. Und von einer Regierung, von der sich die | |
Angehörigen nach der Tat wochenlang alleingelassen fühlten. | |
Am 19. Dezember, wenn sich der Anschlag jährt, wird auf dem | |
Breitscheidplatz ein Denkmal enthüllt. Auf den Stufen zur Gedächtniskirche | |
werden die Namen aller zwölf Todesopfer stehen, erstmals öffentlich. Und | |
auf ausdrücklichen Wunsch der Angehörigen. Anna Bagratuni, Georgiy | |
Bagratuni, Sebastian Berlin, Nad’a Čižmár, Dalia Elyakim, Christoph | |
Herrlich, Klaus Jacob, Angelika Klösters, Dorit Krebs, Fabrizia Di Lorenzo, | |
Lukasz Urban, Peter Völker. Dazu ein goldener Riss im Boden des Platzes, 14 | |
Meter lang. Die Angehörigen sollen ihn am Dienstag mit einer | |
Metalllegierung schließen und so das Denkmal fertigstellen. Ein | |
versöhnliches Symbol. | |
## Ein Super-Pech | |
Doch für die Hinterbliebenen lässt sich die Wunde, die der Anschlag | |
gerissen hat, nicht so einfach schließen. | |
Petr Čižmár fällt es bis heute schwer, über den Tod seiner Frau zu | |
sprechen. Anfang Dezember sitzt er in einem Gasthaus im Norden Dresdens, am | |
Nebentisch begehen drei ältere Paare eine Vorweihnachtsfeier. Čižmár kommt | |
direkt von der Arbeit aus einer Halbleiterfabrik. David, seinen | |
sechsjährigen Sohn, hat er bei einem Freund untergebracht. Der 39-Jährige | |
knetet seine Hände. Wenn die Gefühle zu stark werden, nippt er an der | |
großen Cola, die vor ihm steht. Auf die Frage nach dem „Warum“ findet | |
Čižmár bis heute keine Antwort. Der promovierte Physiker hat es statistisch | |
versucht. „In dieser Sekunde an genau diesem Ort zu sein, das ist eine fast | |
unmögliche Wahrscheinlichkeit, ein Super-Pech.“ | |
Petr Čižmár lebte vor einem Jahr noch in Braunschweig. Nad’a Čižmár fand | |
dort keinen Job, schließlich landete sie bei einem Logistik-Unternehmen in | |
Berlin. Zum Zeitpunkt des Todes hatten sich beide auseinandergelebt, sahen | |
sich aber oft, der Sohn pendelte. Über Wochen hatte Petr Čižmár Nad’as | |
Wohnung in Berlin renoviert, die Familie wollte dort gemeinsam Weihnachten | |
feiern. Dann war Nad’a tot. Und Čižmár musste David erklären, dass seine | |
Mutter nie wiederkommen wird. | |
Der Sechsjährige habe das lange gut verkraftet, sagt Čižmár. Zuletzt aber | |
sei er nachts wieder aufgewacht, rüttelte an seinem Bett. Auch wenn sie | |
tagsüber unterwegs seien, kontrolliere David immer wieder, ob er noch da | |
sei. Neulich, als Čižmár im Bad ausrutschte und aufschrie, fragte der Sohn: | |
„Wer kümmert sich um mich, wenn du stirbst?“ | |
## Schmerz in die Knochen drücken | |
Es sind zehn weitere Familien, aus denen ein Mitglied von einer Minute auf | |
die andere aus dem Leben gerissen wurde. Eine 22-jährige Studentin hat auf | |
dem Breitscheidplatz beide Eltern verloren. Ein 40-jähriger Jurist schubste | |
noch seine Begleiterin aus dem Weg des heranrasenden Laster, dann wurde er | |
selbst tödlich verletzt. Zwei weitere Männer und eine Frau starben vor den | |
Augen ihrer Partner, eine andere Frau neben ihrem Sohn. Einige | |
Schwerverletzte sind bis heute in Behandlung. Manche haben Beine oder Arme | |
verloren, werden für immer Pflegefälle bleiben. Ein Mann ist gelähmt, kann | |
nur seine Augen bewegen. | |
Wenn Sigrid Rheinsberg über die Zeit nach der Tat spricht, sagt sie: „Für | |
mich hat der Terroranschlag mehrmals stattgefunden.“ Seit dem Attentat hat | |
die Rentnerin Nervenschmerzen, die bis ins Bein hinunter ziehen, das Gehen | |
fällt ihr schwer. Trotz vieler Untersuchungen findet der Arzt die Ursache | |
nicht. „Vielleicht drückt man den Schmerz in die Knochen“, sagt Rheinsberg. | |
Eine psychologische Betreuung lehnte sie ab. „Ich dachte, dass ich das | |
wegstecken kann. Doch ich leide heute mehr als am Anfang.“ | |
Das liegt auch an der Wut, die in ihr arbeitet und jedes mal größer wird, | |
wenn neue Fehler im Fall Anis Amri bekannt werden. Die 14 Identitäten des | |
Tunesiers. Die Überwachung nur wochentags. Die dubiose Rolle eines V-Manns, | |
der zu dem Anschlag angestachelt haben soll. Das nachträgliche Vertuschen | |
von Amris Drogengeschäften durch das Berliner Landeskriminalamt, die eine | |
Inhaftierung wohl ermöglicht hätten. Und immer wieder die Frage: Hätte der | |
Anschlag nicht verhindert werden können? | |
## Warum ist niemand zurückgetreten? | |
Petr Čižmár zog einige Monate nach dem Anschlag nach Dresden, für seinen | |
neuen Job in der Halbleiterfabrik. Als alleinerziehender Vater ist die Zeit | |
knapp, da bleibt auch wenig Zeit zum Grübeln. „So ist es jetzt einfach“, | |
sagt er über seinen neuen Alltag. Aber in einem Punkt wird auch Čižmár | |
energisch: „Nur ein Fehler weniger und Nad’a könnte noch leben.“ Dafür … | |
es keine Entschuldigung. Und wie könne es eigentlich sein, dass für dieses | |
Versagen bis heute noch niemand zurückgetreten sei? | |
Dieses Unverständnis teilen die Hinterbliebenen. Genau wie das Gefühl, seit | |
dem Anschlag alleingelassen worden zu sein. Die Rheinsbergs waren erst am | |
Morgen nach dem Attentat ganz sicher, dass ihre Tochter auf dem | |
Weihnachtsmarkt verabredet war. Immer wieder riefen sie und ihre Enkelin, | |
die in Berlin lebt, die Hotline der Polizei an. Die Enkelin, heute 29 | |
Jahre, ist Dorit Krebs Tochter, ihr Name soll nicht in der Zeitung stehen. | |
Schließlich sagte man ihnen, dass Dorit Krebs verletzt in einem Krankenhaus | |
in Berlin-Wilmersdorf liege. Als aber die Enkelin dort eintraf, hieß es: | |
Eine Dorit Krebs gebe es hier nicht. Die junge Frau gab auf einer | |
Polizeiwache eine Vermisstenanzeige auf, klapperte die Krankenhäuser ab. | |
Bei der Polizeihotline hätten sie irgendwann genervt reagiert, erzählt | |
Rheinsberg. | |
Schließlich meldete sich ein Polizist und bat um Material für einen | |
DNA-Abgleich. Die Enkelin gab ihm eine Zahnbürste. Dann hatte die Familie | |
Gewissheit – drei Tage nach dem Anschlag. Als die Enkelin nach den Sachen | |
ihrer Mutter fragte, habe man ihr ohne viel Worte eine blutverschmierte | |
Handtasche in die Hand gedrückt. Ja, sagt Sigrid Rheinsberg, die Behörden | |
seien überfordert gewesen. Aber etwas Mitgefühl hätte sie schon erwartet. | |
Auch Petr Čižmár fuhr damals nach Berlin, als er von dem Anschlag hörte und | |
seine Frau stundenlang nicht erreichte. Auch er irrte von Krankenhaus zu | |
Krankenhaus, erfuhr erst nach drei Tagen von Nad’as Tod. Dabei waren alle | |
zwölf Getöteten schon in der Nacht des Anschlags identifiziert – alle | |
hatten Ausweise bei sich. Die Polizei aber schloss erst die | |
vorgeschriebenen DNA-Tests ab, bevor sie die Angehörigen informierte. | |
## Wer ist zuständig? | |
Bei Petr Čižmár war es – noch in den Stunden der Ungewissheit – der | |
tschechische Botschafter, der als erstes seinen Besuch ankündigte. „Da war | |
alles klar.“ Kurz darauf lud der tschechische Staatspräsident Petr Čižmár | |
und David zum Gespräch auf die Prager Burg. Von deutscher Seite kam | |
vorerst: nichts. „Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hat“, sagt Čižmá… | |
Hatte man ihn vergessen? Wollte Deutschland die Sache kleinhalten? Čižmár | |
blieb mit seinen Fragen allein. Auch mit ganz praktischen. Welche | |
Entschädigung steht im zu? Wer ist zuständig? | |
In Frankreich lief nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo auf einer | |
Demonstration der Staatspräsident voran. Als der Leichnam des italienischen | |
Opfers vom Breitscheidplatz, Nad’as Kollegin Fabrizia Di Lorenzo, überführt | |
wurde, wurde dieser vom Staatsoberhaupt empfangen. Vor dem Sarg des | |
polnischen Opfers Lukasz Urban kniete der Staatspräsident nieder. | |
In Berlin saß Merkel am Tag nach dem Anschlag in der Gedächtniskirche in | |
einem Gedenkgottesdienst – als die Opfer noch im Krankenhaus lagen und | |
manche Angehörigen durch Berlin irrten. Andere waren sogar zur Kirche | |
gekommen. Sie wurden von Sicherheitsleuten an der Tür abgewiesen. Erst | |
Mitte Januar traf bei den Hinterbliebenen ein erstes Schreiben der | |
Bundesregierung ein, verfasst von Justizminister Heiko Maas. Zuvor kamen | |
andere Briefe: eine Rechnung für die Obduktion der Opfer, 51 Euro, zu | |
zahlen in 30 Tagen, sonst drohe ein Inkassounternehmen. Oder | |
Standardformulare für Autounfälle, in denen gefragt wurde, ob derjenige, | |
der den Unfall verschuldet hat, mit dem Opfer verwandt sei, und ob man in | |
Kontakt stehe. Die Angehörigen waren entsetzt. | |
Dann aber lud Bundespräsident Gauck sie ein, der oberste Mann im Staat. An | |
dem Treffen im Schloss Bellevue Mitte Februar nahm auch der Innenminister | |
teil. An diesen hatte Rheinsbergs Enkelin einen Monat zuvor eine E-Mail | |
verfasst. Sie schilderte ihre Erlebnisse nach dem Anschlag, schrieb, dass | |
der Staat versagt habe und dass sie sich „verarscht“ fühle. Gauck fragte | |
nach, sie trug ihre Kritik noch einmal vor. Auch Rheinsberg meldete sich zu | |
Wort. „Das war die erste Veranstaltung, wo ich meine Wut mal loswerden | |
konnte.“ | |
## Gebrannte Mandeln, Grünkohl, „Feliz Navidad“ | |
Mitte Dezember, Breitscheidplatz, der Weihnachtsmarkt hat wieder eröffnet. | |
In einem Glühweinstand steht René Köchel. Er war im Frühjahr im Schloss | |
Bellevue nicht dabei, der Gastronom lag noch im Krankenhaus. Amri hatte den | |
Laster direkt in Köchels Bude gesteuert, drei der Menschen starben dort. Er | |
selbst brach sich das linke Bein, erlitt Prellungen, eine | |
heruntergeschleuderte Zapfanlage zertrümmerte den rechten Fuß. Über Monate | |
setzten Ärzte den Fuß wieder zusammen, Köchel wird gehbehindert bleiben. | |
Gleich gegenüber Köchels Glühweinstand wird das Mahnmal aufgebaut. Noch ist | |
es von einem Bauzaun verdeckt. Etwas weiter links stehen Grablichter und | |
Kuscheltiere, jemand hat weiße Rosen abgelegt. Einige Besucher halten kurz | |
inne, auch patrouillieren Polizisten. Sonst läuft alles wie immer: | |
gebrannte Mandeln, Grünkohl, „Feliz Navidad“. | |
Köchel, dunkle Steppjacke, dicker Schal, Basecap, steht seit 20 Jahren auf | |
Weihnachtsmärkten. Er macht nicht viele Worte. Es fühle sich wie immer an, | |
behauptet er. Auch der Aufbau des Mahnmals gleich gegenüber bewege ihn | |
nicht. „Ich habe abgeschlossen. Sonst könnte ich hier auch gar nicht | |
stehen“, sagt er. „Es tut gut, endlich wieder was zu machen.“ | |
Aber auch Köchel ist verbittert. „Wir wurden alleingelassen“, sagt er. | |
Wegen seines Fußes musste sich der 53-Jährige eine neue Wohnung suchen, die | |
im Erdgeschoss liegt. Er stritt sich mit Krankenkassen, musste eine Reha | |
selbst bezahlen. Ein Jahr lang verdiente er nichts. Als Schmerzensgeld | |
bekam Köchel 5.000 Euro. „Das reicht hinten und vorne nicht.“ | |
## Nationaler Pathoser nicht wünschenschwert | |
Kurt Beck kennt den Frust. Im März ernannte Justizminister Maas den Mainzer | |
Exministerpräsidenten zum Beauftragten für die Opfer – erst im März, klagen | |
einige der Betroffenen. Seitdem hat Beck viele von ihnen besucht, die | |
meisten zu Hause. Die Regierung habe zu spät reagiert, gesteht auch Beck | |
ein. „Das Sich-verlassen-fühlen der Betroffenen ist nicht mehr ganz | |
aufzuarbeiten.“ Schuld sei die Unerfahrenheit dieses Landes mit dem Terror. | |
Es gab den NSU. Erst vor anderthalb Jahren geschah das Attentat am Münchner | |
Olympia Einkaufszentrum, es gab einzelne islamistische Attacken. Alle | |
Sicherheitsbehörden warnten vor einem möglichen großen Anschlag auch in | |
Deutschland. Doch auf den Umgang mit eventuellen Opfern war der Staat nicht | |
vorbereitet. | |
Die Betroffenen organisierten sich stattdessen in einer WhatsApp-Gruppe. | |
Einige besuchten den Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus. | |
Die Tochter eines Getöteten flog bis nach Nizza, um den dortigen Jahrestag | |
des islamistischen Lkw-Anschlags beizuwohnen. Emmanuel Macron war vor Ort, | |
Flugzeuge sprühten die Tricolore in den Himmel. | |
Nationales Pathos, das hierzulande kaum denkbar wäre. Und wohl auch nicht | |
wünschenswert. Was aber dann? Wie gedenkt man richtig? | |
## Gedenkandacht hinter verschlossenen Türen | |
Zu dem Gedenken in Berlin werden rund 100 Betroffene anreisen und auf einen | |
abgeriegelten Breitscheidplatz treffen, der Weihnachtsmarkt ist am Dienstag | |
geschlossen. Die Gedenkandacht findet hinter verschlossenen Türen statt, | |
genau wie zuvor das Treffen im Kanzleramt. Eine öffentliche Rede Merkels | |
ist nicht geplant, keine große Geste. Es wirkt wie der Gegenentwurf zu | |
Macrons Gedenken. | |
Mitte der Woche präsentierte Kurt Beck seinen Abschlussbericht als | |
Opferbeauftragter. Die Entschädigungen für Terroropfer müssten „deutlich“ | |
erhöht werden, forderte er. Zudem müssten Bund und Länder eine feste | |
Anlaufstelle einrichten, die Betroffenen unkompliziert Hilfe leisten könne. | |
Justizminister Heiko Maas sicherte seine Unterstützung zu, am Nachmittag | |
fasste der Bundestag einen entsprechenden Beschluss. | |
Schon zuvor war manches geschehen. Rund zwei Millionen Euro Entschädigung | |
flossen bisher an die Opfer. Ehepartner, Kinder oder Elternteile der | |
Getöteten erhielten je 10.000 Euro Schmerzensgeld, Geschwister und | |
Selbstverletzte 5.000 Euro. Beck vermittelte Entschädigungen für die | |
Budenbesitzer am Breitscheidplatz oder den Spediteur des gekaperten | |
Sattelschleppers. Für die verwaiste Tochter der Bagratunis fand er ein | |
Ehepaar, das ihr das Studium finanziert. Das Land Berlin schuf schon im | |
Herbst einen hauptamtlichen Opferbeauftragten. | |
## Merkel will vor allem zuhören | |
Doch Sigrid Rheinsberg hat ihr Urteil gefällt, auch über Angela Merkel, die | |
sie früher als starke Frau gesehen habe. „Das denke ich heute nicht mehr. | |
Der erste Fehler war schon, als die Flüchtlinge hier reinkamen und nicht | |
registriert wurden.“ Der Terroranschlag habe ihr Leben verändert, sagt | |
Rheinsberg. „Ich denke heute in vielen Dingen anders, auch politisch.“ | |
Petr Čižmár meidet harsche Worte. Er äußert sogar Verständnis für das | |
anfängliche Chaos der Behörden: Ein Anschlag überfordere eben erst mal | |
alle. Aber auch Čižmár macht seine Kritik klar. „Erst müssen der Staat und | |
die Polizei funktionieren, dann kann man Gäste empfangen.“ In der Politik | |
war es die AfD, die schon kurz nach dem Anschlag von „Merkels Toten“ | |
sprach. Schuld an dem Terror sei die „unkontrollierte Massenmigration“. | |
Auch manche Betroffene hätten sich von solchen Tönen eine Zeit lang | |
„mitreißen“ lassen, räumt Kurt Beck ein. Den Ärger über die | |
Ermittlungsversagen aber könne er verstehen. Dass nicht versucht wurde, | |
Amri vor seinem Anschlag festzunehmen, sei „furchtbar, einfach furchtbar“. | |
Am Dienstagabend stand [3][Angela Merkel vor dem Glühweinstand von René | |
Köchel] – ein Überraschungsbesuch auf dem Weihnachtsmarkt. Wie es ihm gehe, | |
habe die Kanzlerin gefragt. Köchel antwortete, man müsse nach vorne | |
schauen. Nur wenige Minuten habe der Austausch gedauert. „Nett und | |
freundlich“ sei er gewesen, sagt Köchel. Aber er komme eben sehr spät. | |
„Erst nach der ganzen Kritik.“ Wenn Merkel am Montag die Betroffenen ins | |
Kanzleramt lädt, wird auch Köchel dabei sein. Man habe „mit großem Respekt… | |
den offenen Brief gelesen, sagt ein Sprecher Merkels im Vorfeld. Die | |
Regierungschefin wolle bei dem Treffen nun vor allem zuhören. | |
Sigrid Rheinsberg wird Merkel einiges zu erzählen haben. Auch Petr Čižmár | |
wird mit seinem Sohn David anreisen. Der Junge soll dabei sein, wenn die | |
Kanzlerin seiner Mutter gedenkt. Er selbst dagegen, sagt Čižmár, habe vor | |
allem eine Frage: „Warum hat es ein Jahr gebraucht, um mit uns zu | |
sprechen?“ | |
18 Dec 2017 | |
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