# taz.de -- Weihnachtsmarkt Breitscheidplatz: Offenbleiben, trotz alledem | |
> Zwischen Christbaumkugeln, Nackensteaks und Glühwein: Wieviel Normalität | |
> herrscht ein Jahr nach dem Terroranschlag? Ein Marktbesuch. | |
Bild: Poller schützen den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz | |
Berlin taz | Es ist elf Uhr morgens, ein sonniger, ein kalter Vormittag. | |
Der Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz öffnet wie jeder andere | |
Weihnachtsmarkt in dieser Stadt. Standbetreiber lassen ihre Rollos hoch, | |
erste Touristengruppen aus Italien, Österreich und Spanien fallen in einer | |
der größeren Buden ein, die man betreten kann und in der es zu gepfefferten | |
Preisen gläserne Christbaumkugeln „Made in Germany“ zu kaufen gibt, aus | |
Rothenburg ob der Tauber in Mittelfranken. | |
Schnitt. Am 19. Dezember 2016 gegen 20 Uhr lenkte der islamistische | |
Attentäter Anis Amri auf diesem Weihnachtsmarkt einen Lkw in eine | |
Menschenmenge und tötete 12 Menschen. | |
Schnitt. An einem Bratwurststand wird der Grill angefacht, an einem anderen | |
für Kaffee und Waffeln reiben sich lachend zwei Verliebte die Hände, | |
stecken die Köpfe zusammen und halten sich ein Handy vors Gesicht. | |
Direkt daneben, etwa 50 Meter vom Tatort entfernt, verkauft eine hübsche | |
Frau in den Zwanzigern warme Wollschals in eleganten Farben. Sie stellt | |
sich als Lara Niederdrenk vor, als Halbspanierin. Gleich räumt sie | |
entschuldigend ein, dass sie den Anschlag nicht miterlebt hat. Eine Meinung | |
aber hat sie trotzdem: „Die Medien haben den Terroristen zuletzt zu viel | |
Aufmerksamkeit geschenkt.“ Und: „Man müsste diese Leute einfach | |
ignorieren.“ Angst hat sie keine, sagt sie. Aber auch, dass sie keine haben | |
möchte, schon aus Prinzip, um Gewalt und Hass und Vorurteilen keinen Raum | |
zu geben. | |
## Nicht einschüchtern lassen | |
Ähnlich resistent gegen den Ausnahmezustand gibt sich Mehmet M. vom Stand | |
gegenüber, der ebenfalls im ersten Jahr hier ist – ein höflicher Mann in | |
den Dreißigern, der vor fünf Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam und | |
seitdem auf diversen Berliner Märkten handgearbeitete türkische Häkelspitze | |
verkauft. „Es könnte doch überall passieren“, winkt er ab. | |
Beinahe scheint es, dass er nicht trotz, sondern gerade wegen des Anschlags | |
auf diesen Markt gekommen ist. „Man kann sich doch nicht dauernd fürchten“, | |
sagt er und zieht die Schultern hoch. „Wir müssen doch zeigen, dass wir uns | |
nicht einschüchtern lassen.“ Mehmet M. meint: Es muss selbst hier auf dem | |
Markt völlig normal bleiben, neugierig mit Menschen aus aller Welt zu | |
plaudern. Berlin muss eine offene Gesellschaft bleiben. | |
Der Markt füllt sich, es geht auf die Mittagszeit zu, eine | |
Kindergartengruppe schlendert gemächlich an Ständen vorbei, erste | |
Nackensteaks gehen über den Tresen. Die meisten der Standbetreiber, die den | |
Anschlag an dieser Stelle vor einem Jahr erlebt haben, winken ab, wenn sie | |
auch nur den Notizblock unterm Arm der Journalistin erkennen – manche | |
bedauernd, manche sogar abweisend bis angriffslustig – oder auch mit | |
knappem Verweis auf den Chef, der alle Medienanfragen entgegen nehme. | |
## Viele fühlen sich missverstanden | |
Viele von ihnen haben in den letzten 12 Monaten Interviews gegeben, viele | |
fühlten sich missverstanden, wie leicht herauszuhören ist. Sie empfinden | |
das Interesse der Medien als geheuchelt, denn Unterstützung hatten sie viel | |
zu wenig. „Und nun sollen wir auch noch die Poller zahlen“, beschwert sich | |
einer, der gerade Senf auf eine Wurst drückt und seinen Namen verweigert. | |
„Als ob die einen hindern könnten, der wirklich Schaden anrichten will.“ | |
So geht es auch einem Mann in den Fünfzigern hinterm Tresen eines | |
Glühweinstands direkt gegenüber von den neuen Betonsperren am Haupteingang, | |
genau gegenüber von der Stelle, wo der Lkw in den Markt fuhr. Auch er sagt, | |
dass er nichts sagen will, dann kommt er doch ins Reden, aber nicht, dass | |
er am Ende seinen Namen in der Zeitung lesen muss. | |
Der Mann war hier, genau an dieser Stelle vor einem Jahr, und der Laster | |
fuhr direkt auf ihn zu, bevor er dann doch in die andere Richtung abbog. | |
„Ich dachte, ich bin im Film“, sagt er.“ Er hat alles gesehen. Die kaputt… | |
Stände, die kaputten Menschen. Aber: „Ich glaube, ich habe es weggesteckt.“ | |
Auch er will jetzt in die Zukunft sehen, zum Alltag übergehen. Doch anders | |
als bei seinen Kollegen Lara Niederdrenk und Mehmet M. mauert er. Therapie? | |
Er winkt nur ab. Und dann geht es lang und immer lauter um seine „Wut auf | |
die da oben“, wie er sagt, darum, dass „Deutschland kein Einwanderungsland�… | |
sei, dass man „diese Jungs alle scannen müsste“ und „in | |
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stecken“, damit sie etwas leisten für ihr | |
Geld. | |
Was macht es mit einem Menschen, wenn er einen Lkw über Buden und Körper | |
rollen sieht und sich danach im Stich gelassen fühlt? Ist sein Berliner | |
Gemecker vielleicht eine Rückkehr in ein Leben, das dem davor wenigstens | |
noch ein bisschen ähnelt? | |
Sehr routiniert beherrscht auch die Charlottenburgerin Ulla Woucher die | |
Berliner Schnoddrigkeit – nur, dass sie den Anschlag nicht erlebt hat. | |
Was denkt sie über das Mahnmal, das am Dienstag eingeweiht wird? „Zu | |
mickrig“, außerdem an diesem Ort, der sei „wegen der Junkies“ spätesten… | |
ein paar Monaten völlig verdreckt. | |
Merkel? Eine einzige Niete, die im ersten Moment nach dem Anschlag „ihr | |
Bedauern durch den Pressesprecher“ habe ausrichten lassen. | |
Ulla Woucher ist eine schlagfertige Person, ihr Mann, den sie als Italiener | |
vorstellt, kommt nicht zu Wort, was ihn auch nicht zu stören scheint, denn | |
so kann er sich besser um das Ketchup auf seinem Revers kümmern. Als | |
gelernte Anwaltsgehilfin habe sie viel im Ausland gelebt, erzählt Ulla | |
Woucher, und immer nach dem Motto „When in Rome, do as the Romans do“. Sie | |
findet, die Einwanderer in diesem Land passen sich nicht genug an. Sie | |
spricht auch von einer diffusen Angst, „abends auf der Straße angetanzt zu | |
werden“. Dann aber grinst sie ziemlich breit, als eine Gruppe arabisch | |
sprechender Jugendlicher bewundernd vor einem Stand mit bunten | |
Papierweihnachtssternen zum Anknipsen stehen bleibt. | |
Einen Stand weiter direkt gegenüber von den Blumen und den Kerzen, die | |
immer noch auf den Stufen für die Opfer brennen, berichtet eine | |
Schöneberger Familie mit zwei Kindern im Grundschulalter. Die syrische | |
Familie, der sie am Anfang ein wenig bei den Ämtergängen geholfen haben, | |
war schockierter als sie selbst am 19. Dezember 2016. Man habe sich dann | |
abends zum Kochen verabredet. | |
Es ist 16 Uhr. Je weiter der Nachmittag voran schreitet, je dunkler es | |
schon wieder wird, desto mehr Menschen strömen auf den Weihnachtsmarkt am | |
Breitscheidplatz. | |
Es wirkt fast so, als sei hier nie etwas Schlimmes passiert. Hier eine | |
Familie aus Portugal, da ein britischer Geschäftsreisender. Zwei | |
Bankangestellte trinken Feierabendglühwein: Es ist die Rede vom Kopf, der | |
oben bleiben muss. Vom Bockshorn, in das sich keiner jagen lassen darf – | |
man spricht sich Mut zu. | |
Immer seltener reden die Menschen nun von „denen da oben“ und von den | |
„verkorksten Männern aus Nordafrika“. Immer öfter erzählen sie von der | |
offenen Gesellschaft, „trotz alledem“. | |
17 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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