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# taz.de -- Rechtsextremismus in Polen: Das marschierende Problem
> Białystok galt einmal als Polens Hauptstadt des Rassismus. Eine
> Social-Media-Expertin und ein Journalist stellen sich den Rechten
> entgegen.
Bild: „Europa wird weiß sein oder entvölkert“: Am 11. November marschiert…
Białystok taz | Eine Woche ist es erst her, da wirkte Polens Hauptstadt
Warschau wie ein Schlachtfeld. Und das, obwohl es am Unabhängigkeitstag,
der jedes Jahr am 11. November begangen wird, gar nicht zu Gewaltexzessen
kam wie so oft in den vergangenen Jahren.
Es war dennoch ein martialischer, ein unheilvoller Demonstrationszug,
der sich vom Kulturpalast in der Warschauer Innenstadt über die
Poniatowskibrücke bis hin zum Nationalstadion auf der anderen Weichselseite
erstreckte. 100.000 Menschen kamen, ein Meer von weiß-roten Fahnen, rote
Fackeln sowie rot rauchende Feuerwerkskörper waren zu sehen und weckten
schlimme Assoziationen.
„Tod den Feinden des Vaterlandes“ stand denn auch auf einem der großen
Transparente, „Europa wird weiß sein oder entvölkert“ auf einem anderen.
Und in einem Interview antwortete einer der „Patrioten“ auf die Frage,
warum er denn demonstriere: „Ich will die Juden an der Macht loswerden.“
Tage später sagt Anna Mierzynska, 40, in Białystok, einer Stadt rund 200
Kilometer nordöstlich von Warschau gelegen: „Ich habe das kommen sehen. Bis
vor Kurzem galt Białystok noch als Polens Hauptstadt des Rassismus. Jetzt
wird sich Warschau mit dem Ruf herumschlagen müssen, die
‚Rassismushauptstadt Europas‘ zu sein.“
Die Social-Media-Expertin winkt Darek Szada-Borzyszkowski zu, der zur Tür
des Restaurants Esperanto hereinkommt. 2011 gründeten die beiden mit einem
knappen Dutzend Freunden und Bekannten die Facebook-Gruppe ‚Normalny
Białystok‘ (Normales Białystok).
„Ich kann es noch immer nicht fassen: Dermaßen viele Polen sind den
rassistischen und antisemitischen Rattenfängern hinterhergelaufen. Es war
doch klar, wer die Organisatoren sind. Niemand kann sagen, er hätte es
nicht gewusst“, sagt Szada-Borzyszkowski. Der 58-jährige Journalist, der in
einem Museum der Nachbarstadt Tykocin arbeitet, erklärt: „Wir wollten mit
unserer Initiative Menschen wie dich und mich erreichen. So kamen wir auf
den Namen ‚Normales Białystok‘. Inzwischen sind wir 6.500 Leute.“
Keines der Gründungsmitglieder hatte sich vor 2009 gesellschaftlich stärker
engagiert. Doch dann schändeten Rechtsradikale den Grab- und Gedenkstein in
Jedwabne, einem Dorf in der Nähe von Białystok. Dort hatten 1941
katholische Polen – von Nazis angestiftet – ihre jüdischen Nachbarn bei
lebendigem Leib in einer Scheune verbrannt und deren Eigentum unter sich
aufgeteilt.
Erst im Jahre 2000 erfuhr ganz Polen von diesem Pogrom, einem von etwa 60,
die entlang der polnischen Ostgrenze begangen wurden. Das Entsetzen war
groß, aber auch die Abwehr einer abgeblichen Kollektivschuld.
So entschuldigte sich der damalige Präsident Aleksander Kwaśniewski nur im
Namen derjenigen, die eine solche Entschuldigung bei den Juden für richtig
und angemessen hielten. 2009 dann beschmierten Unbekannte den Grab- und
Gedenkstein in Jedwabne mit einem Hakenkreuz und dem Satz: „Ich
entschuldige mich nicht.“ An der kleinen Mauer, die das Fundament der
Scheune markierte, in der Hunderte Juden umkamen, prangte ein Kommentar:
„Sie waren leicht brennbar.“
## Militärisch geschulte Rechtsextreme
Im Protest dagegen versammelten sich rund 200 Polen zu einem Schweigemarsch
in Białystok. Doch dann kam ihnen eine Gruppe von rund 40 kahl rasierten
Hooligans des Białystoker Fußballvereins Jagiellonia entgegen, grölte
rassistische Parolen und pöbelte die Demonstranten an. „Ringsum in den
Cafés und Restaurants saßen die Leute und taten gar nichts“, erzählt Darek.
„Sie beobachteten das Schauspiel, halfen uns aber in keiner Weise.“
Mierzynska streicht die mittellangen braunen Haare zurück und nimmt sich
ein kleines Zwiebelbrötchen „Das Hauptproblem ist die Gleichgültigkeit der
Leute, und zwar keineswegs nur der ‚normalen‘ Bürger, sondern auch der
verantwortlichen Politiker.“
Szada-Borzyszkowski lehnt sich weit im Stuhl zurück, breitet die Arme aus
und hebt die buschigen Augenbrauen: „Was soll ich sagen? Ich habe mich
damals so gefühlt wie ein Jude, der unter Gelächter, Witzen und stiller
Zustimmung der Umstehenden die Pflastersteine der Straße mit einer
Zahnbürste putzen musste. Noch nie zuvor habe ich mich so erniedrigt
gefühlt.“
Der jüngste Unabhängigkeitsmarsch in Warschau löste insbesondere bei
Journalisten US-amerikanischer und britischer Medien Entsetzen aus. In
manchen Artikeln war von 60.000 und mehr „Nazis und Faschisten“ zu lesen,
gar von Europas größtem Rassistentreffen.
Vom Independent bis zur Washington Post stellten alle Zeitungen heraus,
dass sich das Nationalradikale Lager, die Nationale Bewegung und die
Allpolnische Jugend, die seit 2009 den Unabhängigkeitsmarsch der Radikalen
organisieren, auf antisemitische Gruppen aus der Zeit vor dem Zweiten
Weltkrieg berufen.
Das Nationalradikale Lager hatte sogar eine eigene Schlägertruppe, die zum
Teil militärisch geschult war. Anhänger dieser „Falanga“ liefen vergangene
Woche in schwarzer Kluft, zum Teil vermummt und mit der grünen
Falanga-Flagge „Hand am Schwert“, durch Warschau.
Manche hielten zusätzlich das Keltenkreuz hoch, das in ganz Europa als
Erkennungszeichen der Neofaschisten gilt und das in Polen verbotene
Hakenkreuz ersetzt. Niemand stoppte das gespenstische Treiben, kein
Polizist, kein Politiker, keine antifaschistische Gegendemonstration. Im
Gegenteil: Die kleine Gruppe Frauen, die das Transparent „Stopp Faschismus“
mit sich trug, wurde nicht nur angegriffen und von der Polizei nicht
verteidigt, sondern musste sich später auch noch anhören, dass sie
„provoziert“ hätte.
Zunächst versuchten Polens Politiker der nationalpopulistischen
Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) abzuwiegeln, doch als die
Kritik aus dem Ausland nicht nachließ und sogar Israels Außenministerium
Polens Regierung offiziell aufforderte, sich von dem „gefährlichen Marsch
extremer und rassistischer Elemente“ zu distanzieren und gegen die
Organisatoren juristisch vorzugehen, ruderten die Politiker zurück.
Aber keiner gab zu, dass Polen ein ernst zu nehmendes Problem mit der rasch
anwachsenden Rechtsradikalenszene hat, der sich mehr und mehr junge Leute
anschließen. Schon das Ergebnis der letzten Parlamentswahlen hätte
Politiker, Lehrer und Eltern aufrütteln müssen: Rund 70 Prozent aller
Erstwähler im Alter von 18 bis 23 Jahren stimmten für rechte und
rechtsradikale Parteien.
## „Polens Ruf ist reichlich ramponiert“
Statt das Problem beim Namen zu nennen, zogen Politiker wie PiS-Parteichef
Jarosław Kaczyński, Kulturminister Piotr Gliński oder Verteidigungsminister
Antoni Macierewicz es vor, von „Provokationen“ auf dem
Unabhängigkeitsmarsch zu sprechen, während doch die Mehrheit der Teilnehmer
friedlich und patriotisch gefeiert habe.
Nur Polens Präsident Andrzej Duda fand ein paar klare Worte: „In unserem
Land gibt es keinen Platz und keine Toleranz für Fremdenfeindlichkeit. Auch
keinen Platz für krankhaften Nationalismus oder für Antisemitismus“, sagte
er. „Menschen, die eine solche Haltung haben, sind aus der Gesellschaft
ausgeschlossen. Ihre Haltung kann man nicht anders bezeichnen als
schändlich.“
Szada-Borzyszkowski zuckt mit den Schultern: „Das kam zu spät. Polens Ruf
ist ohnehin seit dem Machtantritt der PiS reichlich ramponiert. Der
Radikalenmarsch und das Fehlen einer Distanzierung hat ihn nun vollends
ruiniert.“ Mierzynska nickt zustimmend.
Für einen Moment nimmt sie die Brille ab und schließt die Augen: „Wir haben
das alles hier in Białystok durchexerziert. Das Schweigen der Politiker,
den Nestbeschmutzervorwurf an jene, die das Problem benennen, schließlich
das Verdikt von außen: ‚Białystok, die Hauptstadt des Rassismus‘.“ Sie
seufzt. „Man darf sich nicht unterkriegen lassen im Kampf gegen den
Rassismus, auch wenn es mal Rückschläge gibt. Das sieht man am Beispiel von
Białystok.“
Szada-Borzyszkowski nickt und trinkt den letzten Schluck Limonade: „Noch
vor Jahren war Białystok eine Stadt ohne Gedächtnis. Niemand wollte sich
daran erinnern, dass es einst eine jüdische Stadt war, in der auch
katholische Polen lebten, orthodoxe Weißrussen, protestantische Deutsche
und muslimische Tataren.“ Das ändere sich seit einiger Zeit.
So habe die Stadtverwaltung auf Anregung von ‚Normalny Białystok‘ 2014
erstmals Informationstafeln am Zentralpark angebracht. Sie informieren
darüber, dass sich fünf Meter unter den Füßen der Spaziergänger der ältes…
jüdische Friedhof Białystoks befindet.
„Eines Tages“, so hofft Mierzynska, „wird auch das triumphale
Nachkriegsdenkmal auf dem Friedhof verschwinden oder zumindest die von
Nationalisten illegal angebrachte Parole ‚Gott, Ehre, Vaterland‘“.
Szada-Borzyszkowski ergänzt: „Da hat auch die katholische Kirche ein
Wörtchen mitzureden. Sie muss einsehen, dass der Nationalistengott nicht
der christliche sein kann.“ Er grinst jungenhaft: „Wir arbeiten daran.“
19 Nov 2017
## AUTOREN
Gabriele Lesser
## TAGS
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