| # taz.de -- Daniel Kehlmanns neuer Roman: Dies ist Literaturliteratur | |
| > Die Geburt der Literatur aus den Gräueln der Geschichte: Im Roman „Tyll“ | |
| > führt Daniel Kehlmanns sein akrobatisches Können vor. | |
| Bild: Schon am Anfang zeigt sich der lange Atem, den die Literatur in diesem Ro… | |
| Ein ziemlich außergewöhnliches Buch. Seit Wochen beginnen Gespräche mit der | |
| Feststellung, dass man bei Daniel Kehlmann eigentlich skeptisch sei, einen | |
| dieser sein neuer Roman aber schon sehr beeindruckt. Tatsächlich kann einen | |
| dieses Buch lange beschäftigen. | |
| „Tyll“ beginnt wie ein zeitlich verschobener, in manchem aber fast | |
| klassischer Künstlerroman. Daniel Kehlmann führt uns am Anfang diesen Tyll | |
| in seinem akrobatischen Können vor – was doppeldeutig gemeint ist: in Tylls | |
| akrobatischem Können und gleichzeitig dem erzählerisch-akrobatischen Können | |
| des Autors. Tyll tanzt auf dem Seil, eine Dorfgemeinschaft staunt. Tyll | |
| bringt die Zuschauer dazu, ihre Stiefel in die Luft zu werfen und sich dann | |
| beim Versuch, die eigenen Schuhe wiederzufinden, zu prügeln. Eine | |
| klassische Episode der Till-Eulenspiegel-Überlieferung. Dann kommt die | |
| Soldateska und metzelt das ganze Dorf nieder. | |
| Bemerkenswert an diesem Anfang ist mehr als die Brillanz der Grundidee, die | |
| Figur des Till Eulenspiegel, die bei Kehlmann Tyll Ulenspiegel heißt, aus | |
| dem 13. Jahrhundert um 400 Jahre nach hinten in die Zeit des | |
| Dreißigjährigen Krieges zu verschieben. Wobei, die Idee ist wirklich | |
| brillant; aber die Skepsis gegenüber Daniel Kehlmann beruht ja zum Teil | |
| gerade auf einer gewissen kalten Überbrillanz seiner Einfälle. Hier aber | |
| trifft die Idee etwas. Schon an diesem Anfang zeigt sich der lange Atem, | |
| den die Literatur in diesem Roman haben kann. | |
| Gegen Ende des Buches wird sich ein Soldat an die Erstürmung von Magdeburg | |
| erinnern, ein traumatischer Punkt deutscher Geschichte. „Macht, was ihr | |
| wollt, hat der General gesagt. Man schafft das nicht gleich, weißt du, muss | |
| sich erst dran gewöhnen, dass man das wirklich darf. Dass das geht. Mit | |
| Menschen machen, was man will.“ Aber sie haben sich halt dran gewöhnt. | |
| Gleich am Beginn – der in einer eigentümlichen Wir-Perspektive von den | |
| Toten erzählt wird – macht Kehlmann klar, dass wir die Nachfahren der | |
| Überlebenden von historischen Gemetzeln sind. | |
| ## Eine Außenseitergeschichte | |
| Von da aus geht es zunächst tatsächlich als Künstlerroman weiter. Im | |
| Rückgriff wird Tylls Kindheit erzählt. Eine Außenseitergeschichte. Tyll ein | |
| begabtes Kind unter Rüpeln. Der Vater ein zugezogener Müller und | |
| weltfremder Grübler. Die Mutter eher warm, aber auch überfordert mit den | |
| ständigen Geburten und den ihr unter der Hand wegsterbenden Kindern. Tyll | |
| rettet sich ins Lernen, auf dem Seil zu tanzen. Eine Zeit lang hat man beim | |
| Lesen den Eindruck, Daniel Kehlmann wolle hier die Kunst als Möglichkeit | |
| vorführen, sich über die Verhältnisse zu erheben. Aber eine solche Lesart | |
| würde diesen Roman gewaltig unterschätzen. | |
| Tylls Vater wird der Hexerei bezichtigt. Tyll muss fliehen. In der Folge | |
| lernt man eine Reihe interessant zusammengesetzter Figuren kennen. Einen | |
| freundlichen Henker und Folterer. Einen Bänkelsänger, der keinen Ton | |
| trifft. Und man erfährt einiges über den Stand des fahrendes Volkes. Neben | |
| Sängern und Akrobaten waren das auch Scherenschleifer, Heiler, | |
| Kesselflicker und Gewürzhändler. Sie stehen unter keinem Schutz. „Wer sie | |
| beraubt oder umbringt, wird nicht verfolgt. Das ist der Preis der | |
| Freiheit.“ | |
| Kurz, man stellt sich beim Lesen gerade darauf ein, jetzt Schritt für | |
| Schritt das Leben und die Zeit des Vaganten Tyll Ulenspiegel zu verfolgen, | |
| da gibt es, etwa am Ende des ersten Drittels, einen Bruch, und erst er | |
| macht die Besonderheit dieses Romans aus. Daniel Kehlmann verfolgt den | |
| Künstlerroman nämlich nicht konsequent weiter. Seinen Tyll versetzt | |
| Kehlmann in den Hintergrund der Szenen. Und im Vordergrund erzählt er nun | |
| keineswegs, etwa in der Art eines historischen Romans, vom Dreißigjährigen | |
| Krieg. Vielmehr wird der Roman erst einmal zu einer Art Bilderbogen aus | |
| Episoden, vor allem rund um das Schicksal des „Winterkönigs“ Friedrich V. | |
| aus der Pfalz, bei dem Tyll im Exil Hofnarr wird und der mit seinem | |
| Vabanquespiel, sich gegen den Willen des Kaisers zum König von Böhmen zu | |
| erklären, zum Auslöser des Dreißigjährigen Krieges wurde. | |
| ## Das Dilemma des Winterkönigs | |
| Beim Lesen dieser Episoden geht es einem unterschiedlich. Bei der | |
| Schilderung des Grauens des Krieges anhand der Schlacht von Zusmarshausen | |
| kann einem das Vorbild der Schlachtbeschreibungen von Leo Tolstoi etwas zu | |
| deutlich vor Augen stehen. Wie in „Krieg und Frieden“ irren auch hier die | |
| Figuren desorientiert durch ein tödliches Geschehen, das sie weder | |
| überblicken noch begreifen können. | |
| Sehr beeindruckend dagegen die Episode, in der der Winterkönig, Tyll im | |
| Gefolge, den schwedischen König Gustav Adolf trifft. Den Gestank eines | |
| Heerlagers von hunderttausend Menschen beschreibt Kehlmann großartig, und | |
| bei Gustav Adolf wird man als Leser von nun an sofort an die Wendung | |
| „jemanden die Ohren abreißen“ denken. Mit ihr charakterisiert Kehlmann die | |
| virile körperliche Präsenz des Schwedenkönigs auf dem Höhepunkt seiner | |
| Macht – wobei man als Leser natürlich weiß, dass das historische Vorbild | |
| bald darauf in der Schlacht von Lützen umkam. | |
| Vor allem aber arbeitet Kehlmann das Dilemma des Winterkönigs großartig | |
| heraus. Gustav Adolf könnte ihn retten, aber Friedrich V. selbst kann es | |
| nicht zulassen, weil er sich dadurch unter seinen eigenen königlichen Stand | |
| begeben würde. An solcher Hofetikette hingen in ganz Europa die Schicksale | |
| vieler, vieler Menschen. | |
| Das langsame, aus der subjektiven Perspektive geschilderte Verenden des | |
| Winterkönigs an der Pest in einer unbeteiligten Schneelandschaft ist ein | |
| weiteres Glanzstück. Auch da kann einem ein Vorbild einfallen: Cormac | |
| McCarthys Endzeitroman „Die Straße“, was einem reichlich gedankliches | |
| Spielmaterial bietet. Was ist eigentlich, wenn die Gesellschaft die | |
| Apokalypse nicht, wie bei McCarthy, noch vor sich, sondern auch bereits | |
| hinter sich hat wie bei „Tyll“? Nichts anderes als eine Endzeit war der | |
| Dreißigjährige Krieg mit seinen entvölkerten Landschaften. | |
| ## Ein traumatischer Kern | |
| Das größte Missverständnis diesem Roman gegenüber wäre, Realismus zu | |
| erwarten; dies ist Literaturliteratur, und zwar tolle. Während einen die | |
| Künstlerroman-Elemente mitreißen können, wirken solche historischen | |
| Episoden oft erst im Nachdenken über sie, dann aber subkutaner. Daniel | |
| Kehlmanns Figur des Tyll, die alle Episoden überlebt, in denen die anderen | |
| Menschen sterben, wird im Verlauf des Romans zu einer Art Verkörperung von | |
| Spottlust und literarischer Erfindungskraft auch im Angesicht des Leidens. | |
| Und anhand der Winterkönigin Elisabeth, die ihren Mann lange überlebt, | |
| schildert Kehlmann gleichzeitig, wie parallel zum Krieg sich im 17. | |
| Jahrhundert die deutsche Sprache und die Literatur entwickelten. Der | |
| Verfeinerungsprozess aus dem Derben begann. | |
| Es wäre zu eng gefasst, diesen Roman als einen der Geburt von Kunst und | |
| Literatur aus den Gräueln der Geschichte zu verstehen. Aber etwas davon ist | |
| in ihm enthalten. Damit behalten Kunst und Literatur aber zugleich einen | |
| traumatischen Kern. Seiltanz, heißt es ziemlich am Anfang, sei nichts | |
| anderes als „dem Fallen davonlaufen“. Und am Schluss schneidet sich Tyll | |
| beim Jonglieren mit Messern einmal in die Hand und verbeugt sich dennoch | |
| lächelnd. Die Winterkönigin zeigt später auf seine verbundene Hand, und | |
| Tyll sagt: „Vor hohen Herren greif ich immer mal daneben. Dann geben sie | |
| mehr Geld.“ | |
| Sich schneiden als Kunstform. Mit heutigen Ableitungen von Kunst aus netter | |
| Kreativität hat das wenig zu tun. Daniel Kehlmann bringt einen dazu, | |
| darüber nachzudenken, ob in der Kunst stets das Gemetzel der Geschichte | |
| enthalten ist und irgendwie in ihr Blut immer fließt. | |
| 14 Nov 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Dirk Knipphals | |
| ## TAGS | |
| Daniel Kehlmann | |
| Buch | |
| Roman | |
| Schriftsteller | |
| Österreich | |
| Daniel Kehlmann | |
| Wikipedia | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Schriftsteller Cormac McCarthy tot: Kein Leben ohne Blutvergießen | |
| Cormac McCarthy war der Autor so gewaltsamer wie längst klassischer Romane | |
| wie „Die Straße“ und „No Country for Old Men“. Jetzt ist er gestorben. | |
| TV-Krimi von Daniel Kehlmann: Vollpension, Mord inklusive | |
| Schriftsteller Daniel Kehlmann und der österreichische Produzent David | |
| Schalko präsentieren einen TV-Krimi. Ihr Film dekonstruiert das Genre. | |
| Deutsch-israelische Literaturtage: Marmelade, Pastrami, Heilig Abend | |
| Die Autoren Etgar Keret und Daniel Kehlmann eröffneten am Mittwoch mit zwei | |
| Lesungen und einem Gespräch die Literaturtage. | |
| Plagiatsvorwürfe gegen Kehlmann: Ende der Geschichte | |
| Germanistikprofessor Klaus Kastberger hatte suggeriert, dass Daniel | |
| Kehlmann aus der Wikipedia abschreibt. Nun entschuldigt er sich. |