# taz.de -- 100 Jahre Oktoberrevolution: Die Wahrheit ganz nach Lenin | |
> Bei der „Prawda“, dem Organ der russischen Kommunisten, ist man 1917 treu | |
> geblieben – auch was die Produktionsmittel angeht. Ein Besuch. | |
Bild: Genossen: „Prawda“-Chefredakteur Boris Komozki und Lenin | |
MOSKAU taz | „Sie hätten sich auf die Seite der Bolschewiki geschlagen“, | |
triumphierte die Prawda in der Woche vor dem 100. Jahrestag der | |
Oktoberrevolution. Eine Umfrage des russischen Meinungsforschungsinstituts | |
VZIOM hatte in der Tat ergeben: 32 Prozent der Befragten hätten Partei für | |
die Bolschewiki ergriffen, hätten sie sich vor hundert Jahren entscheiden | |
müssen. 38 Prozent rühmten soziale und ökonomische Veränderungen der | |
Revolution. Grundsätzlich schauten 60 Prozent wohlwollend auf die | |
revolutionären Umschwünge zurück. | |
Für die Kommunisten seien das ermutigende Zahlen, schreibt die Prawda (zu | |
Deutsch: Wahrheit), das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Russlands | |
(KPRF): Mehr als zwei Jahrzehnte antikommunistischer Propaganda hätten der | |
kommunistischen Idee nichts anhaben können. Auch die Jugend fange nun an, | |
selbstständig zu denken, hebt die Parteizeitung in dicken schwarzen Lettern | |
hervor. | |
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 geht es bei den Kommunisten wieder | |
bergauf, könnte man meinen. Zumindest geben Russlands Kommunisten nicht | |
auf. Siegeszuversicht ist Teil der Lehre des Marxismus-Leninismus, so etwas | |
wie eine Gesetzmäßigkeit. Doch wann der Erfolg sich letztlich einstellen | |
wird, kann hier niemand sagen. | |
Boris Komozki ist seit neun Jahren Chefredakteur des Zentralorgans Prawda. | |
Er blickt auf mehr als 20 Vorgänger zurück, die diesen Posten seit der | |
Gründung im Mai 1912 innehatten, darunter auch kollektive Leitungen. In den | |
besten Zeiten erreichte die Prawda, „die Zeitung von Arbeitern für | |
Arbeiter“, eine Auflage von 14 Millionen Exemplaren. Sie war | |
kommunistisches Verlautbarungsorgan und Stimme der Weltmacht Sowjetunion. | |
## „Vetternwirtschaft, wohin du schaust“ | |
Doch Zeitungsmacher Komozki ist bescheiden geworden: Rund hunderttausend | |
Exemplare werden an drei Tagen die Woche gedruckt. Ein Drittel davon geht | |
in den freien Verkauf, ein weiteres an Abonnenten und der Rest an | |
Parteigliederungen in der Provinz. | |
„Wir sind uns treu geblieben“, sagt Komozki trotzdem. Der 61-jährige | |
Philosoph ist Mitglied im Zentralkomitee der KPRF, als Abgeordneter saß er | |
für sie auch in der Duma. Seit mehr als 20 Jahren steht er dem | |
Parteivorsitzenden Gennadi Sjuganow zur Seite. Treu bleiben, das heißt für | |
ihn: „die Lage der arbeitenden Klasse nicht zu verschweigen“. 19 Millionen | |
Menschen lebten in Russland zurzeit unter dem Existenzminimum, sagt er. Ihn | |
schmerzt der Raubbau im Bildungs- und Gesundheitswesen. Klassische | |
Disziplinen, in denen die Kommunisten einst Erfolge vorweisen konnten. Das | |
hat sich geändert. Soziale Mobilität gebe es kaum noch, sagt Komozki. | |
„Vetternwirtschaft, wohin du schaust“. | |
Vor ihm auf dem Schreibtisch liegen stapelweise Briefe, handgeschrieben. | |
Darin beklagen sich Genossen über die Ungerechtigkeit der Welt. Die meiste | |
Post kommt aus der Provinz. Ändern kann die Partei nichts, und so bietet | |
sie sich zumindest als therapeutischer Briefkasten an. | |
Komozki sitzt unter einem großen Lenin-Porträt und schaut sich jede | |
einzelne Klage an. Während er die Briefe liest, ist der „Woschd“ auf dem | |
Bild an der Wand hinter ihm, Revolutionsführer Lenin, in die Lektüre der | |
Prawda vertieft. Millionenfach wurde das Motiv reproduziert: auf Vasen, | |
Schatullen und Partei-Memorabilien. | |
Nach einem Brand vor elf Jahren zog die Prawda ein Haus weiter. Der alte | |
konstruktivistische Bau in der Uliza Prawda, der Straße der Wahrheit, ist | |
seit dem Feuer gesperrt. Warnungen mit der Aufschrift „Gefahrenzone in | |
Gebäudenähe“ halten Neugierige auf Distanz. Die Brandwände der Zitadelle | |
der Weltrevolution wurden mit Planen abgehängt. | |
Der Umzug war ein Abstieg. Das Zeitungsmuseum im alten Bau wurde aufgelöst. | |
Eine halbe Büroetage mietet die Partei im neuen Domizil für das Hausblatt | |
noch an. | |
„Was sich retten ließ, landete beim Chefredakteur“, lacht Komozki. Und so | |
ist es doch immer noch ein bisschen wie im Museum. Da ist neben dem Lenin | |
etwa auch ein Geschenk der Wahrheit, des Zentralorgans der Sozialistischen | |
Einheitspartei Westberlins (SEW): Zum 70. Jahrestag des Roten Oktober im | |
Jahr 1987 überreichte das Kollektiv ein Stillleben mit Apfel, Bleistift und | |
Papier. Es hängt links an der Wand über der Großen Enzyklopädie der | |
Sowjetunion und Alexander Puschkins gesammelten Werken. | |
Nach Karl Marx sind die Produktionsmittel entscheidend für den Fortschritt | |
der Produktivkräfte, die gegenseitige Veränderung von Mensch und Technik. | |
Bei der Prawda sieht man davon wenig: Komozki nutzt den Computer der | |
Sekretärin im Vorzimmer, „falls mal nötig“. Er selbst hat keinen eigenen. | |
„Unsere Autoren unterhalten ein besonderes Verhältnis zum Papier“, | |
umschreibt er den Stand der Produktionsmittel. Zwar gibt es auch eine | |
digitale Ausgabe, aber die besteht nur aus einer PDF-Version der | |
Print-Zeitung. Die Prawda hat keinen eigenen Onlinedienst. | |
Die Print-Autoren sind im fortgeschrittenen Alter, oft schon in Rente. | |
Wiktor Alexejewitsch ist einer von ihnen, er will sich vom Genossen Komizki | |
verabschieden. Die Dienstreise führt ihn zum Jubiläum nach Leningrad, das | |
heute wieder Sankt Petersburg heißt. Auf der Aurora treffen sich 117 | |
Vertreter kommunistischer Parteien. Der Kreuzer feuerte damals den | |
Startschuss für den Sturm auf den Winterpalast ab. So die Legende. | |
Gleichwohl fand weder ein Sturm statt, noch feuerte der Kreuzer. | |
## Und Putin? | |
Doch Mythen und Legenden gehören zur Brauchtumspflege von KPRF und Prawda. | |
Je trauriger die politische Perspektive, desto mehr ist die Abteilung | |
fiktive Archäologie gefordert. | |
Könnte die Prawda nicht auch mal Russlands Chefoligarchen Wladimir Putin | |
als Kapitalisten mit Zylinder und Frack karikieren? So wie früher Onkel | |
Sam? Auch mit der Außenpolitik Putins ist der Prawda-Chef nicht | |
einverstanden: den Schulterschluss Russlands mit der Türkei unter Präsident | |
Recep Tayyip Erdoğan hält er für falsch. Die Annäherung an Saudi-Arabien | |
und das „Schweigen zum Völkermord“ an den Jemeniten seien ein Skandal. Auch | |
Moskaus Fixierung auf die Ukraine regt Komozki auf; „pathologisch“ nennt er | |
das. Ganz zu schweigen vom Umgang mit dem Iran und dem alten Verbündeten | |
Indien. Der wende sich von Moskau ab. | |
Doch die Partei hat Beißhemmungen. Nicht unbegründet: Sie stützt Putins | |
imperialen Kurs im „alten Reich“. Denn darin zumindest bleibt der Kremlchef | |
Lenin und Stalin treu. Komozki erkennt auch sowjetische Stilelemente an | |
Putin: Der wolle es sich mit niemandem verderben, weder mit den Anhängern | |
der Oktoberrevolution noch mit ihren Gegnern. Auch deswegen lässt er die | |
Prawda gewähren. | |
Und so behalten die Kommunisten ihr Unbehagen für sich. Sonst würde | |
womöglich dieser inoffizielle Vertrag gefährdet. Die Palliativmedizin des | |
Kremls garantiert würdevolle Lebensqualität für die noch verbleibende Zeit | |
der Zeitung. Lebensverlängerung ist nicht mehr möglich. | |
Ermutigend klingt das nicht. | |
7 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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