# taz.de -- 100 Jahre Oktoberrevolution: Wo Jugend Klassenkampf lernt | |
> Der Nachwuchs der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) | |
> diskutiert die Rolle des Arbeiters heute. | |
Bild: Auch 100 Jahre nach der Revolution geht nichts ohne Lenin! MLPD-Plakat im… | |
Gelsenkirchen taz | „Die Diktatur des Proletariats ist das Machtinstrument | |
der Arbeiterklasse im Sozialismus. Wir fördernd deshalb in unserer | |
Jugendorganisiation Rebell, dass unsere Mitglieder Arbeiter werden“, sagt | |
Anna Vöhringer. „Die Arbeiterklasse ist die Macht, die den Sozialismus | |
erkämpft.“ Lenins Satz, die Köchin muss den Staat regieren können, hier in | |
der Zentrale der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) gilt | |
er ungebrochen. | |
Anna Vöhringer (25) ist die Sprecherin des Jugendverbandes „Rebell“ der | |
MLPD. Die junge Frau sitzt zum Gespräch im Büro von Monika Gärten-Engel | |
(65), Mitglied des Zentralkomitees der MLPD in Gelsenkirchen. | |
„Es ist eine bürgerliche Theorie, die Arbeiter kleinzureden, indem man | |
sagt, das Proletariat existiert nicht mehr. Wir sind der Meinung, dass die | |
Arbeiterklasse international wächst“, unterstützt Monika Gärtner-Engel die | |
Theorie vom revolutionären Proletariat. „Es ist auch eine Geringschätzung | |
gewerblicher Berufe. Als meine drei Töchter eine gewerbliche Ausbildung | |
machten, habe ich das auch erfahren. Dabei sind Arbeiter heute hoch | |
qualifiziert. Das spricht noch mehr für ihre führende Rolle.“ | |
Die Parteizentrale im strukturschwachen Ruhrgebiet ist eine ehemalige | |
Sparkasse. Ihre Außenwände sind immer noch mit den Plakaten der letzten | |
Bundestagswahl beklebt: „Rentenalter und Arbeitszeit runter“. | |
„Umweltverbrecher strafrechtlich verfolgen“. „Gleiche Rechte für Migrant… | |
und Deutsche“. | |
## Parolen mit dogmatischem Sound | |
Reduziert auf Stichworte, unterscheidet sich das Wahlprogramm der MLPD kaum | |
von dem anderer linker Parteien. Es sind die formelhaften, ideologischen | |
Sätze, die marxistisch-leninistischen Ismen, die dogmatisch starr | |
herüberkommen und an vergangene Zeiten erinnern. | |
Heute gehe es natürlich auch um Energieversorgung, dezentrales Recycling. | |
„Umweltfragen sind heute Überlebensfragen“, sagt Gärtner-Engel. | |
Paradigmenwechsel im Sozialismus? Jedenfalls hat die Parteizentrale | |
Photovoltaik auf dem Dach. | |
Monika Gärtner-Engel hat wie viele der AltgenossInnen in Tübingen studiert. | |
1999 heiratete sie den Parteivorsitzenden der MLPD Stefan Engel, von dem | |
sie inzwischen wieder getrennt ist. Sie brachte drei Töchter in die Ehe. | |
Ihre Tochter Gabi Fechtner (40), gelernte Werkzeugmechanikerin, hat im | |
April den Parteivorsitz übernommen. Wird die MLPD geführt wie ein | |
schwäbisches Familienunternehmen? | |
## „Rotfüchse“ und „Rebellen“ | |
„Ja, das wir uns oft vorgehalten oder es wird sogar als Monarchie | |
tituliert“, sagt Monika Gärtner-Engel. „Aber ich finde das eigentlich ein | |
gutes Zeichen. Offensichtlich hat unsere Lebensweise eine Anziehungskraft, | |
eine Überzeugungskraft auf unsere Kinder.“ | |
Das kann Anna Vöhringer nur bestätigen: „Ich war schon als kleines Kind bei | |
den Rotfüchsen. Meine Eltern sind auch in der MLPD organisiert und schon | |
lange dort aktiv.“ Beim jährlichen Sommercamp in Thüringen lernen sich bis | |
zu 300 „Rotfüchse“ aus der Kinderorganisiation der MLPD und die | |
Jugendlichen des „Rebell“ kennen. Mindestens ein Viertel komme aus | |
MLPD-Familien, sagt Vöhringer: „Die Älteren übernehmen Verantwortung für | |
die Jungen.“ | |
Nach Verfassungsschutzangaben gibt es rund 1.800 eingeschriebene | |
MLPD-Mitglieder. Der Erfolg der Partei bei den Bundestagswahlen blieb mit | |
0,2 Prozent marginal. Was also fasziniert Jugendliche heute an der | |
„Diktatur des Proletariats“ und lässt sie Arbeiter werden? | |
Herbstudienfreizeit des „Rebell“ zu „100 Jahre Oktoberrevolution“ im | |
MLPD-Büro in Berlin-Neukölln. Ein Arbeiter, vier StudentInnen, davon eine | |
Studentin aus Marokko, eine Schülerin sind anwesend. Sie sind zwischen 13 | |
und 31 Jahre alt. Knallenge Jeans, Minirock, durchlöcherte Strumpfhosen und | |
modische Lederjacken verorten sie ganz im Hier und Jetzt. | |
## Wein „Roter Oktober“, Sekt „Karl Marx“ | |
In einer Vitrine stehen neben Büchern Parteidevotionalien: eine | |
Weinflasche, „Roter Oktober“ und „Karl Marx“-Sekt. Auf dem Büchertisch | |
liegen Partei-Publikationen, unter anderem auch „Die Oktoberrevolution | |
lebt“, eine Rede von Stefan Engel von 1989. | |
Hier im Berliner Parteibüro schult sich der Nachwuchs selbst. Fünf Tage | |
wird gemeinsam gekocht, gelesen und diskutiert. Es werden Filme über | |
Wladimir Iljitsch Lenin und die Oktoberrevolution geschaut. Zwischendrin | |
wird auf den wenigen Spuren der Oktoberrevolution Berlin erkundet. | |
Die AltgenossInnen Anne Bertholomé, ZK-Beauftragte für Schulung, Bildung | |
und Kultur, und Conrad von Pentz, Direktkandidat der internationalistischen | |
Liste der MLPD, sprechen nach Pilzragout mit Nudeln und Salat über „Wie der | |
Stahl gehärtet wurde“ (1934). | |
Der Roman des sowjetischen Schriftstellers Nikolai Alexejewitsch Ostrowski | |
hat nach Einschätzung des Lexikons der Weltliteratur „bei der | |
sozialistischen Erziehung in der Sowjetunion und bei der sozialistischen | |
Bewusstseinsbildung der fortschrittlichen Jugend in der ganzen Welt eine | |
bedeutende Rolle gespielt“. | |
## Idole aus den 1930ern | |
Der Inhalt: Kortschagin kämpft in der Roten Armee, dem Komsomol und der | |
Kommunistischen Partei. Ein aufopferungsvoller, prinzipientreuer Held, | |
der nie seine Zuversicht, seinen Kampfesmut verliert, rücksichtslos | |
gegenüber seiner eigenen Gesundheit und der Liebe zu einer Bürgerlichen. | |
Eigentlich ein hoffnungslos veraltetes Modell. Taugt er heute noch zum | |
Idol? | |
Die jungen Leute diskutieren ernsthaft, konzentriert. Sie wollen nicht | |
namentlich genannt werden. Sie fürchten Nachteile in ihrer beruflichen, | |
schulischen oder universitären Umgebung. | |
Literarisch sei es „kein Meisterwerk“, aber historisch interessant: „Man | |
kann die Oktoberevolution und den Aufbau des Sozialismus in der Ukraine | |
nachvollziehen.“ | |
„Die Lebensgeschichte des Pawka Kortschagin, sein unglaublich stürmischer | |
Kampfgeist ist beeindruckend, weil er Kleinarbeiten nicht scheut und für | |
die sozialistische Alternative und die einzig revolutionäre Klasse, die | |
Arbeiterklasse wirbt.“ | |
## „Hier finde ich Antworten“ | |
Gestanzte Parolen. Trotzdem diskutieren sie selbstkritisch, warum man in | |
der Partei Arbeitern immer mehr traue: „Dass die Hälfte von unseren | |
jugendlichen Mitgliedern und die Mehrheit von den hier Diskutierenden an | |
die Uni geht, das müssen wir klar sehen und darüber reden. Das heißt aber | |
nicht, dass die Arbeiterklasse nicht mehr die führende Rolle spielt. Nur | |
dadurch, dass so viele Genossen in alle Großbetriebe gegangen sind, haben | |
wir dort so viel Einfluss.“ | |
Jugendlicher Aufruhr im ideologischen Korsett eines kommunistischen | |
Glaubensbekenntnisses? „Nein“, widerspricht der Chemiestudent, der erst vor | |
Kurzem beigetreten ist: „Für uns ist der Marxismus eine Wissenschaft. Hier | |
werden die Fragen gestellt, die mich interessieren, dass die Reichen immer | |
reicher, die Armen immer ärmer werden. Und hier kann ich mich engagieren, | |
hier finde ich Antworten. “ | |
27 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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