| # taz.de -- Ganz großes Kino aus Japan: Die vom Schmuddelfilm | |
| > Einige der größten Stimmen des japanischen Kinos sind international | |
| > völlig unterrepräsentiert. Etwa Nobuhiko Ōbayashi mit „Hanagatami“. | |
| Bild: Melancholische Sexarbeiterin: Szene aus Takahisa Zezes „The Lowlife“ | |
| Seit 30 Jahren findet alljährlich das Internationale Filmfestival von Tokio | |
| statt. Aus dem Westen war bis zur Jahrtausendwende allerdings fast nie | |
| jemand dort zu Gast. Erst nach dem Boom des japanischen Kinos Ende der | |
| Neunziger änderte sich das. Heute verdient das Festival seinen | |
| internationalen Titel ohne Frage. Das allein macht allerdings noch keine | |
| gute Filmauswahl. „Mehr Weltpremieren“ lautet die Strategie des | |
| Programmchefs für die nächsten Jahre – eine strukturelle Bankrotterklärung. | |
| Zum Glück entpuppt sich das Strukturelle oft als Machtspielchen und | |
| wandelbare Konstruktion. | |
| Schon zehn Jahre vor dem ersten Festival in Tokio setzte sich der legendäre | |
| japanische Filmemacher Nobuhiko Ōbayashi in den Kopf, ein besonderes Buch | |
| zu adaptieren: „Hanagatami“, eine Kriegsbetrachtung des japanischen Autors, | |
| Dichters und Essayisten Kazuo Dan. | |
| Als Ōbayashi in den Siebzigern diesen Beschluss fasste, war gerade sein | |
| erster Spielfilm fertig: „Hausu“ (1977). Ein psychedelischer, | |
| surrealistischer Formexzess, dessen Geschehnisse sich auch nach heutigen | |
| Maßstäben unmöglich ohne Schmunzeln und vor allem Staunen beschreiben | |
| lassen. „Hausu“ war seine erste Chance, für eines der großen Filmstudios … | |
| drehen. Das Kino lief damals nicht besonders gut, also vertraute man auch | |
| mal Außenseitern. | |
| Ōbayashi kam vom Experimentalfilm und leistete schon in den Sechzigern | |
| Pionierarbeit. Im linken Klima der Stadt, im Vorfeld der großen | |
| Studentenproteste und im Austausch mit Weggefährten wie Shūji Terayama | |
| entwickelte und erprobte er immer neue Methoden des Filmemachens. Ob | |
| Ōbayashi damals in den Siebzigern wohl geahnt hätte, das sein lange | |
| ersehnter Film einmal bei einem Mainstream-Festival laufen würde? | |
| ## Radikal und widerspenstig | |
| Gerade erlebte „Hanagatami“ beim mittlerweile größten Filmfestival in Tok… | |
| seine Uraufführung vor der versammelten Filmöffentlichkeit Japans. Wobei, | |
| selbst dem kommerziellen Filmemachen hat sich Ōbayashi nie verweigert: Vor | |
| seinem ersten Spielfilm hatte er rund 2.000 Werbefilme gedreht, oft im | |
| Ausland, mit Stars wie Kirk Douglas oder Charles Bronson. | |
| Kürzlich erfuhr Ōbayashi im Alter von knapp achtzig Jahren von einer | |
| ernsthaften Krebserkrankung. Doch er gab nicht auf, sondern zog den Film | |
| durch, für ein junges japanisches Publikum, das nie einen Krieg erleben | |
| musste. Der Regisseur betont immer wieder, wie das Kino und die Kunst zu | |
| einer verantwortungsbewussten Gesellschaft beitragen können und müssen. Und | |
| er hält sein Wort. Kaum ein ähnlich prominenter Regisseur würde auf die | |
| Idee kommen, so einen radikalen, widerspenstigen Film zu machen. | |
| „Hanagatami“ lebt in Superlativen, ist ganz zweifellos dem Überschwang | |
| eines jugendlichen Geistes entsprungen: Kein Moment ohne Musik, die | |
| Spielenden benehmen sich wie Kinder und sind ohne Rücksicht auf ihr | |
| tatsächliches Alter besetzt. Ständig Innenräume, so klaustrophobisch wie | |
| auf einer beengten Insel. Und hinter jedem Fenster nach draußen wartet | |
| keine Außenwelt, sondern weitere, über Green Screen eingefügte Filmbilder. | |
| Ōbayashi zeichnet eine kompromisslose Kinowelt voller Doppelbelichtungen | |
| und Fantasiebilder, die sich ganz künstlich anfühlt und doch nie Zweifel | |
| lässt an ihren gedanklichen Bezügen zu den Realitäten des Krieges. | |
| ## Durch die Macht des Kinos unantastbar geworden | |
| Die Reaktionen auf das Erscheinen des Regisseurs sind ehrfürchtig, bei | |
| Branchenprofis wie in der linken Szene. Ein Antikriegs-Aktivist, der durch | |
| die Macht des Kinos unantastbar geworden ist. Im Westen kennt den | |
| japanischen Künstler dagegen kaum jemand. Bloß „Hausu“ avancierte zur | |
| Jahrtausendwende durch die Criterion Collection zum internationalen Kult. | |
| Ōbayashi ist nicht der Einzige mit diesem Schicksal. Einige der größten | |
| Stimmen des japanischen Kinos sind international völlig unterrepräsentiert. | |
| Auch Takahisa Zeze etwa, der in Tokio gleich zwei Filme zeigte. Einen im | |
| offiziellen Programm und einen hinter verschlossenen Türen im großen | |
| Branchenbereich des Festivals. Ein weiterer über Sumo-Ringer sei fertig und | |
| einer in der Postproduktion. Zeze macht derzeit beinahe so viele Filme wie | |
| der nimmermüde Takashi Miike, den Filmfans heute häufiger auf heimischen | |
| Leinwänden antreffen können. | |
| Miike lässt sich gut vermarkten, über Sex und Gewalt und Popkultur. Zeze | |
| ist da schon komplizierter, ein Anarchist und profilierter Autorenfilmer. | |
| Zuletzt war „Heaven’s Story“ im Westen zu sehen, 2011 bei der Berlinale. | |
| Eine Rachegeschichte anhand mehrerer Schicksale, die über vier Stunden | |
| dauert und den Mut von Verleihen und Kinobetreibern herausfordert. Auch | |
| sein neuer Film, „The Lowlife“, verwebt Schicksale. Zeze erzählt | |
| meisterhaft von vier Frauen, die Pornos drehen, von sozialen Stigmata, die | |
| sich nach knapp vier Jahrzehnten „Adult Video“-Produktion noch immer durch | |
| die japanische Gesellschaft ziehen. | |
| ## Drastische Entwicklungen der Filmindustrie | |
| Ōbayashi und Zeze helfen zu verstehen, wie vielgestaltig das japanische | |
| Kino sich in den letzten Jahrzehnten ausgeprägt hat und welch drastische | |
| Entwicklungen die dortige Filmindustrie immer wieder durchmacht. Strukturen | |
| sind hier seit dem Zusammenbruch des klassischen Studiosystems selten von | |
| Dauer. Wer so lange am Ball bleiben will wie die beiden, muss einen | |
| ausgesprochen vielfältigen Sinn für das Kinohandwerk entwickeln. Zeze, | |
| heute Ende fünfzig, kam selbst vom Sexfilm. Er stieg Ende der Achtziger | |
| ein, als die sogenannten Pink-Filme ihren Zenit bereits überschritten | |
| hatten. | |
| Zeze machte einer der verbliebenen Produktionsfirmen Titelvorschläge wie | |
| „My Existence Is a Phenomenon Based on the Hypothesis of Blue Light | |
| Generated by Organic Currency“. Er tat sich zusammen mit drei anderen | |
| Filmemachern und nutzte die Freiräume billiger Erotikfilme für Angriffe auf | |
| ästhetische und gesellschaftliche Normen. Die vier wurden zur | |
| vielbeachteten Gruppe und hingen etwa mit der Regisseurin Naomi Kawase | |
| herum, die heute ein japanisches Aushängeschild in Cannes ist. | |
| Die selbstbewusste filmische Arbeit der vier jungen Filmemacher trug zu | |
| einem neuen, internationalen Interesse an den politischen und | |
| experimentellen Strömungen des japanischen Schmuddelfilms bei. Ab Mitte der | |
| Neunziger wurden ihre und frühere Filme dieser besonderen Filmgattung | |
| erstmals bei europäischen Festivalretrospektiven diskutiert. Doch die | |
| konnten nur ein Aufschlag sein. Wer mehr sehen und erfahren will, muss | |
| weiterhin selbst suchen. Und die Schwierigkeiten sind beidseitig: In Tokio | |
| reichte es im Sonderprogramm gerade mal für eine Werkschau zu Steven | |
| Soderbergh. | |
| 6 Nov 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Dennis Vetter | |
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