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# taz.de -- Japanisches Kino-Melodram: Was Familie sein kann
> Hirokazu Koreeda kann voller Leichtigkeit von schweren Themen erzählen.
> In „Unsere kleine Schwester“ erweist er sich erneut als präziser
> Beobachter.
Bild: Finden zueinander: Yoshino (Masami Nagasawa), Suzu (Suzu Hirose), Sachi (…
In seinem 1933 erschienen Essay „Lob des Schattens“ reflektiert der
Schriftsteller Tanizaki Jun’ichirō über den Sinn für Harmonie in der
japanischen Ästhetik. Dieser besondere Sinn beziehe auch alltägliche
Gegenstände ein, ihre Anordnung in Gärten und Wohnhäusern etwa. Jun’ichirō
beschreibt den Einfluss der Moderne auf eine fragile Harmonie, deren
Schönheit gerade in ihrer Unaufdringlichkeit besteht.
So kann der Einsatz einer Glühbirne mit ihrem kühlen Schein das Spiel mit
Licht und Schatten in einem Raum verändern. Und Glasscheiben, auch wenn sie
milchig eingefärbt sind, erzeugen ein anderes Licht als das traditionelle
Papier-Shōji (Raumteiler) mit seiner weichen Semitransparenz. Für die
hölzernen Schiebetüren japanischer Häuser mit ihren kleinen Fenstern wurden
diese Papier-Shōjis lange Zeit benutzt.
In einer Szene in Hirokazu Koreedas neuem Film, „Unsere kleine Schwester“,
sieht man vier junge Frauen, wie sie mit buntem Papier, Kleber und Schere
versuchen, kaputte Shōjis zu reparieren. Das unorthodoxe Ergebnis mag nicht
ganz den strengen Maßstäben der japanischen Ästhetik entsprechen, ist aber
doch Ausdruck des Zusammenlebens dieser vier Schwestern.
Schon in seinen vorherigen Filmen „Still Walking“ und „Like Father, Like
Son“ erkundete Koreeda die Dynamiken von Familien, die Frage, was Menschen
zusammenhält, wie sie ihr gemeinsames Leben gestalten. Auch „Unsere kleine
Schwester“ zeigt, was Familie ist. Und vor allem: Was sie auch sein kann.
## Exkursion ins Innere einer Dreier-Gemeinschaft
Alle Geschichten, Biografien, Schicksale laufen in diesem Film in einem
traditionellen japanischen Haus zusammen. Unter seinem hölzernen Dach
wohnen zunächst drei Schwestern. Sacchi, die Älteste, arbeitet als
Krankenschwester, zeigt sich auch zu Hause verantwortungsbewusst und
sorgend. Joshino, die Mittlere, ist eine Bankangestellte und lebt einen
eher unbekümmerten Lebensstil, den Männern und dem einen oder anderen Bier
nicht abgeneigt. Das flippige Nesthäkchen Chika, ein wandelnder Farbtupfer,
jobbt in einem Sportgeschäft.
Bei ihrer Exkursion ins Innere dieser Dreier-Gemeinschaft tritt die
behutsam agierende Kamera stets einen Schritt zurück, setzt den Rahmen für
unsere Aufmerksamkeit. Koreeda ist ein präziser Beobachter, mit kleinen
Gesten oder Blicken am schön gedeckten Esstisch, die manchmal mehr als
Worte sagen, mit den Vorlieben bei der Wahl der Speisen, erzählt er wie
nebenbei von der Vertrautheit der Schwestern und ihrer Rollenaufteilung.
Ein Frühstück setzt den Zuschauer zu Beginn ins Bild. Bei Nattō-Bohnen,
eingelegtem Gemüse und Reis erfährt man, dass die Schwestern schon lange in
ihrem Elternhaus ohne Eltern leben. Sie wurden verlassen, sowohl von ihrer
Mutter als auch vom Vater, der mit einer anderen Frau zusammenlebte und
gerade gestorben ist. Zudem stellt sich heraus, dass der Vater noch eine
kleine Tochter hat.
Daraufhin wird ausgerechnet das strenge Zeremoniell einer japanischen
Beerdigung, eigentlich Ausdruck eines Endes, zum Beginn einer neuen
Familiengeschichte. Hier lernen die drei Schwestern die kleine
Halbschwester Sozu kennen, die noch zur Schule geht und bei ihrer
Stiefmutter lebt. Mit ihr kommen alte Erinnerungen zurück, zudem die
Vorstellung, was ein Vater hätte sein können. Das höfliche Mädchen in
Schuluniform überreicht den Älteren mit einer Verbeugung einen Umschlag mit
deren Kinderfotos. Später nimmt Sozu das Trio mit zum bevorzugten
Aussichtsplatz des Vaters.
In solchen Momenten erzählt Koreeda voller Leichtigkeit von schweren
Themen. Von zersplitterten Familien, Verlust oder auch der Sehnsucht nach
dem Verstorbenen. Und statt all das zu erklären, lässt er den Zuschauer
lieber teilhaben. An der Schönheit eines sommerlichen Spaziergangs durch
die Natur. An dem, was vier Schwestern, die ihr Schwesternsein entdecken,
dabei empfinden.
Zu ihrer Verblüffung stellen die drei Älteren fest, dass die Aussicht, die
ihnen Sozu präsentiert, einer Stelle in ihrem Heimat- und Geburtsort
ähnelt. Es ist ein Blick, der verbindet, auf andere Weise von
Verwandtschaft erzählt. Beim Abschied sorgt das Angebot der Ältesten für
weitere Überraschung: Spontan fragt sie Sozu, ob sie bei ihnen einziehen
möchte.
## Der Ahnenaltar, das Pflaumenpflücken, der Kimono
Der Film basiert auf der in Japan populären Manga-Serie „Unimachi diary“
(“Tagebuch aus einem Küstenstädtchen“). Von der Vorlage übernimmt der Fi…
seine episodische Struktur. Er folgt den Wegen von Sozu und ihren neu
entdeckten Schwestern. Und entfaltet ein Leben, in dem die japanische
Kultur und ihre Rituale Trost und Rückhalt geben: Da ist der Ahnenaltar im
Wohnzimmer, durch den die Toten als Begleiter und Mitbewohner lebendig
bleiben. Der Kimono, den Joshino einst von der Großmutter bekommen hat, und
den sie nun der kleinen Schwester vermacht. Das Pflaumenpflücken für den
traditionellen Wein, in dessen Jahrgängen sich die Familienchronik
spiegelt.
Und während Sozu, das introvertierte Mädchen, auch dank der Traditionen
Teil der Familie wird, ist sie es, die mit ihren Erzählungen den abwesenden
Vater für die Älteren zurückbringt.
„Unsere kleine Schwester“ zeigt, wie aus Verwandtschaft Familie wird. Und
aus Familie Zugehörigkeit. Dabei verbindet Koreeda den Blick in die
Vergangenheit mit der gelebten Gegenwart junger Frauen und einer
Heranwachsenden im modernen Japan. Streitereien, Affären und Trennungen,
der erste zaghafte Flirt – es ist wieder ein großes kollektives Ritual, die
Huldigung der Kirschblüte, in dem alle Episoden dieses wunderbaren Films
zusammenfließen werden.
16 Dec 2015
## AUTOREN
Anke Leweke
## TAGS
Familie
Kino
Japan
Hirokazu Koreeda
Japanisches Kino
Männlichkeit
Kino
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