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# taz.de -- Soziologin über Konfliktsituationen: „Polizei ist keine Lösung …
> Melanie Brazzell plädiert mit „Transformativer Gerechtigkeit“ dafür,
> Sicherheit neu zu denken – und eigenverantwortlich für sie zu sorgen.
Bild: Ein ikonographisches Foto vom Juli 2016: Demonstration in Louisiana gegen…
taz: Frau Brazzell, Sie plädieren dafür, bei Gewaltvorfällen die Polizei
nicht einzuschalten. Wieso?
Melanie Brazzell: Das hat verschiedene Gründe. Manche Menschen können oder
wollen die Polizei in Konfliktsituationen nicht anrufen, weil sie sich dann
selbst oder andere in ihrem Umfeld gefährden würden. [1][Nach der
Silvesternacht 2015/2016 in Köln] forderten einige Organisationen als Teil
der rassistischen Reaktionen einen besseren polizeilichen Schutz von
Frauen. Dies nennen wir „Strafrechtsfeminismus“. Die Polizei ist aber keine
Lösung für Gewalt. Im Gegenteil: Sie produziert und ermöglicht Gewalt.
Diese Gewalt ist teils unsichtbar und normalisiert. Für Personen of Color
oder Migrant*innen birgt ein Polizeieinsatz die Gefahr, dass es zu
[2][Racial Profiling] oder Abschiebung kommt. Auch queere und
Trans-Menschen erfahren oft Diskriminierung durch die Polizei. Häufig rufen
Leute die Polizei, wenn sie sich in einer Krisensituation wiederfinden und
auf diese nicht vorbereitet sind. Sie wollen die Verantwortung an den Staat
abgeben. Wenn wir über Alternativen zur Staatsgewalt reden, müssen wir
diese Verantwortung füreinander in unserem Umfeld übernehmen. Und uns auch
weit im Voraus darauf vorbereiten, weil die Basis im Umgang mit solchen
Situationen oft fehlt und viele Menschen damit überfordert sind.
Ist Selbstjustiz nicht gefährlich?
Ich arbeite mit den [3][Konzepten „Transformative Gerechtigkeit“] und
„Kollektive Verantwortungsübernahme“: Diese wurden von Frauen, nichtbinär…
und trans People of Color in den USA entwickelt. Die Wurzeln meiner Arbeit
kommen aus diesen Communities, wo ich als weiße Frau selbst nur zu Gast
bin. Sie zielen darauf, Sicherheit zu gewährleisten, ohne auf Bestrafung
und staatliche Gewalt zu setzen. Nicht alles, was kollektiv organisiert
ist, ist auf alle Situationen übertragbar. Rechtsradikale, die sich den
Schutz vor sexualisierter Gewalt an Kindern auf die Flagge schreiben,
entwickeln eigene Lösungsansätze, sind aber nicht emanzipatorisch. Eine
Gruppe aus den USA, Generation Five, hat ein Buch zum transformativen
Umgang mit Gewalt an Kindern herausgebracht. Ihre Feststellung ist: Es gibt
Formen der Selbstjustiz und Rache, die nicht die grundsätzlichen
Machtverhältnisse, die sexualisierte Gewalt an Kindern ermöglichen,
angreifen. Diese Machtverhältnisse werden eher noch verstärkt. Selbstjustiz
ändert nichts an den Wurzeln des Problems.
Angenommen, ich werde in der Disco sexuell belästigt. Was mache ich, statt
110 zu wählen?
Mein Ansatz ist nie, den Betroffenen Entscheidungsmöglichkeiten
wegzunehmen, sondern Alternativen aufzuzeigen. Ich als weiße Frau hätte
vielleicht bessere Chancen, mich mit dem Justizsystem auseinanderzusetzen.
Aber da ich trotzdem das Gefühl habe, dass dieses System keine Heilung,
Gerechtigkeit und Wiedergutmachung bringen kann, würde ich nicht dort
anrufen. Es geht konkret darum, Beziehungen und Skills aufzubauen. Mit den
Leuten, mit denen ich unterwegs bin, gut zu kommunizieren, aufeinander
aufzupassen und bedürfnisorientiert zu reagieren, also zu gucken, was die
Menschen tatsächlich brauchen. Das könnte möglicherweise
Deeskalationsstrategien oder Selbstverteidigung beinhalten. Ich empfehle,
dass Freund*innen miteinander über mögliche Krisensituationen reden und
Sicherheitspläne erstellen, bevor etwas passiert: Wie gehst du mit
rassistischen Beleidigungen in der U-Bahn um? Was sollen wir machen, falls
dein Ex wieder auf der Party auftaucht? Wie kann ich dich unterstützen?
Gibt es Beratungsstellen oder andere Ressourcen?
Stichwort Partner*innengewalt: Ich bin zu Hause, höre in der Wohnung über
mir einen lauten Streit. Plötzlich knallt es. Was kann ich tun, außer die
Polizei anzurufen?
Wenn Gewalt in intimen Beziehungen passiert, gibt es viele Gründe, weshalb
die Polizei nicht unbedingt eingeschaltet werden sollte: komplexe
Beziehungsgeflechte, Abhängigkeiten oder dass der Fall möglicherweise vom
Gesetz nicht als Gewalttat anerkannt wird. Für Menschen, deren
Aufenthaltstitel von ihrer Partner*in abhängt, könnte es ganz gefährlich
sein. Oder die Beziehung zu Kindern aufs Spiel setzen. Wenn ich wahrnehme,
dass es Gewalt in meiner Gemeinschaft gibt, muss ich mir überlegen, wie ich
kurzfristig und langfristig reagiere. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Es
ist gut, erst einmal bei anderen Menschen aus dem Haus zu klingeln und zu
fragen, ob sie etwas gehört haben und ob sie etwas über die Situation
wissen. Dann kann man zusammen hingehen und etwas sagen, Beziehungen
aufbauen. Bei Partner*innengewalt ist es wichtig, zu verstehen, dass gut
gemeinte Interventionen zu mehr Gewalt führen können. Daher muss der
Kontext betrachtet und evaluiert werden.
Schützt das die betroffene Person dann unmittelbar?
Schutz vor staatlicher Gewalt: möglicherweise ja. Aber vor
Beziehungsgewalt? Nicht unbedingt. Die Auswirkungen sind nicht zwingend
einschätzbar. Es ist wichtig, das Umfeld der Person einzuschalten, zu
mobilisieren und Unterstützung anzubieten. Ich arbeite ganz viel nach einem
Modell von „Incite“, einem US-amerikanischen Netzwerk radikaler Frauen,
nichtbinären und trans People of Color. Die waren die Ersten, die den
Begriff „kollektive Verantwortungsübernahme“ geprägt haben. In ihrem Mode…
gibt es vier Bereiche: Unterstützung für Betroffene und Verantwortung für
Gewaltausübende, das ist die zwischenmenschlichen Achse. Und die
gesellschaftliche Achse mit Veränderung auf der gemeinschaftlichen Ebene
und strukturellem Wandel. Um in diesen vier Bereichen etwas zu erreichen
ist ein gewisser Grad Koordination notwendig. Unterschiedliche Menschen
müssen zusammenarbeiten: Man muss die Gewalt ausübende Person konfrontieren
oder in einem Änderungsprozess begleiten, die betroffene Person
unterstützen und das Umfeld durch Präventionsarbeit sensibilisieren.
Sie beziehen sich auf US-amerikanische Konzepte. Sind die eins zu eins auf
Deutschland übertragbar?
Das Toolkit ist ein Versuch, aus queerfeministischer Sicht im deutschen
Kontext für die [4][Abschaffung von Gefängnissen] zu argumentieren. In
Deutschland ist das Gefängnissystem ein anderes als in den USA, aber auch
hier ist der Sicherheitsapparat des Staates kolonialrassistisch und
genozidial gewachsen. Unser Toolkit vereint Beiträge von vielen deutschen
Organisationen, die wichtigen Widerstand gegen diesen Sicherheitsapparat
leisten. Sie machen tolle gemeinschaftlich basierte Arbeit gegen Gewalt
wie Racial Profiling und Grenzregime. Trans und queere Gemeinschaften of
Colorüben diese Alternativen schon lange sowohl aus Not als auch aus einer
Vision für einen besseren Umgang heraus miteinander aus.
Bieten Sie neben dem Toolkit, das Sie zum Thema Transformative
Gerechtigkeit herausgegeben haben, auch Workshops an?
Mein Kollektiv, das „Transformative Justice Kollektiv“, bietet Workshops
und Prozesssupervision zu diesen Themen an. Da geht es darum, Leuten zu
ermöglichen, füreinander zu sorgen und dies als ihre Verantwortung und
politische Arbeit zu sehen. Wir haben das oft in weißen, linken Kontexten
gemacht.
Wie gehen weiße, deutsche Linke mit Gewalt um?
Viele Gruppen sind total zerstört, wenn ein Fall sexualisierter Gewalt
passiert. Ich habe den Eindruck, dass in der weiß-deutschen Linken der
Fokus stark auf Ideologie, die richtige Position und eine akademische
Analyse verschiedener gesellschaftlicher Verhältnisse gerichtet wird. Aber
auf der zwischenmenschlichen Ebene fehlen oft ganz grundlegende Skills. Wie
lebt man eine gute Beziehung? Wie übernimmt man Verantwortung, wenn man
selbst Fehler gemacht hat? Die starke Moralhygienekultur führt dazu, dass
Leute Angst haben, etwas falsch zu machen.
Wie äußert sich die Moralhygienekultur?
In den USA gibt es den Begriff calling out, dafür, wenn geoutet wird, dass
sich jemand diskriminierend verhalten hat. Wenn die diskriminierende oder
Gewalt ausübende Person eine Institution wie zum Beispiel den Staat oder
eine Firma repräsentiert, ist ein kollektiver Umgang mit dem Vorfall keine
Alternative. Aber wenn diese Person Teil der Gemeinschaft und Genoss*in
ist, gibt es eine Idee von Ngọc Loan Trần. Sie heißt calling in und richtet
sich an diejenigen in meinem Umfeld, von denen ich sage: Du und dein
Lernprozess, ihr seid mir wichtig, daher versuche ich, dir zu erklären,
warum dein Verhalten verletzend war, und dich zur Verantwortung zu ziehen.
Nicht in einer Art, die auf Scham und Strafe und Moralhygiene zielt.
Sondern anerkennend, dass du dieses Verhalten irgendwo gelernt hast und
auch wieder verlernen kannst.
3 Nov 2017
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## AUTOREN
Caren Miesenberger
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