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# taz.de -- Biennale in Karatschi: Jeder Pakistaner ist ein Künstler
> Die 1. Karatschi-Biennale will ein Modell für soziale Öffnung sein – in
> einem Land, das viele für einen so genannten Failed State halten.
Bild: Tradition goes Elektro: Wolfgang Spahns Installation „Noctilucent“
„Talk to me“. Schon der Titel der Arbeit klingt verführerisch. Auf dem
Bildschirm eines Laptops in Karatschis VM-Galerie lächelt ein zierlicher
junger Mann anzüglich. Syed Ammad Tahirs Arbeit kommt als Video-Chat daher.
Man loggt sich ein und kann mit dem Künstler, der sich an einem unbekannten
Ort aufhält, drei Stunden lang chatten. Im Laufe der Onlineperformance legt
der geschminkte Jüngling Schmuck an, lockt mit ausgestrecktem Zeigefinger
und beginnt lasziv zu tanzen.
Was in einer West-Biennale als obligatorische
Transgender-Something-Performance abgehakt würde, stellt in Pakistan
tendenziell ein existenzielles Risiko dar. Die Arbeit des 31 Jahre alten
Künstlers aus Karatschi kommt der „Gotteslästerung“ ziemlich nahe. Immer
wenn es der Regierung Pakistans zu islam-, militärkritisch oder sonst zu
freizügig wird, zückt sie das noch aus britischer Kolonialzeit stammende
Schwert des „Blasphemiegesetzes“.
Zwar hat der Staat bislang niemanden deswegen hingerichtet, allerdings
bedeutet schon der Vorwurf der Gotteslästerung Lebensgefahr. Im April 2017
tötete ein Mob den 23-jährigen Mashal Khan in Marden, im Januar waren fünf
Blogger entführt worden. Bis 2016 war YouTube drei Jahre lang in Pakistan
wegen islamkritischer Inhalte und „blasphemischer“ Posts gesperrt.
Angesichts solcher Bedingungen darf die erste Karatschi-Biennale, die Ende
Oktober in Pakistans größter Metropole eröffnete, durchaus als
historisches Ereignis bezeichnet werden.
## Fragmentierte Identität
Die kulturelle Differenz zwischen Europa und Südasien, zumindest in Sachen
Kunst, scheint gering. Die 140 Künstler*innen aus 30 Ländern, die meisten
von ihnen aus Pakistan, arbeiten zeitgenössisch: Video, Installation,
Performance. Und doch markieren Nuancen den anderen Kontext.
Der 1979 in Lahore geborene Ali Kazim hat in die Galerie der Kunstschule
der Indus-Universität eine endlose, röhrenartig verzweigte Skulptur aus
Tausenden Haaren gehängt. Adeela Suleman aus Karatschi, Jahrgang 1970, hat
in den Hof des Claremont-Hauses einen riesigen, menschhohen Spiegel
gestellt.
Kazim überträgt die traditionell ununterbrochene Linie der pakistanischen
Miniaturmalerei mithilfe eines extrem vergänglichen Mediums in die moderne
Skulptur. So wie Suleman das nach traditionellem Spiegelhandwerk
hergestellte Rechteck in unzählige Prismen unterteilt, die die Reflexion
verwehren, schafft sie aber auch ein Symbol für so etwas wie eine
fragmentierte, nie fassbare Identität. Filigran verbinden beide Tradition
und (Post-)Moderne.
## Die Wiedereroberung des Öffentlichen
Dieser andere Kontext inspiriert im Gegenzug westliche Pop- und
Konzept-Art. Das Meer leuchtend grüner, recycelbarer Plastikverpackungen
des koreanischen Künstlers Seok Yun Han erinnert daran, wie „Greenwashing“
den Verlust an realer Natur in der maroden Megacity kompensieren soll. Und
so wie der Berliner Künstler Wolfgang Spahn einen ausgebrannten Minibus mit
fluoreszierenden Leuchtbahnen „tätowiert“, überführt er die legendäre
„Tribal Truck Art“ der pakistanischen Lastwagen ins Elektronische.
Der große Erfolg der Biennale jedoch ist die Wiedereroberung des
Öffentlichen. Keine Kleinigkeit in einem Land, das im Westen als failed
state geschmäht wird.
Und in einer Stadt, die noch vor wenigen Jahren einem Labyrinth des Terrors
glich. Ob es nun der Bandenkrieg zwischen den Nachfahren der indischen
Einwanderer und zugezogenen Paschtunen war, bei dem sich jeden Morgen
Leichenberge in den Straßen häuften. Oder die Terroranschläge der
pakistanischen Taliban auf die liberale Hafen- und Handelsmetropole wenig
später.
## Zerfall und Chaos dominieren das Stadtbild
Trotzdem igeln sich alle weiter in ihren stacheldrahtbewehrten Domizilen
ein. Besonders für die wenigen ausländischen Besucher ist Vorsicht geboten:
Die Künstler, Kuratoren und Journalisten, die zur Biennale-Eröffnung nach
Karatschi eingeladen waren, wurden auf Schritt und Tritt von einer
bewaffneten Polizeieskorte begleitet.
Und noch immer dominieren Armut, Zerfall und Chaos das Bild der Stadt.
Pakistans wirtschaftliches Herz, mit 20 Millionen Einwohnern eine der zehn
größten Städte der Welt, gleicht einem riesigen Slum. Es gibt kaum Parks,
kaum eine Straße ist geteert, die Häuser zerfallen. Ein durchdringender
Fischgeruch und eine undurchdringliche Wolke aus braunem Staub, Hitze und
Smog liegen über dem endlosen Häusermeer, durch das eine Springflut von
Mopedfahrern wogt.
Noch im Herbst klettern die Temperaturen über 35 Grad. In dieser „Stadt der
Träume und Albträume“ (Biennale-Kurator Amin Gulgee) das Bewusstsein dafür
wiederbelebt zu haben, dass es so etwas wie öffentlichen Raum gibt, ist
wahrscheinlich das größere Verdienst als das „größte Ereignis
zeitgenössischer Kunst in Pakistan“ auf die Beine gestellt zu haben – wie
die „kb17“ überflüssigerweise die Marketing-Backen bläht.
## Festival mit Integrationswirkung
Zwar sind ihre zwölf sehenswerten Venues schwer zu erreichen in einer Stadt
ohne ÖPNV und Ampeln. Ob es nun Karatschis älteste Buchhandlung, der 1945
gegründete Pioneer Bookstore, oder ein verfallenes Bürgerhaus war: Die
Biennale öffnete Plätze, die aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt
waren.
„Ich bin so froh, das einmal gesehen zu haben“ freut sich Fawzia Naqvi.
Die elegante Chefredakteurin von Pakistans führender Kunstzeitschrift
Artnow, wohl eher eine Vertreterin der Oberschicht, steht freudestrahlend
bei der Eröffnung in dem ockerfarbenen Block der Narayan Jagannath High
School in dem wuseligen Proletarierbezirk Preedy Quarters.
In den verfallenen Komplex, 1855 als erste öffentliche Schule der Provinz
Sindh erbaut und Sitz des ersten pakistanischen Parlaments, hatten sich
jahrelang Polizisten privat eingenistet. Überall liegt noch Müll in den
Ecken. Bald öffnet hier eine eigene Kunstabteilung. „Normalerweise wäre ich
hier nie hergekommen“, beschreibt Naqvi den sozialen Integrationseffekt der
Biennale.
## Alternative Bildangebote
So ist die Biennale ein historischer Moment für Pakistan und ein Beispiel
für das ästhetische Erwachen des „Global South“, das spätestens mit der
Biennale von Havanna 1984 begann. Sie wuchs aus der Mitte der
Zivilgesellschaft, initiiert von Frauen. An ihrer Spitze steht mit Niilofur
Farrukh die Doyenne der pakistanischen Kunstkritik. Für den massenhaften
„public outreach“, auf den die Biennale-Ladies aus sind, hatten sie schon
im Frühsommer unter dem Titel „Reel on Hai“ zwanzig von Graffiti-Künstlern
bemalte Kabeltrommeln von Karatschis Baustellen vor Krankenhäusern, Schulen
oder in Parks aufstellen lassen.
Schwer vorstellbar, dass sie mit den ästhetischen Lockvögeln wirklich 20
Prozent der 20 Millionen Bewohner Karatschis erreichen. Das Ziel, einer
Bevölkerung, die täglich von der audiovisuellen Kommerzästhetik
überschwemmt wird, alternative Bildangebote zu machen, bleibt dennoch
wichtig.
„Es gibt in diesem Land einen Mangel an kritischem Denken“ sagt Nageen
Hyat. Die Filmemacherin und Frauenrechtlerin war extra aus dem 1.500
Kilometer entfernten Islamabad nach Karatschi gereist. Ihre renommierte
Nomad-Galerie in der Hauptstadt organisiert nicht nur Ausstellungen,
sondern auch Friedens- und Menschenrechtsarbeit.
## „Es geht nicht bloß um schöne Dinge“
„Kunst ist entscheidend für die geistige Emanzipation der Menschen“, bringt
sie die Funktion von Kunst in einem Land auf den Punkt, das der
Militärdiktator Zia-ul-Haq in den achtziger Jahren auf den streng
islamischen Weg zwang. „Es geht nicht bloß um schöne Dinge. „Wir brauchen
dringend eine offene Gesellschaft in diesem Land“, forderte Imran Shaik,
Direktor der pakistanischen JS-Investment-Gruppe bei der Eröffnungsfeier
der Biennale.
Dieses visuelle Denken wollte auch Jamal Shah stimulieren. Vor der
nächtlichen Kulisse von Karatschis Frere Hall, der von den Briten erbauten
Stadthalle, lud der Schauspieler und Maler, im Nebenberuf Präsident des
National Council of the Arts, zur Multimedia-Performance.
Besucher malten auf die um eine Bühne gestellten Leinwände Impressionen,
die von der Choreografie im Inneren des illuminierten Runds inspiriert
waren. Jeder Pakistaner ist ein Künstler. Anders gesagt: Ästhetisches
Empowerment zu dem, was Voraussetzung eines jeden demokratischen Diskurses
ist: das Vermögen, sich eigene Bilder zu machen.
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## AUTOREN
Ingo Arend
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