| # taz.de -- 50. Todestag von Ernesto Rafael Guevara: Che, sexy wie Christian Li… | |
| > Der Mann, der mit Fidel Castro den Sozialismus in die Karibik brachte, | |
| > ist seit fünfzig Jahren tot. Was ist mit ihm noch anzufangen? Ziemlich | |
| > viel. | |
| Bild: Menschen in Santa Clara, Kuba, halten Bilder des verstorbenen Che Guevara… | |
| Reiche haben es, Arme wollen es, und wenn man es isst, stirbt man: Geld. | |
| Aber auch: ein T-Shirt von Che. Baumwolle – schlecht für den Magen. „Sie | |
| fürchten dich und wir lieben dich“, sang der deutsche Lenin Wolf Biermann | |
| einst: „Nun bist du weg und doch geblieben / und kein Bonze geworden“. Doch | |
| in den fünfzig Jahren seit seinem Tod haben die hundsgemeinen Kapitalisten | |
| den prominentesten Freiheitskämpfer und linken Vorzeigehelden verlässlich | |
| für sich eingenommen. Es ist das Elend der Alt-68er: Sie sind jetzt Teil | |
| des Systems. Sogar ein Charakter der „Lindenstraße“ hieß nach Guevara | |
| Ernesto. | |
| Was also sagt uns Che heute? Taugt er noch was? Ähnlich wie bei der | |
| disruptiven Innovation des Revolutionsmarketings auf Klamotten gibt es auch | |
| in der Sozialisation eines Linken verschiedene Stufen. | |
| Schritt eins: schlecht im Sport-, Kunst- oder Werkunterricht sein, sich | |
| daraufhin von der eigenen, bürgerlichen Familie (Che sprach Französisch) | |
| unverstanden fühlen, vor Trauer die heile Realität infragestellen. Weil die | |
| aber eigentlich doch ganz ok ist, sich stattdessen mit den nächstbesten | |
| Unterdrückten solidarisieren (Dokus gucken, Soli-Decken häkeln). | |
| Schritt zwei: Greenpeace oder Amnesty beitreten, den Namen „Che Guevara“ | |
| aussprechen lernen. Dafür habe z.B. ich etwa vier Jahre gebraucht. | |
| Schritt drei: Selbstoptimierung (meist an der Uni). Was für ein Linker | |
| möchte ich sein? Es gibt SPD-Linke, die auf Facebook pathetische | |
| Würselen-Wortspiele posten; Wagenknecht-Augstein-Linke, die es toll finden, | |
| wenn es jemand diesen Rothschilds mal so richtig zeigt; Öko-Linke, die, vor | |
| Reuetränen überströmt, ihren Jogurt direkt aus dem Euter herauslecken. | |
| Zack, noch ein paar Löffel Theorie, und schon findet man seinen Jünger – | |
| doch ob Lenin, Petra Kelly, Marx oder Bakunin: Alle sind gescheitert. Der | |
| real existierende Sozialismus beschränkt sich auf ein paar heitere | |
| Urlaubsfotos aus dem elterlich finanzierten Nordkorea-Urlaub. Mensch, waren | |
| die nett, diese Leute! | |
| ## In solchen Momenten kann ein Gespräch mit Gott helfen | |
| Besitzansprüche kreisen daher vor allem um die Unvollendeten und | |
| -verstandenen: Adorno, Foucault, Benjamin; Rosa Luxemburg und irgendwie ja | |
| auch noch Che. Der ist so schön männlich und hat einen volleren Bart als | |
| Osama, auf dem T-Shirt jedenfalls. Sein Abbild: purer Kampf, purer Sex. | |
| Aufbegehren. Leben. Klar: Er ließ Homosexuelle und angeblich Faule in Lager | |
| einsperren, aber hey, wir mögen ja auch die Hamas! „Ein ungepflegter Macho, | |
| der sich nur sehr selten wusch“, beschrieb ihn taz-Korrespondent Toni | |
| Keppeler zum 40. Todestag. In der roten Flora würden das viele wohl auch | |
| gern über sich lesen. | |
| Andererseits: diese Tatkraft. Machen statt handeln. Hallo! Aufwachen! | |
| Rausgehen! Steine werfen! Wenn die These stimmt, dass Kulturindustrie nicht | |
| sublimiert, sondern unterdrückt, dann ist es gerade diese tiefe Sehnsucht, | |
| bei der sie den Betrachter packt und ihn vor seinem T-Shirt versauern | |
| lässt. Oder dafür sorgt, dass er, angeekelt, in den Dritte-Welt-Laden | |
| flüchtet und nie wieder rauskommt (fair verschimmelte Krautschnittchen). | |
| Dabei müsste man doch, sollte man mal, kann es doch nicht. | |
| Wahrscheinlich fehlt einfach die Sexyness. Die haben andere: Christian | |
| Lindner, Sebastian Kurz, Gerhard Schröder. Starke, schöne Männer, die uns | |
| sagen, was wir denken. Ein letztes Aufbäumen des Patriarchats? | |
| ## Aber im Ernst: Was wollen Sie eigentlich? | |
| In komplexen Systemen steigt mit zunehmender Entwicklung die Menge der | |
| Eigenbezüge. Ein widerspruchsfreies Leben: nur noch möglich im Kindergarten | |
| oder auf RTL II. An manchen Tagen wirkt es, als könne man keinen Schritt | |
| tun, ohne verzweifeln zu müssen. | |
| In solchen Momenten kann ein Gespräch mit Gott helfen, wieder Klarheit und | |
| Übersicht zu gewinnen. Haben Sie Angst, Sorgen, Nöte, Probleme, Konflikte | |
| oder unaufgelöste Befürchtungen (Nachbarn, Ärzte, Polizei)? Trauen Sie | |
| sich, gehen Sie in die Kirche. | |
| Aber im Ernst: Was wollen Sie eigentlich? Mehr Geld? Mal ein bisschen | |
| ärgern, hassen? Glutenfreien Rübensaft? Als Frau angstfrei nach Hause | |
| gehen? Als Deutscher mit schwarzer Haut ernstgenommen werden? Lustiges | |
| Fernsehen? Mehr Zeit für Gerechtigkeit? Die Revolution? | |
| Am besten alles zusammen. Um das zu erreichen, sehe ich drei Möglichkeiten: | |
| 1. elitäre kommunistische Kampfgruppe gründen, aus dem Untergrund heraus | |
| attackieren, dann offenen Bürgerkrieg; entweder Separation oder Umsturz, | |
| Massenerschießungen. Scheitert an: Kampfkraft der Truppe (Gitte hat Gicht, | |
| Markus dann doch keinen Bock mehr). 2. Drogen nehmen, in Gedankenwelt | |
| träumen. Scheitert an: Geld alle, Netflix ist billiger. 3. in mühevoller, | |
| langer Arbeit immer mehr Mitmenschen von sich überzeugen, Diskurshegemonie | |
| erlangen, Massendemonstrationen veranstalten. Öffentliche | |
| Basmatireis-Brunnen errichten. Scheitert: nicht. Und das beste: Jeder darf | |
| ein Che Guevara-T-Shirt tragen. Auch wenn das halt scheiße aussieht. | |
| Bis dahin wünsche ich Ihnen einen deutschen Herbst und gutes Bügeln. | |
| 9 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Adrian Schulz | |
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